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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Geb
die Kunst der Gebehrden, so wie der Schauspieler
lernen soll [Spaltenumbruch] (+).

Wenn irgend ein Theil der Kunst ist, der eine
lange und sehr fleißige Uebung erfodert, so ist es
dieser. Sie muß aber mit genauer Beobachtung
der Natur verbunden seyn. Der Redner muß Ge-
legenheit suchen, lebhafte und empfindsame Menschen
zu sehen, und ihre Gebehrden genau beobachten,
und durch wiederholte Versuche das, was er nach-
drüklich gefunden, sich zueignen. Zu seinen Uebun-
gen muß er sich eine Sammlung vorzüglicher Stel-
len aus den besten Rednern machen, die er erst
wol auswendig lernt, und hernach für sich so lan-
ge declamirt, bis er Stellung und Gebehrden,
die jedem Stük zukommen, gefunden hat. Wie ein
Zeichner nicht leicht einen Tag vorbey gehen läßt,
ohne etwas zu zeichnen, so muß auch der Redner
täglich, wenigstens eine schöne Stelle declamiren.
Es ist ein würklicher Mangel auf unsern Universi-
täten, daß kein methodisch eingerichteter Unterricht
in dieser Sache gegeben wird. Daher kömmt es
denn, daß man so sehr selten einen geistlichen Red-
ner findet, der die Kunst versteht, seinen Worten
durch die Gebehrden Nachdruk zu geben.

Man hört bisweilen, daß die Sprache der Ge-
behrden so gar als eine, dem geistlichen Redner ganz
unnöthige, Sache verworfen wird. Aber dieses ist
gewiß ein schädliches Vorurtheil. Denn selbst da,
wo der Redner blos zu unterrichten, oder nur auf
den Verstand zu würken hat, sind die Gebehrden
von großer Wichtigkeit; weil sie ungemein viel zur
Unterhaltung der Aufmerksamkeit und selbst zur
Ueberzeugung beytragen. Der Verstand läßt sich
eben so, wie das Herz gewinnen; und erst denn,
wenn er gewonnen ist, haben die Gründe ihre volle
Kraft auf ihn.

Für den Schauspieler und für den Tänzer ist
nichts so wichtig, als die Kunst der Gebehrden.
Besitzt er diese, so ist er Meister über die Empfin-
dung der Zuschauer; sind seine Gebehrden unnatür-
lich, so wird sein ganzes Spiel unerträglich. Der
Schauspieler kann durch verkehrte Gebehrden das
höchste Tragische frostig, und das feinste Comische
kläglich machen. Wer diesen Theil der Kunst nicht
besitzt, dem ist zu rathen, nie auf Gebehrden zu
denken, und sich lediglich der Natur zu überlassen.
[Spaltenumbruch]

Geb
Natürliche Gebehrden, auf welche man nicht studirt,
sind allemal nachdrüklich, wenn man nur einiger-
maaßen empfindet, was man sagt; die Kunst soll
ihnen blos den schönen Anstand geben. Wer ihnen
diesen nicht geben kann, der bleibe lieber bey der
ganz rohen Natur. Jst sie nicht mit Schönheit ver-
bunden, so ist sie doch nachdrüklich; aber künstliche
Gebehrden, deren Anlage nicht aus der Natur ent-
standen ist, sind allemal frostig.

Gebrochen.
(Schöne Künste.)

Dieses Wort wird in der Sprache der Künstler in ver-
schiedenen Bedeutungen gebraucht. Ueberhaupt be-
deutet es etwas, das man nicht ganz oder nicht völlig
gelassen hat. Nicht voll ist die gebrochene Stimme,
in der größten Rührung, so wol bey vergnügten, als
bey traurigen Empfindungen. Da thut sie große
Würkung auf die Zuhörer, weil sie die höchste Rüh-
rung des Redners weit besser anzeiget, als seine
Worte thun können. Aber eben deßwegen muß
diese gebrochene Stimme nur da, wo die Rührung
am höchsten ist, gehört werden.

Gebrochene Farben sind die hellen Hauptfarben,
die einen Zusatz von andern dunkeln Farben bekom-
men und also ihr volles Licht nicht mehr ha-
ben. Die Jtaliäner nennen sie Mezzetinten; im
Deutschen werden sie auch Mittelfarben genennt,
weil sie insgemein zwischen dem hellesten und dem
dunkelsten in der Mitte stehen, und die genaue Ver-
bindung des Hellen und Dunkeln bewürken.

Ein gebrochener Accord heißt in der Musik der-
jenige, dessen Töne nicht, wie gewöhnlich auf einmal,
sondern hinter einander angeschlagen werden. Auch
nennt man einen gebrochenen Baß den, der an-
statt auf einem Ton, so lang es der Gesang erfo-
dert, anzuhalten, den Grundton wiederholt an-
schlägt, oder andre dazu gehörige oder schikliche
Töne durchläuft.

Gebunden.
(Musik.)

Dieses Wort wird in der Musik verschiedentlich als
ein Kunstwort gebraucht. Gebundene Noten oder
Töne sind solche, die in einer schlechten Taktzeit
angeschlagen werden, und bis auf eine gute Zeit lie-

gen
(+) Nemo suaserit studiosis dicendi adolescentibus, in gesta
[Spaltenumbruch] discendo histrionum more elaborare. Cic. de Orat.

[Spaltenumbruch]

Geb
die Kunſt der Gebehrden, ſo wie der Schauſpieler
lernen ſoll [Spaltenumbruch] (†).

Wenn irgend ein Theil der Kunſt iſt, der eine
lange und ſehr fleißige Uebung erfodert, ſo iſt es
dieſer. Sie muß aber mit genauer Beobachtung
der Natur verbunden ſeyn. Der Redner muß Ge-
legenheit ſuchen, lebhafte und empfindſame Menſchen
zu ſehen, und ihre Gebehrden genau beobachten,
und durch wiederholte Verſuche das, was er nach-
druͤklich gefunden, ſich zueignen. Zu ſeinen Uebun-
gen muß er ſich eine Sammlung vorzuͤglicher Stel-
len aus den beſten Rednern machen, die er erſt
wol auswendig lernt, und hernach fuͤr ſich ſo lan-
ge declamirt, bis er Stellung und Gebehrden,
die jedem Stuͤk zukommen, gefunden hat. Wie ein
Zeichner nicht leicht einen Tag vorbey gehen laͤßt,
ohne etwas zu zeichnen, ſo muß auch der Redner
taͤglich, wenigſtens eine ſchoͤne Stelle declamiren.
Es iſt ein wuͤrklicher Mangel auf unſern Univerſi-
taͤten, daß kein methodiſch eingerichteter Unterricht
in dieſer Sache gegeben wird. Daher koͤmmt es
denn, daß man ſo ſehr ſelten einen geiſtlichen Red-
ner findet, der die Kunſt verſteht, ſeinen Worten
durch die Gebehrden Nachdruk zu geben.

Man hoͤrt bisweilen, daß die Sprache der Ge-
behrden ſo gar als eine, dem geiſtlichen Redner ganz
unnoͤthige, Sache verworfen wird. Aber dieſes iſt
gewiß ein ſchaͤdliches Vorurtheil. Denn ſelbſt da,
wo der Redner blos zu unterrichten, oder nur auf
den Verſtand zu wuͤrken hat, ſind die Gebehrden
von großer Wichtigkeit; weil ſie ungemein viel zur
Unterhaltung der Aufmerkſamkeit und ſelbſt zur
Ueberzeugung beytragen. Der Verſtand laͤßt ſich
eben ſo, wie das Herz gewinnen; und erſt denn,
wenn er gewonnen iſt, haben die Gruͤnde ihre volle
Kraft auf ihn.

Fuͤr den Schauſpieler und fuͤr den Taͤnzer iſt
nichts ſo wichtig, als die Kunſt der Gebehrden.
Beſitzt er dieſe, ſo iſt er Meiſter uͤber die Empfin-
dung der Zuſchauer; ſind ſeine Gebehrden unnatuͤr-
lich, ſo wird ſein ganzes Spiel unertraͤglich. Der
Schauſpieler kann durch verkehrte Gebehrden das
hoͤchſte Tragiſche froſtig, und das feinſte Comiſche
klaͤglich machen. Wer dieſen Theil der Kunſt nicht
beſitzt, dem iſt zu rathen, nie auf Gebehrden zu
denken, und ſich lediglich der Natur zu uͤberlaſſen.
[Spaltenumbruch]

Geb
Natuͤrliche Gebehrden, auf welche man nicht ſtudirt,
ſind allemal nachdruͤklich, wenn man nur einiger-
maaßen empfindet, was man ſagt; die Kunſt ſoll
ihnen blos den ſchoͤnen Anſtand geben. Wer ihnen
dieſen nicht geben kann, der bleibe lieber bey der
ganz rohen Natur. Jſt ſie nicht mit Schoͤnheit ver-
bunden, ſo iſt ſie doch nachdruͤklich; aber kuͤnſtliche
Gebehrden, deren Anlage nicht aus der Natur ent-
ſtanden iſt, ſind allemal froſtig.

Gebrochen.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Dieſes Wort wird in der Sprache der Kuͤnſtler in ver-
ſchiedenen Bedeutungen gebraucht. Ueberhaupt be-
deutet es etwas, das man nicht ganz oder nicht voͤllig
gelaſſen hat. Nicht voll iſt die gebrochene Stimme,
in der groͤßten Ruͤhrung, ſo wol bey vergnuͤgten, als
bey traurigen Empfindungen. Da thut ſie große
Wuͤrkung auf die Zuhoͤrer, weil ſie die hoͤchſte Ruͤh-
rung des Redners weit beſſer anzeiget, als ſeine
Worte thun koͤnnen. Aber eben deßwegen muß
dieſe gebrochene Stimme nur da, wo die Ruͤhrung
am hoͤchſten iſt, gehoͤrt werden.

Gebrochene Farben ſind die hellen Hauptfarben,
die einen Zuſatz von andern dunkeln Farben bekom-
men und alſo ihr volles Licht nicht mehr ha-
ben. Die Jtaliaͤner nennen ſie Mezzetinten; im
Deutſchen werden ſie auch Mittelfarben genennt,
weil ſie insgemein zwiſchen dem helleſten und dem
dunkelſten in der Mitte ſtehen, und die genaue Ver-
bindung des Hellen und Dunkeln bewuͤrken.

Ein gebrochener Accord heißt in der Muſik der-
jenige, deſſen Toͤne nicht, wie gewoͤhnlich auf einmal,
ſondern hinter einander angeſchlagen werden. Auch
nennt man einen gebrochenen Baß den, der an-
ſtatt auf einem Ton, ſo lang es der Geſang erfo-
dert, anzuhalten, den Grundton wiederholt an-
ſchlaͤgt, oder andre dazu gehoͤrige oder ſchikliche
Toͤne durchlaͤuft.

Gebunden.
(Muſik.)

Dieſes Wort wird in der Muſik verſchiedentlich als
ein Kunſtwort gebraucht. Gebundene Noten oder
Toͤne ſind ſolche, die in einer ſchlechten Taktzeit
angeſchlagen werden, und bis auf eine gute Zeit lie-

gen
(†) Nemo ſuaſerit ſtudioſis dicendi adoleſcentibus, in geſta
[Spaltenumbruch] diſcendo hiſtrionum more elaborare. Cic. de Orat.
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[430/0442] Geb Geb die Kunſt der Gebehrden, ſo wie der Schauſpieler lernen ſoll (†). Wenn irgend ein Theil der Kunſt iſt, der eine lange und ſehr fleißige Uebung erfodert, ſo iſt es dieſer. Sie muß aber mit genauer Beobachtung der Natur verbunden ſeyn. Der Redner muß Ge- legenheit ſuchen, lebhafte und empfindſame Menſchen zu ſehen, und ihre Gebehrden genau beobachten, und durch wiederholte Verſuche das, was er nach- druͤklich gefunden, ſich zueignen. Zu ſeinen Uebun- gen muß er ſich eine Sammlung vorzuͤglicher Stel- len aus den beſten Rednern machen, die er erſt wol auswendig lernt, und hernach fuͤr ſich ſo lan- ge declamirt, bis er Stellung und Gebehrden, die jedem Stuͤk zukommen, gefunden hat. Wie ein Zeichner nicht leicht einen Tag vorbey gehen laͤßt, ohne etwas zu zeichnen, ſo muß auch der Redner taͤglich, wenigſtens eine ſchoͤne Stelle declamiren. Es iſt ein wuͤrklicher Mangel auf unſern Univerſi- taͤten, daß kein methodiſch eingerichteter Unterricht in dieſer Sache gegeben wird. Daher koͤmmt es denn, daß man ſo ſehr ſelten einen geiſtlichen Red- ner findet, der die Kunſt verſteht, ſeinen Worten durch die Gebehrden Nachdruk zu geben. Man hoͤrt bisweilen, daß die Sprache der Ge- behrden ſo gar als eine, dem geiſtlichen Redner ganz unnoͤthige, Sache verworfen wird. Aber dieſes iſt gewiß ein ſchaͤdliches Vorurtheil. Denn ſelbſt da, wo der Redner blos zu unterrichten, oder nur auf den Verſtand zu wuͤrken hat, ſind die Gebehrden von großer Wichtigkeit; weil ſie ungemein viel zur Unterhaltung der Aufmerkſamkeit und ſelbſt zur Ueberzeugung beytragen. Der Verſtand laͤßt ſich eben ſo, wie das Herz gewinnen; und erſt denn, wenn er gewonnen iſt, haben die Gruͤnde ihre volle Kraft auf ihn. Fuͤr den Schauſpieler und fuͤr den Taͤnzer iſt nichts ſo wichtig, als die Kunſt der Gebehrden. Beſitzt er dieſe, ſo iſt er Meiſter uͤber die Empfin- dung der Zuſchauer; ſind ſeine Gebehrden unnatuͤr- lich, ſo wird ſein ganzes Spiel unertraͤglich. Der Schauſpieler kann durch verkehrte Gebehrden das hoͤchſte Tragiſche froſtig, und das feinſte Comiſche klaͤglich machen. Wer dieſen Theil der Kunſt nicht beſitzt, dem iſt zu rathen, nie auf Gebehrden zu denken, und ſich lediglich der Natur zu uͤberlaſſen. Natuͤrliche Gebehrden, auf welche man nicht ſtudirt, ſind allemal nachdruͤklich, wenn man nur einiger- maaßen empfindet, was man ſagt; die Kunſt ſoll ihnen blos den ſchoͤnen Anſtand geben. Wer ihnen dieſen nicht geben kann, der bleibe lieber bey der ganz rohen Natur. Jſt ſie nicht mit Schoͤnheit ver- bunden, ſo iſt ſie doch nachdruͤklich; aber kuͤnſtliche Gebehrden, deren Anlage nicht aus der Natur ent- ſtanden iſt, ſind allemal froſtig. Gebrochen. (Schoͤne Kuͤnſte.) Dieſes Wort wird in der Sprache der Kuͤnſtler in ver- ſchiedenen Bedeutungen gebraucht. Ueberhaupt be- deutet es etwas, das man nicht ganz oder nicht voͤllig gelaſſen hat. Nicht voll iſt die gebrochene Stimme, in der groͤßten Ruͤhrung, ſo wol bey vergnuͤgten, als bey traurigen Empfindungen. Da thut ſie große Wuͤrkung auf die Zuhoͤrer, weil ſie die hoͤchſte Ruͤh- rung des Redners weit beſſer anzeiget, als ſeine Worte thun koͤnnen. Aber eben deßwegen muß dieſe gebrochene Stimme nur da, wo die Ruͤhrung am hoͤchſten iſt, gehoͤrt werden. Gebrochene Farben ſind die hellen Hauptfarben, die einen Zuſatz von andern dunkeln Farben bekom- men und alſo ihr volles Licht nicht mehr ha- ben. Die Jtaliaͤner nennen ſie Mezzetinten; im Deutſchen werden ſie auch Mittelfarben genennt, weil ſie insgemein zwiſchen dem helleſten und dem dunkelſten in der Mitte ſtehen, und die genaue Ver- bindung des Hellen und Dunkeln bewuͤrken. Ein gebrochener Accord heißt in der Muſik der- jenige, deſſen Toͤne nicht, wie gewoͤhnlich auf einmal, ſondern hinter einander angeſchlagen werden. Auch nennt man einen gebrochenen Baß den, der an- ſtatt auf einem Ton, ſo lang es der Geſang erfo- dert, anzuhalten, den Grundton wiederholt an- ſchlaͤgt, oder andre dazu gehoͤrige oder ſchikliche Toͤne durchlaͤuft. Gebunden. (Muſik.) Dieſes Wort wird in der Muſik verſchiedentlich als ein Kunſtwort gebraucht. Gebundene Noten oder Toͤne ſind ſolche, die in einer ſchlechten Taktzeit angeſchlagen werden, und bis auf eine gute Zeit lie- gen (†) Nemo ſuaſerit ſtudioſis dicendi adoleſcentibus, in geſta diſcendo hiſtrionum more elaborare. Cic. de Orat.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 430. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/442>, abgerufen am 22.11.2024.