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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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welche der Geschmak an zeichnenden Künsten sich in
Jtalien festgesetzt hat.

Die alte florentinische Schule fängt sich bey diesen
Griechen, und dem Cimabue ihrem Schüler an, und
endiget sich bey Leonhard da Vinci. Die Werke
der Künstler, die vor Leonhardo gelebt haben, sind
nur in Vergleichung derer, die in den noch ältern
Zeiten der Barbarey gemacht worden sind, schätz-
bar; aber er, der letzte und größte Mahler und
Zeichner dieser Schule, näherte sich der Vollkommen-
heit, und kann zugleich als der erste Künstler der
neuen Schule angesehen werden. Man kann bey
Sandrat und bey Florent le Comte die Nachrichten
von der ältern florentinischen Schule antreffen.

Die neue Schule fängt sich bey da Vinci und
Michael Angelo an, und besteht aus einer zahl-
reichen Folge berühmter und zum Theil großer
Künstler, besonders Bildhauer. Die Verfasser der
unlängst herausgekommenen mahlerischen Reise durch
Jtalien, fällen von dieser Schule überhaupt folgen-
des gründliches Urtheil: "Die ältere florentinische
Schule hat eine Menge Mahler gehabt, die nicht
zu verachten sind, wiewol wenige davon einen
großen Grad des Ruhms erhalten haben. Die
Kirchen von Florenz sind voll ihrer Arbeiten, die
alle von einer Hand gemacht scheinen. -- Die
Farbe ist grau und schwach; die Zeichnung hat
etwas Großes, ist aber mit einer Manier verbun-
den, in dem Geschmak des M. Angelo. -- Die
Figuren haben in ihren Wendungen etwas so ge-
drehtes, daß man sie für unmöglich halten möchte.
Große übertriebene Umriße, welche von verrenkten
und verdrehten Gliedern herzukommen scheinen; ein
übertriebener Reitz, darin in der That etwas Gros-
ses, aber aus einer erdichteten Natur ist. Gute
Coloristen findet man da nicht, die Schule hat ihren
meisten Ruhm von den Bildhauern bekommen.
Man hat sich darin fast einzig um die Zeichnung
bekümmert, und um eine gewisse Größe der Formen,
die aber leicht in eine Manier ausartet." Von
den florentinischen Künstlern kann man also einen
der wichtigsten Theile der Kunst lernen; das Große
in den Formen und in der Zusammensetzung, wo-
durch die Werke der Kunst den wichtigsten Theil der
Kraft bekommen. Junge Künstler, die Gelegen-
heit haben, diese Schule zu studiren, thun wol,
sich dabey so lang aufzuhalten, bis ihr Auge sich
so an das Große und Starke gewöhnt hat, daß es
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dasselbe überall, als einen wesentlichen Theil sucht.
Erst alsdenn, wenn dieses Gefühl unauslöschlich
bey ihnen festgesetzt ist, können sie auf die höchste
Richtigkeit im Zeichnen arbeiten. Denn ohne Größe
kann kein Werk der Kunst in die erste Classe gesetzt
werden.

Lepicie giebt in der Beschreibung der Gemählde
des Königs von Frankreich kurze Lebensbeschreibun-
gen der vornehmsten Mahler dieser Schule. Diese
sind: da Vinci, Bruder Bartolom. von St. Mar-
cus, Michel Angelo, Baccio Bandinelli, Andr. del
Sarte, Jacob Pantorma, Balth. Pruzzi, Franz
Salviati und Math. Roselli.

Flüchtig.
(Schöne Künste.)

Das Flüchtige hat in allen Werken der Kunst, für-
nehmlich aber in den zeichnenden Künsten statt, und
besteht darin, daß die Gegenstände nach dem, was
ihnen wesentlich zugehört, mehr angezeiget, als
völlig und nach allen Theilen ausgeführt werden.
Eine flüchtige Zeichnung ist die, welche mit wenig
kräftigen Strichen die Hauptsachen so angiebet,
daß ein Kenner sogleich daraus das Ganze sich be-
stimmt vorstellen kann; ein flüchtiger Pinsel ist
der, der nur die Hauptfarben, so wol im Hellen,
als im Dunkeln durch wenig Hauptzüge so aufge-
tragen hat, daß das Wesentliche der Haltung und
Harmonie daraus schon empfunden wird. Die flüch-
tige Behandlung schikt sich zur Anlegung eines
Werks, da der Künstler, wenn er in vollem Feuer
der Einbildungskraft ist, schnell den Entwurf macht,
um vorerst nur von dem Ganzen zu urtheilen.
Es ist ein großer Vortheil, wenn man sich ange-
wöhnt hat, ein Werk flüchtig anzulegen; denn da-
durch kann man sogleich alle Hauptsachen, die bis-
weilen nur von einem einzigen glüklichen Augenblik
abhängen, festsetzen. Der Künstler, der nie flüch-
tig arbeiten kann, wird manches Gute, das nur
wie ein schnell vorübergehender Sonnenblik kömmt
und wieder vergeht, verlieren.

Hernach müssen auch ganze Werke etwas flüch-
tig bearbeitet werden. Nämlich diejenigen, bey de-
nen es würklich blos auf einige Hauptsachen an-
kömmt, wie in den Gemählden und Werken der
bildenden Künste, die sehr weit aus dem Gesichte
kommen, ingleichem in den Werken, wo nur wenige
Hauptgedanken zur Absicht des ganzen Werks hin-

läng-
Erster Theil. D d d

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Flo
welche der Geſchmak an zeichnenden Kuͤnſten ſich in
Jtalien feſtgeſetzt hat.

Die alte florentiniſche Schule faͤngt ſich bey dieſen
Griechen, und dem Cimabue ihrem Schuͤler an, und
endiget ſich bey Leonhard da Vinci. Die Werke
der Kuͤnſtler, die vor Leonhardo gelebt haben, ſind
nur in Vergleichung derer, die in den noch aͤltern
Zeiten der Barbarey gemacht worden ſind, ſchaͤtz-
bar; aber er, der letzte und groͤßte Mahler und
Zeichner dieſer Schule, naͤherte ſich der Vollkommen-
heit, und kann zugleich als der erſte Kuͤnſtler der
neuen Schule angeſehen werden. Man kann bey
Sandrat und bey Florent le Comte die Nachrichten
von der aͤltern florentiniſchen Schule antreffen.

Die neue Schule faͤngt ſich bey da Vinci und
Michael Angelo an, und beſteht aus einer zahl-
reichen Folge beruͤhmter und zum Theil großer
Kuͤnſtler, beſonders Bildhauer. Die Verfaſſer der
unlaͤngſt herausgekommenen mahleriſchen Reiſe durch
Jtalien, faͤllen von dieſer Schule uͤberhaupt folgen-
des gruͤndliches Urtheil: „Die aͤltere florentiniſche
Schule hat eine Menge Mahler gehabt, die nicht
zu verachten ſind, wiewol wenige davon einen
großen Grad des Ruhms erhalten haben. Die
Kirchen von Florenz ſind voll ihrer Arbeiten, die
alle von einer Hand gemacht ſcheinen. — Die
Farbe iſt grau und ſchwach; die Zeichnung hat
etwas Großes, iſt aber mit einer Manier verbun-
den, in dem Geſchmak des M. Angelo. — Die
Figuren haben in ihren Wendungen etwas ſo ge-
drehtes, daß man ſie fuͤr unmoͤglich halten moͤchte.
Große uͤbertriebene Umriße, welche von verrenkten
und verdrehten Gliedern herzukommen ſcheinen; ein
uͤbertriebener Reitz, darin in der That etwas Groſ-
ſes, aber aus einer erdichteten Natur iſt. Gute
Coloriſten findet man da nicht, die Schule hat ihren
meiſten Ruhm von den Bildhauern bekommen.
Man hat ſich darin faſt einzig um die Zeichnung
bekuͤmmert, und um eine gewiſſe Groͤße der Formen,
die aber leicht in eine Manier ausartet.‟ Von
den florentiniſchen Kuͤnſtlern kann man alſo einen
der wichtigſten Theile der Kunſt lernen; das Große
in den Formen und in der Zuſammenſetzung, wo-
durch die Werke der Kunſt den wichtigſten Theil der
Kraft bekommen. Junge Kuͤnſtler, die Gelegen-
heit haben, dieſe Schule zu ſtudiren, thun wol,
ſich dabey ſo lang aufzuhalten, bis ihr Auge ſich
ſo an das Große und Starke gewoͤhnt hat, daß es
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daſſelbe uͤberall, als einen weſentlichen Theil ſucht.
Erſt alsdenn, wenn dieſes Gefuͤhl unausloͤſchlich
bey ihnen feſtgeſetzt iſt, koͤnnen ſie auf die hoͤchſte
Richtigkeit im Zeichnen arbeiten. Denn ohne Groͤße
kann kein Werk der Kunſt in die erſte Claſſe geſetzt
werden.

Lepicie giebt in der Beſchreibung der Gemaͤhlde
des Koͤnigs von Frankreich kurze Lebensbeſchreibun-
gen der vornehmſten Mahler dieſer Schule. Dieſe
ſind: da Vinci, Bruder Bartolom. von St. Mar-
cus, Michel Angelo, Baccio Bandinelli, Andr. del
Sarte, Jacob Pantorma, Balth. Pruzzi, Franz
Salviati und Math. Roſelli.

Fluͤchtig.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Das Fluͤchtige hat in allen Werken der Kunſt, fuͤr-
nehmlich aber in den zeichnenden Kuͤnſten ſtatt, und
beſteht darin, daß die Gegenſtaͤnde nach dem, was
ihnen weſentlich zugehoͤrt, mehr angezeiget, als
voͤllig und nach allen Theilen ausgefuͤhrt werden.
Eine fluͤchtige Zeichnung iſt die, welche mit wenig
kraͤftigen Strichen die Hauptſachen ſo angiebet,
daß ein Kenner ſogleich daraus das Ganze ſich be-
ſtimmt vorſtellen kann; ein fluͤchtiger Pinſel iſt
der, der nur die Hauptfarben, ſo wol im Hellen,
als im Dunkeln durch wenig Hauptzuͤge ſo aufge-
tragen hat, daß das Weſentliche der Haltung und
Harmonie daraus ſchon empfunden wird. Die fluͤch-
tige Behandlung ſchikt ſich zur Anlegung eines
Werks, da der Kuͤnſtler, wenn er in vollem Feuer
der Einbildungskraft iſt, ſchnell den Entwurf macht,
um vorerſt nur von dem Ganzen zu urtheilen.
Es iſt ein großer Vortheil, wenn man ſich ange-
woͤhnt hat, ein Werk fluͤchtig anzulegen; denn da-
durch kann man ſogleich alle Hauptſachen, die bis-
weilen nur von einem einzigen gluͤklichen Augenblik
abhaͤngen, feſtſetzen. Der Kuͤnſtler, der nie fluͤch-
tig arbeiten kann, wird manches Gute, das nur
wie ein ſchnell voruͤbergehender Sonnenblik koͤmmt
und wieder vergeht, verlieren.

Hernach muͤſſen auch ganze Werke etwas fluͤch-
tig bearbeitet werden. Naͤmlich diejenigen, bey de-
nen es wuͤrklich blos auf einige Hauptſachen an-
koͤmmt, wie in den Gemaͤhlden und Werken der
bildenden Kuͤnſte, die ſehr weit aus dem Geſichte
kommen, ingleichem in den Werken, wo nur wenige
Hauptgedanken zur Abſicht des ganzen Werks hin-

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Erſter Theil. D d d
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[393/0405] Flo Flo Fluͤ welche der Geſchmak an zeichnenden Kuͤnſten ſich in Jtalien feſtgeſetzt hat. Die alte florentiniſche Schule faͤngt ſich bey dieſen Griechen, und dem Cimabue ihrem Schuͤler an, und endiget ſich bey Leonhard da Vinci. Die Werke der Kuͤnſtler, die vor Leonhardo gelebt haben, ſind nur in Vergleichung derer, die in den noch aͤltern Zeiten der Barbarey gemacht worden ſind, ſchaͤtz- bar; aber er, der letzte und groͤßte Mahler und Zeichner dieſer Schule, naͤherte ſich der Vollkommen- heit, und kann zugleich als der erſte Kuͤnſtler der neuen Schule angeſehen werden. Man kann bey Sandrat und bey Florent le Comte die Nachrichten von der aͤltern florentiniſchen Schule antreffen. Die neue Schule faͤngt ſich bey da Vinci und Michael Angelo an, und beſteht aus einer zahl- reichen Folge beruͤhmter und zum Theil großer Kuͤnſtler, beſonders Bildhauer. Die Verfaſſer der unlaͤngſt herausgekommenen mahleriſchen Reiſe durch Jtalien, faͤllen von dieſer Schule uͤberhaupt folgen- des gruͤndliches Urtheil: „Die aͤltere florentiniſche Schule hat eine Menge Mahler gehabt, die nicht zu verachten ſind, wiewol wenige davon einen großen Grad des Ruhms erhalten haben. Die Kirchen von Florenz ſind voll ihrer Arbeiten, die alle von einer Hand gemacht ſcheinen. — Die Farbe iſt grau und ſchwach; die Zeichnung hat etwas Großes, iſt aber mit einer Manier verbun- den, in dem Geſchmak des M. Angelo. — Die Figuren haben in ihren Wendungen etwas ſo ge- drehtes, daß man ſie fuͤr unmoͤglich halten moͤchte. Große uͤbertriebene Umriße, welche von verrenkten und verdrehten Gliedern herzukommen ſcheinen; ein uͤbertriebener Reitz, darin in der That etwas Groſ- ſes, aber aus einer erdichteten Natur iſt. Gute Coloriſten findet man da nicht, die Schule hat ihren meiſten Ruhm von den Bildhauern bekommen. Man hat ſich darin faſt einzig um die Zeichnung bekuͤmmert, und um eine gewiſſe Groͤße der Formen, die aber leicht in eine Manier ausartet.‟ Von den florentiniſchen Kuͤnſtlern kann man alſo einen der wichtigſten Theile der Kunſt lernen; das Große in den Formen und in der Zuſammenſetzung, wo- durch die Werke der Kunſt den wichtigſten Theil der Kraft bekommen. Junge Kuͤnſtler, die Gelegen- heit haben, dieſe Schule zu ſtudiren, thun wol, ſich dabey ſo lang aufzuhalten, bis ihr Auge ſich ſo an das Große und Starke gewoͤhnt hat, daß es daſſelbe uͤberall, als einen weſentlichen Theil ſucht. Erſt alsdenn, wenn dieſes Gefuͤhl unausloͤſchlich bey ihnen feſtgeſetzt iſt, koͤnnen ſie auf die hoͤchſte Richtigkeit im Zeichnen arbeiten. Denn ohne Groͤße kann kein Werk der Kunſt in die erſte Claſſe geſetzt werden. Lepicie giebt in der Beſchreibung der Gemaͤhlde des Koͤnigs von Frankreich kurze Lebensbeſchreibun- gen der vornehmſten Mahler dieſer Schule. Dieſe ſind: da Vinci, Bruder Bartolom. von St. Mar- cus, Michel Angelo, Baccio Bandinelli, Andr. del Sarte, Jacob Pantorma, Balth. Pruzzi, Franz Salviati und Math. Roſelli. Fluͤchtig. (Schoͤne Kuͤnſte.) Das Fluͤchtige hat in allen Werken der Kunſt, fuͤr- nehmlich aber in den zeichnenden Kuͤnſten ſtatt, und beſteht darin, daß die Gegenſtaͤnde nach dem, was ihnen weſentlich zugehoͤrt, mehr angezeiget, als voͤllig und nach allen Theilen ausgefuͤhrt werden. Eine fluͤchtige Zeichnung iſt die, welche mit wenig kraͤftigen Strichen die Hauptſachen ſo angiebet, daß ein Kenner ſogleich daraus das Ganze ſich be- ſtimmt vorſtellen kann; ein fluͤchtiger Pinſel iſt der, der nur die Hauptfarben, ſo wol im Hellen, als im Dunkeln durch wenig Hauptzuͤge ſo aufge- tragen hat, daß das Weſentliche der Haltung und Harmonie daraus ſchon empfunden wird. Die fluͤch- tige Behandlung ſchikt ſich zur Anlegung eines Werks, da der Kuͤnſtler, wenn er in vollem Feuer der Einbildungskraft iſt, ſchnell den Entwurf macht, um vorerſt nur von dem Ganzen zu urtheilen. Es iſt ein großer Vortheil, wenn man ſich ange- woͤhnt hat, ein Werk fluͤchtig anzulegen; denn da- durch kann man ſogleich alle Hauptſachen, die bis- weilen nur von einem einzigen gluͤklichen Augenblik abhaͤngen, feſtſetzen. Der Kuͤnſtler, der nie fluͤch- tig arbeiten kann, wird manches Gute, das nur wie ein ſchnell voruͤbergehender Sonnenblik koͤmmt und wieder vergeht, verlieren. Hernach muͤſſen auch ganze Werke etwas fluͤch- tig bearbeitet werden. Naͤmlich diejenigen, bey de- nen es wuͤrklich blos auf einige Hauptſachen an- koͤmmt, wie in den Gemaͤhlden und Werken der bildenden Kuͤnſte, die ſehr weit aus dem Geſichte kommen, ingleichem in den Werken, wo nur wenige Hauptgedanken zur Abſicht des ganzen Werks hin- laͤng- Erſter Theil. D d d

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 393. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/405>, abgerufen am 02.05.2024.