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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Eur
Fabeln vollkommen zu machen, und in besondern
Fällen scheinet er sich weniger bekümmert zu haben,
ob die Reden den Personen, der Zeit und den Um-
ständen angemessen seyen, wenn sie nur etwas lehr-
reiches enthielten. Aber sein nachläßiges Wesen hat,
wie der P. Brümoy wol anmerkt, einen Reiz, der
der Regelmäßigkeit des Sophokles die Waage hält.
Er hielt sich mehr an die Natur, als an die Kunst,
und indem er schrieb, zog er mehr sein empfindendes
Herz, als seinen Verstand zu rathe.

Wenn seine Personen uns nicht so oft in Be-
wundrung ihrer Größe setzen, als des Aeschylus
seine, und nicht so männlich sind, als sie Sopho-
kles vorstellt, so empfinden sie Glük und Unglük stär-
ker, und drüken ihre Empfindungen so aus, daß sie
in die verborgensten Winkel unsers Herzens dringen
und uns zum höchsten Mitleiden bewegen. Er zeich-
net uns mehr würklich in der Natur vorhandene als
idealische, oder erhöhete Charaktere, aber seine Zeich-
nungen sind meisterhaft.

Jn Erfindung tragischer Umständen und trauriger
Zufälle, ist er bis zur Verschwendung reich. Von
allem dem, was einen Menschen bis zur traurigsten
Empfindung rühren kann, scheinet ihm nichts ent-
gangen zu seyn. Die zärtlichen Sayten des Her-
zens weiß er alle zu treffen, und ihr Spiel bis auf
den höchsten Grad zu treiben. Er erwekt weit mehr
zärtliches Mitleiden und Liebe für die handelnden Per-
sonen, als Hochachtung. Das Schrekliche und
Große hat er nicht gesucht, oder nicht zu erreichen
vermocht; wiewol er sich auch bisweilen bis zum
Erhabenen in den Beschreibungen und bis zum he-
roisch zärtlichen der Empfindungen schwingt. Von
dem erstern geben die Wunder, die Bacchus in The-
ben thut, in seinen Bacchantinen einen Beweis, von
dem andern wollen wir ein Paar Beyspiele hier an-
bringen.

Als die Herakliden in der äussersten Gefahr wa-
ren, dem Tyrannen Eurysthäus in die Hände zufal-
len und von ihm ermordet zu werden, sagt das
Orakel dem Demopheon, es sey keine Rettung übrig,
als wenn eine Jnngfrau von edlem Blute den Göt-
tern geopfert werde. Macaria, eine Tochter des
Herkules, hört dieses von dem Jolaus und sagt ihm:

Jst dann dieses das einzige Mittel zu unsrer
Errettung[!] Jol. Das einzige, denn im übrigen
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Eur
würden wir ganz glüklich seyn. Mac. So fürchte
nur das feindliche Heer der Argiver nicht länger.

Nämlich so bald Macaria hört, daß sie durch einen
freywilligen Tod die ihrigen retten können, steht
sie nicht einen Augenblick an, ihr Leben anzubieten.

Jn demselben Stük legt der Dichter dem alten
Jolaus einen großmüthigen Gedanken bey. Alcmene
will ihn abhalten in die Schlacht zu gehen, durch
welche die Herakliden sollten frey werden. Sie
fürchtet, er möchte darin umkommen, und ihre Kin-
der würden alsdenn ihres besten Beschützers berau-
bet seyn. Er giebt ihr aber diese großmüthige Ant-
wort. Des Herkules Söhne werden die Sorge
aller deren seyn, die am Leben bleiben werden,

wodurch er nicht allein die Geringschätzung seines
eigenen Lebens, sondern den großen Eindruk, den
die Verdienste des Herkules bey den Griechen ge-
macht, auf das edelste ausdrükt.

Uebrigens zeiget sich dieser zärtliche Dichter über-
all, als einen würdigen Schüler des großen Sokra-
tes, der die Sache der Wahrheit und Tugend über-
all verficht. Die Sittensprüche, welche er häufig
anbringt, gäben eine Sammlung der vornehmsten
Lehren der Weltweisheit, so daß man gar deutlich
bemerket, er habe es sich als einen Hauptzwek vor-
gesetzt, die Zuschauer in allem Wahren und Guten zu
unterrichten. Er hatte Herz genug den Aberglau-
ben und die falsche Götterlehre seiner Zeit mit sokra-
tischer Stärke anzugreifen. Jn seiner Helena legt
er einem Boten folgende Worte in den Mund (*).(*) Hel.
vs 750 f. f.

"Jch sehe, wie elend lügenhaft das ganze Wesen der
Wahrsager ist. Weder in der Flamme des Feuers,
noch in der Stimme der Vögel liegt etwas heilsa-
mes für den Menschen, und es ist thöricht nur zu
vermuthen, daß die Vögel uns zu Hülfe kommen. --
Warum lassen wir uns denn wahr sagen? Lasset
uns durch Opfer gutes von den Göttern erbitten
und den Wahrsagungen Abschied geben. Noch ist
kein Fauler durch die Wahrsagung reich gewor-
den. Klugheit und guter Rath sind die besten
Wahrsager. -- -- -- Wer die Götter zu Freun-
den hat, der besitzt die beste Wahrsagerkunst.
"

Eben so kühn redet er wider die unsittliche Göt-
terlehre seiner Zeit. Jn dem Trguerspiel Jon sagt
dieser Jüngling zum Apollo: Wie kann dieses recht
seyn, daß ihr, die den Sterblichen Gesetze geben,

selbst

[Spaltenumbruch]

Eur
Fabeln vollkommen zu machen, und in beſondern
Faͤllen ſcheinet er ſich weniger bekuͤmmert zu haben,
ob die Reden den Perſonen, der Zeit und den Um-
ſtaͤnden angemeſſen ſeyen, wenn ſie nur etwas lehr-
reiches enthielten. Aber ſein nachlaͤßiges Weſen hat,
wie der P. Bruͤmoy wol anmerkt, einen Reiz, der
der Regelmaͤßigkeit des Sophokles die Waage haͤlt.
Er hielt ſich mehr an die Natur, als an die Kunſt,
und indem er ſchrieb, zog er mehr ſein empfindendes
Herz, als ſeinen Verſtand zu rathe.

Wenn ſeine Perſonen uns nicht ſo oft in Be-
wundrung ihrer Groͤße ſetzen, als des Aeſchylus
ſeine, und nicht ſo maͤnnlich ſind, als ſie Sopho-
kles vorſtellt, ſo empfinden ſie Gluͤk und Ungluͤk ſtaͤr-
ker, und druͤken ihre Empfindungen ſo aus, daß ſie
in die verborgenſten Winkel unſers Herzens dringen
und uns zum hoͤchſten Mitleiden bewegen. Er zeich-
net uns mehr wuͤrklich in der Natur vorhandene als
idealiſche, oder erhoͤhete Charaktere, aber ſeine Zeich-
nungen ſind meiſterhaft.

Jn Erfindung tragiſcher Umſtaͤnden und trauriger
Zufaͤlle, iſt er bis zur Verſchwendung reich. Von
allem dem, was einen Menſchen bis zur traurigſten
Empfindung ruͤhren kann, ſcheinet ihm nichts ent-
gangen zu ſeyn. Die zaͤrtlichen Sayten des Her-
zens weiß er alle zu treffen, und ihr Spiel bis auf
den hoͤchſten Grad zu treiben. Er erwekt weit mehr
zaͤrtliches Mitleiden und Liebe fuͤr die handelnden Per-
ſonen, als Hochachtung. Das Schrekliche und
Große hat er nicht geſucht, oder nicht zu erreichen
vermocht; wiewol er ſich auch bisweilen bis zum
Erhabenen in den Beſchreibungen und bis zum he-
roiſch zaͤrtlichen der Empfindungen ſchwingt. Von
dem erſtern geben die Wunder, die Bacchus in The-
ben thut, in ſeinen Bacchantinen einen Beweis, von
dem andern wollen wir ein Paar Beyſpiele hier an-
bringen.

Als die Herakliden in der aͤuſſerſten Gefahr wa-
ren, dem Tyrannen Euryſthaͤus in die Haͤnde zufal-
len und von ihm ermordet zu werden, ſagt das
Orakel dem Demopheon, es ſey keine Rettung uͤbrig,
als wenn eine Jnngfrau von edlem Blute den Goͤt-
tern geopfert werde. Macaria, eine Tochter des
Herkules, hoͤrt dieſes von dem Jolaus und ſagt ihm:

Jſt dann dieſes das einzige Mittel zu unſrer
Errettung[!] Jol. Das einzige, denn im uͤbrigen
[Spaltenumbruch]

Eur
wuͤrden wir ganz gluͤklich ſeyn. Mac. So fuͤrchte
nur das feindliche Heer der Argiver nicht laͤnger.

Naͤmlich ſo bald Macaria hoͤrt, daß ſie durch einen
freywilligen Tod die ihrigen retten koͤnnen, ſteht
ſie nicht einen Augenblick an, ihr Leben anzubieten.

Jn demſelben Stuͤk legt der Dichter dem alten
Jolaus einen großmuͤthigen Gedanken bey. Alcmene
will ihn abhalten in die Schlacht zu gehen, durch
welche die Herakliden ſollten frey werden. Sie
fuͤrchtet, er moͤchte darin umkommen, und ihre Kin-
der wuͤrden alsdenn ihres beſten Beſchuͤtzers berau-
bet ſeyn. Er giebt ihr aber dieſe großmuͤthige Ant-
wort. Des Herkules Soͤhne werden die Sorge
aller deren ſeyn, die am Leben bleiben werden,

wodurch er nicht allein die Geringſchaͤtzung ſeines
eigenen Lebens, ſondern den großen Eindruk, den
die Verdienſte des Herkules bey den Griechen ge-
macht, auf das edelſte ausdruͤkt.

Uebrigens zeiget ſich dieſer zaͤrtliche Dichter uͤber-
all, als einen wuͤrdigen Schuͤler des großen Sokra-
tes, der die Sache der Wahrheit und Tugend uͤber-
all verficht. Die Sittenſpruͤche, welche er haͤufig
anbringt, gaͤben eine Sammlung der vornehmſten
Lehren der Weltweisheit, ſo daß man gar deutlich
bemerket, er habe es ſich als einen Hauptzwek vor-
geſetzt, die Zuſchauer in allem Wahren und Guten zu
unterrichten. Er hatte Herz genug den Aberglau-
ben und die falſche Goͤtterlehre ſeiner Zeit mit ſokra-
tiſcher Staͤrke anzugreifen. Jn ſeiner Helena legt
er einem Boten folgende Worte in den Mund (*).(*) Hel.
vs 750 f. f.

Jch ſehe, wie elend luͤgenhaft das ganze Weſen der
Wahrſager iſt. Weder in der Flamme des Feuers,
noch in der Stimme der Voͤgel liegt etwas heilſa-
mes fuͤr den Menſchen, und es iſt thoͤricht nur zu
vermuthen, daß die Voͤgel uns zu Huͤlfe kommen. —
Warum laſſen wir uns denn wahr ſagen? Laſſet
uns durch Opfer gutes von den Goͤttern erbitten
und den Wahrſagungen Abſchied geben. Noch iſt
kein Fauler durch die Wahrſagung reich gewor-
den. Klugheit und guter Rath ſind die beſten
Wahrſager. — — — Wer die Goͤtter zu Freun-
den hat, der beſitzt die beſte Wahrſagerkunſt.

Eben ſo kuͤhn redet er wider die unſittliche Goͤt-
terlehre ſeiner Zeit. Jn dem Trguerſpiel Jon ſagt
dieſer Juͤngling zum Apollo: Wie kann dieſes recht
ſeyn, daß ihr, die den Sterblichen Geſetze geben,

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[356/0368] Eur Eur Fabeln vollkommen zu machen, und in beſondern Faͤllen ſcheinet er ſich weniger bekuͤmmert zu haben, ob die Reden den Perſonen, der Zeit und den Um- ſtaͤnden angemeſſen ſeyen, wenn ſie nur etwas lehr- reiches enthielten. Aber ſein nachlaͤßiges Weſen hat, wie der P. Bruͤmoy wol anmerkt, einen Reiz, der der Regelmaͤßigkeit des Sophokles die Waage haͤlt. Er hielt ſich mehr an die Natur, als an die Kunſt, und indem er ſchrieb, zog er mehr ſein empfindendes Herz, als ſeinen Verſtand zu rathe. Wenn ſeine Perſonen uns nicht ſo oft in Be- wundrung ihrer Groͤße ſetzen, als des Aeſchylus ſeine, und nicht ſo maͤnnlich ſind, als ſie Sopho- kles vorſtellt, ſo empfinden ſie Gluͤk und Ungluͤk ſtaͤr- ker, und druͤken ihre Empfindungen ſo aus, daß ſie in die verborgenſten Winkel unſers Herzens dringen und uns zum hoͤchſten Mitleiden bewegen. Er zeich- net uns mehr wuͤrklich in der Natur vorhandene als idealiſche, oder erhoͤhete Charaktere, aber ſeine Zeich- nungen ſind meiſterhaft. Jn Erfindung tragiſcher Umſtaͤnden und trauriger Zufaͤlle, iſt er bis zur Verſchwendung reich. Von allem dem, was einen Menſchen bis zur traurigſten Empfindung ruͤhren kann, ſcheinet ihm nichts ent- gangen zu ſeyn. Die zaͤrtlichen Sayten des Her- zens weiß er alle zu treffen, und ihr Spiel bis auf den hoͤchſten Grad zu treiben. Er erwekt weit mehr zaͤrtliches Mitleiden und Liebe fuͤr die handelnden Per- ſonen, als Hochachtung. Das Schrekliche und Große hat er nicht geſucht, oder nicht zu erreichen vermocht; wiewol er ſich auch bisweilen bis zum Erhabenen in den Beſchreibungen und bis zum he- roiſch zaͤrtlichen der Empfindungen ſchwingt. Von dem erſtern geben die Wunder, die Bacchus in The- ben thut, in ſeinen Bacchantinen einen Beweis, von dem andern wollen wir ein Paar Beyſpiele hier an- bringen. Als die Herakliden in der aͤuſſerſten Gefahr wa- ren, dem Tyrannen Euryſthaͤus in die Haͤnde zufal- len und von ihm ermordet zu werden, ſagt das Orakel dem Demopheon, es ſey keine Rettung uͤbrig, als wenn eine Jnngfrau von edlem Blute den Goͤt- tern geopfert werde. Macaria, eine Tochter des Herkules, hoͤrt dieſes von dem Jolaus und ſagt ihm: Jſt dann dieſes das einzige Mittel zu unſrer Errettung! Jol. Das einzige, denn im uͤbrigen wuͤrden wir ganz gluͤklich ſeyn. Mac. So fuͤrchte nur das feindliche Heer der Argiver nicht laͤnger. Naͤmlich ſo bald Macaria hoͤrt, daß ſie durch einen freywilligen Tod die ihrigen retten koͤnnen, ſteht ſie nicht einen Augenblick an, ihr Leben anzubieten. Jn demſelben Stuͤk legt der Dichter dem alten Jolaus einen großmuͤthigen Gedanken bey. Alcmene will ihn abhalten in die Schlacht zu gehen, durch welche die Herakliden ſollten frey werden. Sie fuͤrchtet, er moͤchte darin umkommen, und ihre Kin- der wuͤrden alsdenn ihres beſten Beſchuͤtzers berau- bet ſeyn. Er giebt ihr aber dieſe großmuͤthige Ant- wort. Des Herkules Soͤhne werden die Sorge aller deren ſeyn, die am Leben bleiben werden, wodurch er nicht allein die Geringſchaͤtzung ſeines eigenen Lebens, ſondern den großen Eindruk, den die Verdienſte des Herkules bey den Griechen ge- macht, auf das edelſte ausdruͤkt. Uebrigens zeiget ſich dieſer zaͤrtliche Dichter uͤber- all, als einen wuͤrdigen Schuͤler des großen Sokra- tes, der die Sache der Wahrheit und Tugend uͤber- all verficht. Die Sittenſpruͤche, welche er haͤufig anbringt, gaͤben eine Sammlung der vornehmſten Lehren der Weltweisheit, ſo daß man gar deutlich bemerket, er habe es ſich als einen Hauptzwek vor- geſetzt, die Zuſchauer in allem Wahren und Guten zu unterrichten. Er hatte Herz genug den Aberglau- ben und die falſche Goͤtterlehre ſeiner Zeit mit ſokra- tiſcher Staͤrke anzugreifen. Jn ſeiner Helena legt er einem Boten folgende Worte in den Mund (*). „Jch ſehe, wie elend luͤgenhaft das ganze Weſen der Wahrſager iſt. Weder in der Flamme des Feuers, noch in der Stimme der Voͤgel liegt etwas heilſa- mes fuͤr den Menſchen, und es iſt thoͤricht nur zu vermuthen, daß die Voͤgel uns zu Huͤlfe kommen. — Warum laſſen wir uns denn wahr ſagen? Laſſet uns durch Opfer gutes von den Goͤttern erbitten und den Wahrſagungen Abſchied geben. Noch iſt kein Fauler durch die Wahrſagung reich gewor- den. Klugheit und guter Rath ſind die beſten Wahrſager. — — — Wer die Goͤtter zu Freun- den hat, der beſitzt die beſte Wahrſagerkunſt.‟ (*) Hel. vs 750 f. f. Eben ſo kuͤhn redet er wider die unſittliche Goͤt- terlehre ſeiner Zeit. Jn dem Trguerſpiel Jon ſagt dieſer Juͤngling zum Apollo: Wie kann dieſes recht ſeyn, daß ihr, die den Sterblichen Geſetze geben, ſelbſt

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 356. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/368>, abgerufen am 22.11.2024.