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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Erh
Würksamkeit hervorbringen. Bey der stillen Größe
der hohen Gesinnungen bewundern wir die Stärke
der Seele, die sich bey den heftigsten Anfällen in
Ruh zu erhalten vermag; bey der Heftigkeit gewisser
Leidenschaften zieht die, unsre Erwartung über-
treffende Würksamkeit, die alles überwältigende
Kraft derselben, unsre Bewundrung nach sich. Jene
ruhige Größe gleichet den majestätischen Gebürgen,
von denen einer unsrer Dichter singt:

So stehet ein Berg Gottes,
Den Fuß in Ungewittern,
(*) Nam-
ler in der
Cantate v.
Tode Jesu.
Das Haupt in Sonnenstrahlen. (*)

Diese würksame Größe hingegen ist, wie ein ge-
waltiger Strohm, der alles, was ihm in Weg
kommt, mit sich fortreißt. So ist die Wuth des
Achilles im Streit, den auch die verschlingenden
Wellen des Xanthus nicht zurükhalten, oder die
erstaunliche Rachgier des Coriolans in Thomsons
Trauerspiel. (+) -- Gib mir den untersten Rang
in dem Heer; ganz Jtalien soll dennoch erfahren
und allen künftigen Zeiten soll die Stimme des Ge-
rüchts es sagen, daß ich zugegen gewesen, daß Co-
riolan dem Heer der Volscier beygestanden, als
das weitherrschende Rom der Erde gleich ge-
macht worden.
-- So viel Stärke konnte man
von keinem Menschen erwarten.

Selbst die überwältigenden Leidenschaften kön-
nen, wenn sie starke Seelen betreffen, etwas Erha-
benes zeigen. Wer kann ohne Schaudern den
Schmerz des Hiobs ansehen, da er die Stunde sei-
ner Gebuhrt verfluchet, oder das erstaunliche Leiden
des sterbenden Herkules, (++) oder den Jammer
des Philoktets, (+++) oder die erschrekliche Quaal
(*) Meßias
II Ges.
des Abbadona? (*) Selbst die Liebe, wie sie die
Sappho oder die Clementina martert, setzt in Er-
staunen. Jn jenen muthigen Leidenschaften ist
das Gemüth selbst der Gegenstand der Bewun-
drung; hier aber bewundern wir die Größe des
Gegenstandes, der das Leiden hervorbringt, und
den wir in der leidenden Seel als in einem Spiegel
erbliken. Man kann eine ähnliche Würkung durch
Vorbildung des Gegenstandes selbst erreichen. Näm-
lich die überwältigenden Leidenschaften, wobey die
[Spaltenumbruch]

Erh
Seele blos leidend scheinet, können, wie so eben an-
gemerkt worden, erhaben geschildert werden, man
kann aber das Erhabene auch durch die Gegen-
stände dieser Leidenschaft selbst erreichen, indem an-
statt der Furcht, des Schrekens, der Verzweiflung,
die Gegenstände, von denen diese Leidenschaften ent-
stehen, geschildert werden: so ist Miltons Beschrei-
bung der Hölle erhaben furchtbar.

Dieses sind also die verschiedenen Gattungen des
Erhabenen in der sichtbaren und unsichtbaren Natur.
Nicht nur die Beredsamkeit und die Dichtkunst,
sondern auch die zeichnenden Künste, haben den Aus-
druk desselben in ihrer Gewalt. Es ist keine Gat-
tung desselben, die Raphael nicht erreicht hätte,
und wir wissen sowol aus den Zeugnissen der Alten,
als aus dem Antiken das übrig geblieben, daß die
alten Bildhaner das Erhabene der Sinnesart und
der Charaktere in einem hohen Grad erreicht haben;
daß sie im Jupiter die göttliche Majestät, in der
Minerva die Weißheit u. s. f. auf eine erhabene
Weise sichtbar zu machen gewußt haben. Jn einem
einzigen Stük scheinet den neuern Künstlern der
Ausdruk des Erhabenen zu fehlen; wo sie nämlich
die Gottheit abbilden wollen. Wenigstens ist mir
kein erträgliches Bild davon bekannt, wo nämlich
die Gottheit unmittelbar vorgestellt wird. Denn
sonst haben wir allerdings Gemählde, die von der
Größe und Majestät Gottes mittelbar erhabene
Vorstellungen enthalten, wovon das große Gemähld
von Raphael, das insgemein das Sakrament ge-
nennt wird, ein fürtrefliches Beyspiel ist. Selbst
der Baukunst kann man das Erhabene nicht ganz
absprechen. Wenn gleich unsre Baumeister es nicht
erreichen, so läßt sich doch fühlen, wie durch Ge-
bäude gewaltige Eindrüke von Ehrfurcht, von Macht
und Größe, und auch von schaudernden Schreken
zu bewürken wären. Auch die Musik ist nicht vom
Erhabenen entblößt; sie hat das Erhabene der Lei-
denschaften, auch wol die ruhige Größe der Seele,
in ihrer Gewalt. Händel und Graun haben es
oft erreicht. Wer sich davon überzeugen will, darf
von dem ersten nur Aleranders Fest, und von dem
zweyten die Oper Jphigenia hören.

Ausser
(+) O! il imports not which of us commands.
Give me the lowest ranck among your tropps;
All Jtaly will know, the voice of same
Will tell all futur times, that I was present,
[Spaltenumbruch] That Coriolanus in the Volscian Army.
Assisted when imperial Rome was sackd.
(++) Sophocl. Trachinioe vs. 1010 u. f. f.
(+++) Sophocl. Philoct. vs. 747 u. f. f. 941 f. f.

[Spaltenumbruch]

Erh
Wuͤrkſamkeit hervorbringen. Bey der ſtillen Groͤße
der hohen Geſinnungen bewundern wir die Staͤrke
der Seele, die ſich bey den heftigſten Anfaͤllen in
Ruh zu erhalten vermag; bey der Heftigkeit gewiſſer
Leidenſchaften zieht die, unſre Erwartung uͤber-
treffende Wuͤrkſamkeit, die alles uͤberwaͤltigende
Kraft derſelben, unſre Bewundrung nach ſich. Jene
ruhige Groͤße gleichet den majeſtaͤtiſchen Gebuͤrgen,
von denen einer unſrer Dichter ſingt:

So ſtehet ein Berg Gottes,
Den Fuß in Ungewittern,
(*) Nam-
ler in der
Cantate v.
Tode Jeſu.
Das Haupt in Sonnenſtrahlen. (*)

Dieſe wuͤrkſame Groͤße hingegen iſt, wie ein ge-
waltiger Strohm, der alles, was ihm in Weg
kommt, mit ſich fortreißt. So iſt die Wuth des
Achilles im Streit, den auch die verſchlingenden
Wellen des Xanthus nicht zuruͤkhalten, oder die
erſtaunliche Rachgier des Coriolans in Thomſons
Trauerſpiel. (†)Gib mir den unterſten Rang
in dem Heer; ganz Jtalien ſoll dennoch erfahren
und allen kuͤnftigen Zeiten ſoll die Stimme des Ge-
ruͤchts es ſagen, daß ich zugegen geweſen, daß Co-
riolan dem Heer der Volscier beygeſtanden, als
das weitherrſchende Rom der Erde gleich ge-
macht worden.
— So viel Staͤrke konnte man
von keinem Menſchen erwarten.

Selbſt die uͤberwaͤltigenden Leidenſchaften koͤn-
nen, wenn ſie ſtarke Seelen betreffen, etwas Erha-
benes zeigen. Wer kann ohne Schaudern den
Schmerz des Hiobs anſehen, da er die Stunde ſei-
ner Gebuhrt verfluchet, oder das erſtaunliche Leiden
des ſterbenden Herkules, (††) oder den Jammer
des Philoktets, (†††) oder die erſchrekliche Quaal
(*) Meßias
II Geſ.
des Abbadona? (*) Selbſt die Liebe, wie ſie die
Sappho oder die Clementina martert, ſetzt in Er-
ſtaunen. Jn jenen muthigen Leidenſchaften iſt
das Gemuͤth ſelbſt der Gegenſtand der Bewun-
drung; hier aber bewundern wir die Groͤße des
Gegenſtandes, der das Leiden hervorbringt, und
den wir in der leidenden Seel als in einem Spiegel
erbliken. Man kann eine aͤhnliche Wuͤrkung durch
Vorbildung des Gegenſtandes ſelbſt erreichen. Naͤm-
lich die uͤberwaͤltigenden Leidenſchaften, wobey die
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Erh
Seele blos leidend ſcheinet, koͤnnen, wie ſo eben an-
gemerkt worden, erhaben geſchildert werden, man
kann aber das Erhabene auch durch die Gegen-
ſtaͤnde dieſer Leidenſchaft ſelbſt erreichen, indem an-
ſtatt der Furcht, des Schrekens, der Verzweiflung,
die Gegenſtaͤnde, von denen dieſe Leidenſchaften ent-
ſtehen, geſchildert werden: ſo iſt Miltons Beſchrei-
bung der Hoͤlle erhaben furchtbar.

Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Gattungen des
Erhabenen in der ſichtbaren und unſichtbaren Natur.
Nicht nur die Beredſamkeit und die Dichtkunſt,
ſondern auch die zeichnenden Kuͤnſte, haben den Aus-
druk deſſelben in ihrer Gewalt. Es iſt keine Gat-
tung deſſelben, die Raphael nicht erreicht haͤtte,
und wir wiſſen ſowol aus den Zeugniſſen der Alten,
als aus dem Antiken das uͤbrig geblieben, daß die
alten Bildhaner das Erhabene der Sinnesart und
der Charaktere in einem hohen Grad erreicht haben;
daß ſie im Jupiter die goͤttliche Majeſtaͤt, in der
Minerva die Weißheit u. ſ. f. auf eine erhabene
Weiſe ſichtbar zu machen gewußt haben. Jn einem
einzigen Stuͤk ſcheinet den neuern Kuͤnſtlern der
Ausdruk des Erhabenen zu fehlen; wo ſie naͤmlich
die Gottheit abbilden wollen. Wenigſtens iſt mir
kein ertraͤgliches Bild davon bekannt, wo naͤmlich
die Gottheit unmittelbar vorgeſtellt wird. Denn
ſonſt haben wir allerdings Gemaͤhlde, die von der
Groͤße und Majeſtaͤt Gottes mittelbar erhabene
Vorſtellungen enthalten, wovon das große Gemaͤhld
von Raphael, das insgemein das Sakrament ge-
nennt wird, ein fuͤrtrefliches Beyſpiel iſt. Selbſt
der Baukunſt kann man das Erhabene nicht ganz
abſprechen. Wenn gleich unſre Baumeiſter es nicht
erreichen, ſo laͤßt ſich doch fuͤhlen, wie durch Ge-
baͤude gewaltige Eindruͤke von Ehrfurcht, von Macht
und Groͤße, und auch von ſchaudernden Schreken
zu bewuͤrken waͤren. Auch die Muſik iſt nicht vom
Erhabenen entbloͤßt; ſie hat das Erhabene der Lei-
denſchaften, auch wol die ruhige Groͤße der Seele,
in ihrer Gewalt. Haͤndel und Graun haben es
oft erreicht. Wer ſich davon uͤberzeugen will, darf
von dem erſten nur Aleranders Feſt, und von dem
zweyten die Oper Jphigenia hoͤren.

Auſſer
(†) O! il imports not which of us commands.
Give me the loweſt ranck among your tropps;
All Jtaly will know, the voice of ſame
Will tell all futur times, that I was preſent,
[Spaltenumbruch] That Coriolanus in the Volſcian Army.
Aſſiſted when imperial Rome was ſackd.
(††) Sophocl. Trachiniœ vs. 1010 u. f. f.
(†††) Sophocl. Philoct. vs. 747 u. f. f. 941 f. f.
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[344/0356] Erh Erh Wuͤrkſamkeit hervorbringen. Bey der ſtillen Groͤße der hohen Geſinnungen bewundern wir die Staͤrke der Seele, die ſich bey den heftigſten Anfaͤllen in Ruh zu erhalten vermag; bey der Heftigkeit gewiſſer Leidenſchaften zieht die, unſre Erwartung uͤber- treffende Wuͤrkſamkeit, die alles uͤberwaͤltigende Kraft derſelben, unſre Bewundrung nach ſich. Jene ruhige Groͤße gleichet den majeſtaͤtiſchen Gebuͤrgen, von denen einer unſrer Dichter ſingt: So ſtehet ein Berg Gottes, Den Fuß in Ungewittern, Das Haupt in Sonnenſtrahlen. (*) Dieſe wuͤrkſame Groͤße hingegen iſt, wie ein ge- waltiger Strohm, der alles, was ihm in Weg kommt, mit ſich fortreißt. So iſt die Wuth des Achilles im Streit, den auch die verſchlingenden Wellen des Xanthus nicht zuruͤkhalten, oder die erſtaunliche Rachgier des Coriolans in Thomſons Trauerſpiel. (†) — Gib mir den unterſten Rang in dem Heer; ganz Jtalien ſoll dennoch erfahren und allen kuͤnftigen Zeiten ſoll die Stimme des Ge- ruͤchts es ſagen, daß ich zugegen geweſen, daß Co- riolan dem Heer der Volscier beygeſtanden, als das weitherrſchende Rom der Erde gleich ge- macht worden. — So viel Staͤrke konnte man von keinem Menſchen erwarten. Selbſt die uͤberwaͤltigenden Leidenſchaften koͤn- nen, wenn ſie ſtarke Seelen betreffen, etwas Erha- benes zeigen. Wer kann ohne Schaudern den Schmerz des Hiobs anſehen, da er die Stunde ſei- ner Gebuhrt verfluchet, oder das erſtaunliche Leiden des ſterbenden Herkules, (††) oder den Jammer des Philoktets, (†††) oder die erſchrekliche Quaal des Abbadona? (*) Selbſt die Liebe, wie ſie die Sappho oder die Clementina martert, ſetzt in Er- ſtaunen. Jn jenen muthigen Leidenſchaften iſt das Gemuͤth ſelbſt der Gegenſtand der Bewun- drung; hier aber bewundern wir die Groͤße des Gegenſtandes, der das Leiden hervorbringt, und den wir in der leidenden Seel als in einem Spiegel erbliken. Man kann eine aͤhnliche Wuͤrkung durch Vorbildung des Gegenſtandes ſelbſt erreichen. Naͤm- lich die uͤberwaͤltigenden Leidenſchaften, wobey die Seele blos leidend ſcheinet, koͤnnen, wie ſo eben an- gemerkt worden, erhaben geſchildert werden, man kann aber das Erhabene auch durch die Gegen- ſtaͤnde dieſer Leidenſchaft ſelbſt erreichen, indem an- ſtatt der Furcht, des Schrekens, der Verzweiflung, die Gegenſtaͤnde, von denen dieſe Leidenſchaften ent- ſtehen, geſchildert werden: ſo iſt Miltons Beſchrei- bung der Hoͤlle erhaben furchtbar. (*) Meßias II Geſ. Dieſes ſind alſo die verſchiedenen Gattungen des Erhabenen in der ſichtbaren und unſichtbaren Natur. Nicht nur die Beredſamkeit und die Dichtkunſt, ſondern auch die zeichnenden Kuͤnſte, haben den Aus- druk deſſelben in ihrer Gewalt. Es iſt keine Gat- tung deſſelben, die Raphael nicht erreicht haͤtte, und wir wiſſen ſowol aus den Zeugniſſen der Alten, als aus dem Antiken das uͤbrig geblieben, daß die alten Bildhaner das Erhabene der Sinnesart und der Charaktere in einem hohen Grad erreicht haben; daß ſie im Jupiter die goͤttliche Majeſtaͤt, in der Minerva die Weißheit u. ſ. f. auf eine erhabene Weiſe ſichtbar zu machen gewußt haben. Jn einem einzigen Stuͤk ſcheinet den neuern Kuͤnſtlern der Ausdruk des Erhabenen zu fehlen; wo ſie naͤmlich die Gottheit abbilden wollen. Wenigſtens iſt mir kein ertraͤgliches Bild davon bekannt, wo naͤmlich die Gottheit unmittelbar vorgeſtellt wird. Denn ſonſt haben wir allerdings Gemaͤhlde, die von der Groͤße und Majeſtaͤt Gottes mittelbar erhabene Vorſtellungen enthalten, wovon das große Gemaͤhld von Raphael, das insgemein das Sakrament ge- nennt wird, ein fuͤrtrefliches Beyſpiel iſt. Selbſt der Baukunſt kann man das Erhabene nicht ganz abſprechen. Wenn gleich unſre Baumeiſter es nicht erreichen, ſo laͤßt ſich doch fuͤhlen, wie durch Ge- baͤude gewaltige Eindruͤke von Ehrfurcht, von Macht und Groͤße, und auch von ſchaudernden Schreken zu bewuͤrken waͤren. Auch die Muſik iſt nicht vom Erhabenen entbloͤßt; ſie hat das Erhabene der Lei- denſchaften, auch wol die ruhige Groͤße der Seele, in ihrer Gewalt. Haͤndel und Graun haben es oft erreicht. Wer ſich davon uͤberzeugen will, darf von dem erſten nur Aleranders Feſt, und von dem zweyten die Oper Jphigenia hoͤren. Auſſer (†) O! il imports not which of us commands. Give me the loweſt ranck among your tropps; All Jtaly will know, the voice of ſame Will tell all futur times, that I was preſent, That Coriolanus in the Volſcian Army. Aſſiſted when imperial Rome was ſackd. (††) Sophocl. Trachiniœ vs. 1010 u. f. f. (†††) Sophocl. Philoct. vs. 747 u. f. f. 941 f. f.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 344. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/356>, abgerufen am 22.11.2024.