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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Erh
ganze Welt und ein Stäubchen, gleich groß sind.
So gränzet es auch an das Erhabene, wenn der
eben angeführte Dichter in seinem Gedichte von dem
Ursprung des Uebels, nachdem er eine reizende Be-
schreibung von der Schönheit der Natur gemacht
hat, plötzlich ausruft:

Und dieses ist die Welt, worüber Weise klagen!
Oder wenn Cicero ausruft: Welch trauriges Schau-
spiel, der Erhalter des Vaterlandes ist gezwungen
es zu verlassen und die es verrathen haben, bleiben
(*) Phi-
lip. X.
ruhig darin!
(*) Dieses ist also die eine Gattung des
Erhabenen, das unsre Vorstellungskräfte mit Ge-
walt angreift.

Die andre Gattung würkt die Bewundrung durch
das Gefühl des Herzens. Jndem wir andrer Men-
schen Empfindungen, Leidenschaften, innerlich wür-
kende Kräfte oder äusserlich ausbrechende Handlun-
gen, mit unserm Gefühl vergleichen und gegen das
halten, was wir zu thun vermögend sind, so entsteht
allemal Bewundrung, wenn wir Kräfte sehen, die
weit über die Unsrigen gehen, oder deren Größe
wir nicht anders, als durch eine ausserordentliche
Anstrengung unsers eigenen Gefühls, fassen können.
Eben dieses geschieht auch, wenn wir im Guten
oder Bösen etwas sehen, das unsre Empfindung
gleichsam bestürmt. Daher entsteht das Erhabene
in den Gesinnungen, in den Charaktern, in den Hand-
lungen, und auch in den leblosen Gegenständen der
Empfindung.

Die Empfindungen der Ehre, der Rechtschaffen-
heit, der Liebe des Vaterlandes können so stark
seyn, daß sie unsre Bewundrung erweken, und als-
dann nennen wir sie Erhaben. So ist die Groß-
muth erhaben, die große Beleidigungen verzeiht,
wie wenn Augustus zum Cinna, der in eine Ver-
schwörung gegen ihn getreten war, sagt: Laßt uns
Freunde seyn Cinna;
(+) der hohe Muth des Hohen-
priesters Joad, der bey den gefährlichsten Umstän-
den, womit man ihn erschreken will, ruhig sagt:
Jch fürchte Gott, Abner, und kenne keine andre
Furcht.
(++) So hat die Standhaftigkeit des Milo
etwas Erhabenes, von dem Cicero sagt: er halte
nur den Ort für den Ort der Verbannung, wo
es nicht erlaubt ist, Tugendhaft zu seyn.
(+++) Die-
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Erh
ses ist das Erhabene in den Gesinnungen und Cha-
rakteren, wodurch Männer von hoher Sinnesart,
die weit über die gemeine Tugend erhaben sind, un-
sere Bewundrung verdienen, und wovon man vor-
nehmlich in der griechischen und römischen Geschichte
sehr viel Beyspiele findet.

Dieses Erhabene hat auch im Bösen statt, weil
selbst in der Gottlosigkeit etwas Bewundrungswür-
diges seyn kann. Die Anrede, womit Satan (+)
nach seinem Fall die Hölle grüßt, hat etwas Er-
habenes. "Seyd gegrüßt Schreknisse; dich grüß
ich unterste Welt und dich tiefste Hölle. Empfange
deinen neuen Einwohner; einen der ein Gemüth
mit sich bringt, das weder Ort noch Zeit zu verän-
dern vermag. Das Gemüth ist sein eigener Platz
und kann in ihm selbst einen Himmel aus der Hölle,
und eine Höll aus dem Himmel machen. -- We-
nigstens werden wir hier frey seyn; der Allmächtige
hat hier nicht gebaut, was er uns mißgönnen sollte;
er wird uns hier nicht verjagen." Von dieser Art
ist auch die, anderswo angeführte Rede des Etco-
kles,
(*) die Rede des Ajar, (**) der einigermaaßen(*) S.
Aeschylus.
S. 19.

dem Jupiter Troz bietet, die erhabene Boßheit
des Caiphas und des Philo in Klopstoks Meßias.(**) II. E.
v.
645. s. f.

Jede würkende Kraft von ausserordentlicher Größe
hat etwas Bewundrungswürdiges. Die Stärke
des Gemüths, das sich durch nichts niederdrüken
läßt, eine Kühnheit die keine Gefahr achtet, ein
Muth, den kein Hinterniß überwältiget, hat etwas
Großes, wenn gleich diese Stärke nicht gut ange-
wendet wird. Das Böse darin ist zufällig, das Gute
wesentlich. Ein großmüthiger Bösewicht kann bald
gut werden, und durch einen kleinen Schritt zu ei-
ner ehrwürdigen Größe gelangen; aber wem die
Stärke des Geistes und die Kräfte der Empfindung
fehlen, wenn gleich sonst im Gemüth nichts Böses
vorhanden wäre, der bleibt in der sittlichen Welt
immer ein geringschätziges Geschöpf.

Wie die hohe Sinnesart, die das Gemüth bey
den wichtigsten Vorfällen, selbst bey dem stürmen-
den Ungewitter der Gefahren und des Unglüks in
bewundrungswürdiger Ruhe zu erhalten vermag,
etwas Erhabenes hat, so können im Gegentheil auch
die Leidenschaften eine wunderbare und erstaunliche

Würk-
(+) Jm Trauerspiel des Corneille, Cinna.
(++) Jm Trauerspiel des Racine, Athalie.
(+++) Est quodam incredibili robore Animi septus; exi-
[Spaltenumbruch] lium ibi esse putat, ubi virtuti non sit locus. Orat. pro T.
An. Milone.
(+) Jm 1 B. von Miltons verlohrnem Paradies.

[Spaltenumbruch]

Erh
ganze Welt und ein Staͤubchen, gleich groß ſind.
So graͤnzet es auch an das Erhabene, wenn der
eben angefuͤhrte Dichter in ſeinem Gedichte von dem
Urſprung des Uebels, nachdem er eine reizende Be-
ſchreibung von der Schoͤnheit der Natur gemacht
hat, ploͤtzlich ausruft:

Und dieſes iſt die Welt, woruͤber Weiſe klagen!
Oder wenn Cicero ausruft: Welch trauriges Schau-
ſpiel, der Erhalter des Vaterlandes iſt gezwungen
es zu verlaſſen und die es verrathen haben, bleiben
(*) Phi-
lip. X.
ruhig darin!
(*) Dieſes iſt alſo die eine Gattung des
Erhabenen, das unſre Vorſtellungskraͤfte mit Ge-
walt angreift.

Die andre Gattung wuͤrkt die Bewundrung durch
das Gefuͤhl des Herzens. Jndem wir andrer Men-
ſchen Empfindungen, Leidenſchaften, innerlich wuͤr-
kende Kraͤfte oder aͤuſſerlich ausbrechende Handlun-
gen, mit unſerm Gefuͤhl vergleichen und gegen das
halten, was wir zu thun vermoͤgend ſind, ſo entſteht
allemal Bewundrung, wenn wir Kraͤfte ſehen, die
weit uͤber die Unſrigen gehen, oder deren Groͤße
wir nicht anders, als durch eine auſſerordentliche
Anſtrengung unſers eigenen Gefuͤhls, faſſen koͤnnen.
Eben dieſes geſchieht auch, wenn wir im Guten
oder Boͤſen etwas ſehen, das unſre Empfindung
gleichſam beſtuͤrmt. Daher entſteht das Erhabene
in den Geſinnungen, in den Charaktern, in den Hand-
lungen, und auch in den lebloſen Gegenſtaͤnden der
Empfindung.

Die Empfindungen der Ehre, der Rechtſchaffen-
heit, der Liebe des Vaterlandes koͤnnen ſo ſtark
ſeyn, daß ſie unſre Bewundrung erweken, und als-
dann nennen wir ſie Erhaben. So iſt die Groß-
muth erhaben, die große Beleidigungen verzeiht,
wie wenn Auguſtus zum Cinna, der in eine Ver-
ſchwoͤrung gegen ihn getreten war, ſagt: Laßt uns
Freunde ſeyn Cinna;
(†) der hohe Muth des Hohen-
prieſters Joad, der bey den gefaͤhrlichſten Umſtaͤn-
den, womit man ihn erſchreken will, ruhig ſagt:
Jch fuͤrchte Gott, Abner, und kenne keine andre
Furcht.
(††) So hat die Standhaftigkeit des Milo
etwas Erhabenes, von dem Cicero ſagt: er halte
nur den Ort fuͤr den Ort der Verbannung, wo
es nicht erlaubt iſt, Tugendhaft zu ſeyn.
(†††) Die-
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Erh
ſes iſt das Erhabene in den Geſinnungen und Cha-
rakteren, wodurch Maͤnner von hoher Sinnesart,
die weit uͤber die gemeine Tugend erhaben ſind, un-
ſere Bewundrung verdienen, und wovon man vor-
nehmlich in der griechiſchen und roͤmiſchen Geſchichte
ſehr viel Beyſpiele findet.

Dieſes Erhabene hat auch im Boͤſen ſtatt, weil
ſelbſt in der Gottloſigkeit etwas Bewundrungswuͤr-
diges ſeyn kann. Die Anrede, womit Satan (†)
nach ſeinem Fall die Hoͤlle gruͤßt, hat etwas Er-
habenes. „Seyd gegruͤßt Schrekniſſe; dich gruͤß
ich unterſte Welt und dich tiefſte Hoͤlle. Empfange
deinen neuen Einwohner; einen der ein Gemuͤth
mit ſich bringt, das weder Ort noch Zeit zu veraͤn-
dern vermag. Das Gemuͤth iſt ſein eigener Platz
und kann in ihm ſelbſt einen Himmel aus der Hoͤlle,
und eine Hoͤll aus dem Himmel machen. — We-
nigſtens werden wir hier frey ſeyn; der Allmaͤchtige
hat hier nicht gebaut, was er uns mißgoͤnnen ſollte;
er wird uns hier nicht verjagen.‟ Von dieſer Art
iſt auch die, anderswo angefuͤhrte Rede des Etco-
kles,
(*) die Rede des Ajar, (**) der einigermaaßen(*) S.
Aeſchylus.
S. 19.

dem Jupiter Troz bietet, die erhabene Boßheit
des Caiphas und des Philo in Klopſtoks Meßias.(**) II. E.
v.
645. ſ. f.

Jede wuͤrkende Kraft von auſſerordentlicher Groͤße
hat etwas Bewundrungswuͤrdiges. Die Staͤrke
des Gemuͤths, das ſich durch nichts niederdruͤken
laͤßt, eine Kuͤhnheit die keine Gefahr achtet, ein
Muth, den kein Hinterniß uͤberwaͤltiget, hat etwas
Großes, wenn gleich dieſe Staͤrke nicht gut ange-
wendet wird. Das Boͤſe darin iſt zufaͤllig, das Gute
weſentlich. Ein großmuͤthiger Boͤſewicht kann bald
gut werden, und durch einen kleinen Schritt zu ei-
ner ehrwuͤrdigen Groͤße gelangen; aber wem die
Staͤrke des Geiſtes und die Kraͤfte der Empfindung
fehlen, wenn gleich ſonſt im Gemuͤth nichts Boͤſes
vorhanden waͤre, der bleibt in der ſittlichen Welt
immer ein geringſchaͤtziges Geſchoͤpf.

Wie die hohe Sinnesart, die das Gemuͤth bey
den wichtigſten Vorfaͤllen, ſelbſt bey dem ſtuͤrmen-
den Ungewitter der Gefahren und des Ungluͤks in
bewundrungswuͤrdiger Ruhe zu erhalten vermag,
etwas Erhabenes hat, ſo koͤnnen im Gegentheil auch
die Leidenſchaften eine wunderbare und erſtaunliche

Wuͤrk-
(†) Jm Trauerſpiel des Corneille, Cinna.
(††) Jm Trauerſpiel des Racine, Athalie.
(†††) Eſt quodam incredibili robore Animi ſeptus; exi-
[Spaltenumbruch] lium ibi eſſe putat, ubi virtuti non ſit locus. Orat. pro T.
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[343/0355] Erh Erh ganze Welt und ein Staͤubchen, gleich groß ſind. So graͤnzet es auch an das Erhabene, wenn der eben angefuͤhrte Dichter in ſeinem Gedichte von dem Urſprung des Uebels, nachdem er eine reizende Be- ſchreibung von der Schoͤnheit der Natur gemacht hat, ploͤtzlich ausruft: Und dieſes iſt die Welt, woruͤber Weiſe klagen! Oder wenn Cicero ausruft: Welch trauriges Schau- ſpiel, der Erhalter des Vaterlandes iſt gezwungen es zu verlaſſen und die es verrathen haben, bleiben ruhig darin! (*) Dieſes iſt alſo die eine Gattung des Erhabenen, das unſre Vorſtellungskraͤfte mit Ge- walt angreift. Die andre Gattung wuͤrkt die Bewundrung durch das Gefuͤhl des Herzens. Jndem wir andrer Men- ſchen Empfindungen, Leidenſchaften, innerlich wuͤr- kende Kraͤfte oder aͤuſſerlich ausbrechende Handlun- gen, mit unſerm Gefuͤhl vergleichen und gegen das halten, was wir zu thun vermoͤgend ſind, ſo entſteht allemal Bewundrung, wenn wir Kraͤfte ſehen, die weit uͤber die Unſrigen gehen, oder deren Groͤße wir nicht anders, als durch eine auſſerordentliche Anſtrengung unſers eigenen Gefuͤhls, faſſen koͤnnen. Eben dieſes geſchieht auch, wenn wir im Guten oder Boͤſen etwas ſehen, das unſre Empfindung gleichſam beſtuͤrmt. Daher entſteht das Erhabene in den Geſinnungen, in den Charaktern, in den Hand- lungen, und auch in den lebloſen Gegenſtaͤnden der Empfindung. Die Empfindungen der Ehre, der Rechtſchaffen- heit, der Liebe des Vaterlandes koͤnnen ſo ſtark ſeyn, daß ſie unſre Bewundrung erweken, und als- dann nennen wir ſie Erhaben. So iſt die Groß- muth erhaben, die große Beleidigungen verzeiht, wie wenn Auguſtus zum Cinna, der in eine Ver- ſchwoͤrung gegen ihn getreten war, ſagt: Laßt uns Freunde ſeyn Cinna; (†) der hohe Muth des Hohen- prieſters Joad, der bey den gefaͤhrlichſten Umſtaͤn- den, womit man ihn erſchreken will, ruhig ſagt: Jch fuͤrchte Gott, Abner, und kenne keine andre Furcht. (††) So hat die Standhaftigkeit des Milo etwas Erhabenes, von dem Cicero ſagt: er halte nur den Ort fuͤr den Ort der Verbannung, wo es nicht erlaubt iſt, Tugendhaft zu ſeyn. (†††) Die- ſes iſt das Erhabene in den Geſinnungen und Cha- rakteren, wodurch Maͤnner von hoher Sinnesart, die weit uͤber die gemeine Tugend erhaben ſind, un- ſere Bewundrung verdienen, und wovon man vor- nehmlich in der griechiſchen und roͤmiſchen Geſchichte ſehr viel Beyſpiele findet. Dieſes Erhabene hat auch im Boͤſen ſtatt, weil ſelbſt in der Gottloſigkeit etwas Bewundrungswuͤr- diges ſeyn kann. Die Anrede, womit Satan (†) nach ſeinem Fall die Hoͤlle gruͤßt, hat etwas Er- habenes. „Seyd gegruͤßt Schrekniſſe; dich gruͤß ich unterſte Welt und dich tiefſte Hoͤlle. Empfange deinen neuen Einwohner; einen der ein Gemuͤth mit ſich bringt, das weder Ort noch Zeit zu veraͤn- dern vermag. Das Gemuͤth iſt ſein eigener Platz und kann in ihm ſelbſt einen Himmel aus der Hoͤlle, und eine Hoͤll aus dem Himmel machen. — We- nigſtens werden wir hier frey ſeyn; der Allmaͤchtige hat hier nicht gebaut, was er uns mißgoͤnnen ſollte; er wird uns hier nicht verjagen.‟ Von dieſer Art iſt auch die, anderswo angefuͤhrte Rede des Etco- kles, (*) die Rede des Ajar, (**) der einigermaaßen dem Jupiter Troz bietet, die erhabene Boßheit des Caiphas und des Philo in Klopſtoks Meßias. Jede wuͤrkende Kraft von auſſerordentlicher Groͤße hat etwas Bewundrungswuͤrdiges. Die Staͤrke des Gemuͤths, das ſich durch nichts niederdruͤken laͤßt, eine Kuͤhnheit die keine Gefahr achtet, ein Muth, den kein Hinterniß uͤberwaͤltiget, hat etwas Großes, wenn gleich dieſe Staͤrke nicht gut ange- wendet wird. Das Boͤſe darin iſt zufaͤllig, das Gute weſentlich. Ein großmuͤthiger Boͤſewicht kann bald gut werden, und durch einen kleinen Schritt zu ei- ner ehrwuͤrdigen Groͤße gelangen; aber wem die Staͤrke des Geiſtes und die Kraͤfte der Empfindung fehlen, wenn gleich ſonſt im Gemuͤth nichts Boͤſes vorhanden waͤre, der bleibt in der ſittlichen Welt immer ein geringſchaͤtziges Geſchoͤpf. (*) S. Aeſchylus. S. 19. (**) II. E. v. 645. ſ. f. Wie die hohe Sinnesart, die das Gemuͤth bey den wichtigſten Vorfaͤllen, ſelbſt bey dem ſtuͤrmen- den Ungewitter der Gefahren und des Ungluͤks in bewundrungswuͤrdiger Ruhe zu erhalten vermag, etwas Erhabenes hat, ſo koͤnnen im Gegentheil auch die Leidenſchaften eine wunderbare und erſtaunliche Wuͤrk- (†) Jm Trauerſpiel des Corneille, Cinna. (††) Jm Trauerſpiel des Racine, Athalie. (†††) Eſt quodam incredibili robore Animi ſeptus; exi- lium ibi eſſe putat, ubi virtuti non ſit locus. Orat. pro T. An. Milone. (†) Jm 1 B. von Miltons verlohrnem Paradies.

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Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 343. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/355>, abgerufen am 07.05.2024.