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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Ent
mit beissenden Gewürzen zu rechte machen müssen,
weil sie sonst gar nichts davon schmeken.

Entwiklung.
(Schöne Künste.)

Jst eigentlich die Zergliederung oder Auslegung
des mannigfaltigen, das in einer Sache liegt, und
ist von der Auflösung unterschieden. Diese macht
das Ungewisse gewiß, das Zweifelhafte bestimmt;
stellt die Ordnung her, wo sie nicht vorhanden schien;
jene läßt uns das, was würklich in einer Sache
liegt, erkennen, indem sie uns eines nach dem an-
dern von den in ihr liegenden Dingen klar vor Au-
gen legt. Das Verworrene, oder das, was so
scheint, wird aufgelöset, und das Zusammengelegte
wird entwikelt. Ein Begriff wird entwikelt durch
die Erklärung, ein Gedanken durch Zergliederung
desselben; aber weder der eine, noch der andre wird
aufgelöset, es sey denn, daß etwas räthselhaftes
oder unbegreiflich scheinendes darin gewesen sey.
Die Auflösung gebiehrt Gewißheit und Richtigkeit;
die Entwiklung aber Deutlichkeit. Da nun diese
bey den schönen Künsten verschiedentlich in Betrach-
(*) S.
Deutlich-
keit.
tung kommt, (*) so ist auch die Entwiklung in der
Theorie derselben zu betrachten.

Sie ist überall nöthig, wo die Gegenstände nicht
anders, als durch eine völlige Deutlichkeit ihre Wür-
kung thun können. Der Redner muß die Haupt-
begriffe, auf denen seine Beweise beruhen, ent-
wikeln; die Gedanken, auf deren Deutlichkeit viel
ankommt; die Gesinnungen, die Charaktere, die
Handlungen müssen überall, wo sie als Haupt-
gegenstände, nicht aber blos zufällig und im Vorbey-
gehen erscheinen, gehörig entwikelt werden.

Begriffe werden, wie schon angemerkt worden,
durch Erklärungen entwikelt, auch wo diese feh-
len, oder sonst nicht nöthig sind, durch Zergliederung.
Wenn Virgil sagt:

Obstupui, steteruntque comae, vox faucibus haesit.

so drükt er im ersten Wort den Hauptbegriff des Ent-
setzens aus: was er aus der Zergliederung desselben
hinzuthut, gehört zur Entwiklung. Es versteht sich
von selbst, daß nur die wichtigsten Begriffe, auf deren
Kraft viel ankommt, der Entwiklung nöthig haben.

[Spaltenumbruch]
Ent

Gedanken werden ebenfalls durch Zergliederung
entwikelt; zum Beyspiel davon kann folgendes die-
nen. Cicero wollte in seiner Rede (*) sagen: ich(*) Pro
Roscio A-
merino.

merke wol, daß ich über eine so abscheuliche Sache
nicht reden kann; was und wie ich wollte;
weil
dieser Gedanken da wichtig war, so entwikelt er ihn
also: [Spaltenumbruch] (+) "Jch sehe wol ein, daß ich von so wich-
tigen und dabey so abscheulichen Dingen, weder ge-
schikt genug reden, noch ernstlich genug klagen, noch
frey genug meine eyfernde Stimme dagegen erhe-
ben kann; zu dem ersten fehlt mir die Fähigkeit, zu
dem andern das Ansehen, welches das Alter giebt,
und der Freyheit stehen die Umstände der Zeit im
Weg." Gesinnungen und Charaktere werden ent-
wikelt, wenn die wesentlichsten Fälle, bey denen sie
sich äußern, und durch die man ihre völlige Natur
erkennen lernt, herbey gebracht werden; diese Fälle
müssen aber würklich verschieden seyn, nicht immer
derselbe Fall unter andern Umständen. So entwi-
kelt sich in der Jlias der Charakter des Achilles durch
vielerley, würklich verschiedene Fälle; und so wußte
Richardson in der Clarisse und in dem Grandison,
jeden Charakter, auch jede Gesinnung völlig zu ent-
wikeln; und kann in diesem Theil der Kunst, als
das beste Muster das der Dichter zu studiren hat,
vorgeschlagen werden.

Die Entwiklung der Leidenschaften hat ihre beson-
dern Schwierigkeiten, wenn sie entweder einen et-
was ungewöhnlichen Gang nehmen, oder zu einer
ungewöhnlichen Größe steigen: in beyden Fällen ist
es schweer alles so zu veranstalten, daß nirgend et-
was unnatürliches oder gezwungenes mit unterlaufe.
Dazu gehört eine große Kenntnis des menschlichen
Herzens und eine gute Bekanntschaft mit vielerley
Charaktern der Menschen. Die seltsamesten Aeus-
serungen der Leidenschaften entstehen oft aus Kleinig-
keiten, ohne welche sie unbegreiflich seyn würden.
Als ein Muster einer sehr geschikten und guten Ent-
wiklung einer bis auf das äusserste gestiegenen Lei-
denschaft haben wir in Geßners Abel, wo der so gar
unnatürlich scheinende Haß des Cains auf eine mei-
sterhafte Art von dem Dichter entwikelt wird.

Man kann bey der Entwiklung eines Gegenstan-
des zweyerley Absichten haben; nämlich den Ein-
druk desselben zu schwächen, oder ihn zu verstärken.

Einige
(+) De his rebus tantis tamque atrocibus, neque satis
commode dicere, neque satis graviter conqueri, neque sa-
[Spaltenumbruch] tis libere vociferari posse intelligo; nam commoditati inge-
nium, gravitati aetas, libertati tempora sunt impedimente.

[Spaltenumbruch]

Ent
mit beiſſenden Gewuͤrzen zu rechte machen muͤſſen,
weil ſie ſonſt gar nichts davon ſchmeken.

Entwiklung.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Jſt eigentlich die Zergliederung oder Auslegung
des mannigfaltigen, das in einer Sache liegt, und
iſt von der Aufloͤſung unterſchieden. Dieſe macht
das Ungewiſſe gewiß, das Zweifelhafte beſtimmt;
ſtellt die Ordnung her, wo ſie nicht vorhanden ſchien;
jene laͤßt uns das, was wuͤrklich in einer Sache
liegt, erkennen, indem ſie uns eines nach dem an-
dern von den in ihr liegenden Dingen klar vor Au-
gen legt. Das Verworrene, oder das, was ſo
ſcheint, wird aufgeloͤſet, und das Zuſammengelegte
wird entwikelt. Ein Begriff wird entwikelt durch
die Erklaͤrung, ein Gedanken durch Zergliederung
deſſelben; aber weder der eine, noch der andre wird
aufgeloͤſet, es ſey denn, daß etwas raͤthſelhaftes
oder unbegreiflich ſcheinendes darin geweſen ſey.
Die Aufloͤſung gebiehrt Gewißheit und Richtigkeit;
die Entwiklung aber Deutlichkeit. Da nun dieſe
bey den ſchoͤnen Kuͤnſten verſchiedentlich in Betrach-
(*) S.
Deutlich-
keit.
tung kommt, (*) ſo iſt auch die Entwiklung in der
Theorie derſelben zu betrachten.

Sie iſt uͤberall noͤthig, wo die Gegenſtaͤnde nicht
anders, als durch eine voͤllige Deutlichkeit ihre Wuͤr-
kung thun koͤnnen. Der Redner muß die Haupt-
begriffe, auf denen ſeine Beweiſe beruhen, ent-
wikeln; die Gedanken, auf deren Deutlichkeit viel
ankommt; die Geſinnungen, die Charaktere, die
Handlungen muͤſſen uͤberall, wo ſie als Haupt-
gegenſtaͤnde, nicht aber blos zufaͤllig und im Vorbey-
gehen erſcheinen, gehoͤrig entwikelt werden.

Begriffe werden, wie ſchon angemerkt worden,
durch Erklaͤrungen entwikelt, auch wo dieſe feh-
len, oder ſonſt nicht noͤthig ſind, durch Zergliederung.
Wenn Virgil ſagt:

Obſtupui, ſteteruntque comæ, vox faucibus hæſit.

ſo druͤkt er im erſten Wort den Hauptbegriff des Ent-
ſetzens aus: was er aus der Zergliederung deſſelben
hinzuthut, gehoͤrt zur Entwiklung. Es verſteht ſich
von ſelbſt, daß nur die wichtigſten Begriffe, auf deren
Kraft viel ankommt, der Entwiklung noͤthig haben.

[Spaltenumbruch]
Ent

Gedanken werden ebenfalls durch Zergliederung
entwikelt; zum Beyſpiel davon kann folgendes die-
nen. Cicero wollte in ſeiner Rede (*) ſagen: ich(*) Pro
Roſcio A-
merino.

merke wol, daß ich uͤber eine ſo abſcheuliche Sache
nicht reden kann; was und wie ich wollte;
weil
dieſer Gedanken da wichtig war, ſo entwikelt er ihn
alſo: [Spaltenumbruch] (†) „Jch ſehe wol ein, daß ich von ſo wich-
tigen und dabey ſo abſcheulichen Dingen, weder ge-
ſchikt genug reden, noch ernſtlich genug klagen, noch
frey genug meine eyfernde Stimme dagegen erhe-
ben kann; zu dem erſten fehlt mir die Faͤhigkeit, zu
dem andern das Anſehen, welches das Alter giebt,
und der Freyheit ſtehen die Umſtaͤnde der Zeit im
Weg.‟ Geſinnungen und Charaktere werden ent-
wikelt, wenn die weſentlichſten Faͤlle, bey denen ſie
ſich aͤußern, und durch die man ihre voͤllige Natur
erkennen lernt, herbey gebracht werden; dieſe Faͤlle
muͤſſen aber wuͤrklich verſchieden ſeyn, nicht immer
derſelbe Fall unter andern Umſtaͤnden. So entwi-
kelt ſich in der Jlias der Charakter des Achilles durch
vielerley, wuͤrklich verſchiedene Faͤlle; und ſo wußte
Richardſon in der Clariſſe und in dem Grandiſon,
jeden Charakter, auch jede Geſinnung voͤllig zu ent-
wikeln; und kann in dieſem Theil der Kunſt, als
das beſte Muſter das der Dichter zu ſtudiren hat,
vorgeſchlagen werden.

Die Entwiklung der Leidenſchaften hat ihre beſon-
dern Schwierigkeiten, wenn ſie entweder einen et-
was ungewoͤhnlichen Gang nehmen, oder zu einer
ungewoͤhnlichen Groͤße ſteigen: in beyden Faͤllen iſt
es ſchweer alles ſo zu veranſtalten, daß nirgend et-
was unnatuͤrliches oder gezwungenes mit unterlaufe.
Dazu gehoͤrt eine große Kenntnis des menſchlichen
Herzens und eine gute Bekanntſchaft mit vielerley
Charaktern der Menſchen. Die ſeltſameſten Aeuſ-
ſerungen der Leidenſchaften entſtehen oft aus Kleinig-
keiten, ohne welche ſie unbegreiflich ſeyn wuͤrden.
Als ein Muſter einer ſehr geſchikten und guten Ent-
wiklung einer bis auf das aͤuſſerſte geſtiegenen Lei-
denſchaft haben wir in Geßners Abel, wo der ſo gar
unnatuͤrlich ſcheinende Haß des Cains auf eine mei-
ſterhafte Art von dem Dichter entwikelt wird.

Man kann bey der Entwiklung eines Gegenſtan-
des zweyerley Abſichten haben; naͤmlich den Ein-
druk deſſelben zu ſchwaͤchen, oder ihn zu verſtaͤrken.

Einige
(†) De his rebus tantis tamque atrocibus, neque ſatis
commode dicere, neque ſatis graviter conqueri, neque ſa-
[Spaltenumbruch] tis libere vociferari poſſe intelligo; nam commoditati inge-
nium, gravitati ætas, libertati tempora ſunt impedimente.
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[328/0340] Ent Ent mit beiſſenden Gewuͤrzen zu rechte machen muͤſſen, weil ſie ſonſt gar nichts davon ſchmeken. Entwiklung. (Schoͤne Kuͤnſte.) Jſt eigentlich die Zergliederung oder Auslegung des mannigfaltigen, das in einer Sache liegt, und iſt von der Aufloͤſung unterſchieden. Dieſe macht das Ungewiſſe gewiß, das Zweifelhafte beſtimmt; ſtellt die Ordnung her, wo ſie nicht vorhanden ſchien; jene laͤßt uns das, was wuͤrklich in einer Sache liegt, erkennen, indem ſie uns eines nach dem an- dern von den in ihr liegenden Dingen klar vor Au- gen legt. Das Verworrene, oder das, was ſo ſcheint, wird aufgeloͤſet, und das Zuſammengelegte wird entwikelt. Ein Begriff wird entwikelt durch die Erklaͤrung, ein Gedanken durch Zergliederung deſſelben; aber weder der eine, noch der andre wird aufgeloͤſet, es ſey denn, daß etwas raͤthſelhaftes oder unbegreiflich ſcheinendes darin geweſen ſey. Die Aufloͤſung gebiehrt Gewißheit und Richtigkeit; die Entwiklung aber Deutlichkeit. Da nun dieſe bey den ſchoͤnen Kuͤnſten verſchiedentlich in Betrach- tung kommt, (*) ſo iſt auch die Entwiklung in der Theorie derſelben zu betrachten. (*) S. Deutlich- keit. Sie iſt uͤberall noͤthig, wo die Gegenſtaͤnde nicht anders, als durch eine voͤllige Deutlichkeit ihre Wuͤr- kung thun koͤnnen. Der Redner muß die Haupt- begriffe, auf denen ſeine Beweiſe beruhen, ent- wikeln; die Gedanken, auf deren Deutlichkeit viel ankommt; die Geſinnungen, die Charaktere, die Handlungen muͤſſen uͤberall, wo ſie als Haupt- gegenſtaͤnde, nicht aber blos zufaͤllig und im Vorbey- gehen erſcheinen, gehoͤrig entwikelt werden. Begriffe werden, wie ſchon angemerkt worden, durch Erklaͤrungen entwikelt, auch wo dieſe feh- len, oder ſonſt nicht noͤthig ſind, durch Zergliederung. Wenn Virgil ſagt: Obſtupui, ſteteruntque comæ, vox faucibus hæſit. ſo druͤkt er im erſten Wort den Hauptbegriff des Ent- ſetzens aus: was er aus der Zergliederung deſſelben hinzuthut, gehoͤrt zur Entwiklung. Es verſteht ſich von ſelbſt, daß nur die wichtigſten Begriffe, auf deren Kraft viel ankommt, der Entwiklung noͤthig haben. Gedanken werden ebenfalls durch Zergliederung entwikelt; zum Beyſpiel davon kann folgendes die- nen. Cicero wollte in ſeiner Rede (*) ſagen: ich merke wol, daß ich uͤber eine ſo abſcheuliche Sache nicht reden kann; was und wie ich wollte; weil dieſer Gedanken da wichtig war, ſo entwikelt er ihn alſo: (†) „Jch ſehe wol ein, daß ich von ſo wich- tigen und dabey ſo abſcheulichen Dingen, weder ge- ſchikt genug reden, noch ernſtlich genug klagen, noch frey genug meine eyfernde Stimme dagegen erhe- ben kann; zu dem erſten fehlt mir die Faͤhigkeit, zu dem andern das Anſehen, welches das Alter giebt, und der Freyheit ſtehen die Umſtaͤnde der Zeit im Weg.‟ Geſinnungen und Charaktere werden ent- wikelt, wenn die weſentlichſten Faͤlle, bey denen ſie ſich aͤußern, und durch die man ihre voͤllige Natur erkennen lernt, herbey gebracht werden; dieſe Faͤlle muͤſſen aber wuͤrklich verſchieden ſeyn, nicht immer derſelbe Fall unter andern Umſtaͤnden. So entwi- kelt ſich in der Jlias der Charakter des Achilles durch vielerley, wuͤrklich verſchiedene Faͤlle; und ſo wußte Richardſon in der Clariſſe und in dem Grandiſon, jeden Charakter, auch jede Geſinnung voͤllig zu ent- wikeln; und kann in dieſem Theil der Kunſt, als das beſte Muſter das der Dichter zu ſtudiren hat, vorgeſchlagen werden. (*) Pro Roſcio A- merino. Die Entwiklung der Leidenſchaften hat ihre beſon- dern Schwierigkeiten, wenn ſie entweder einen et- was ungewoͤhnlichen Gang nehmen, oder zu einer ungewoͤhnlichen Groͤße ſteigen: in beyden Faͤllen iſt es ſchweer alles ſo zu veranſtalten, daß nirgend et- was unnatuͤrliches oder gezwungenes mit unterlaufe. Dazu gehoͤrt eine große Kenntnis des menſchlichen Herzens und eine gute Bekanntſchaft mit vielerley Charaktern der Menſchen. Die ſeltſameſten Aeuſ- ſerungen der Leidenſchaften entſtehen oft aus Kleinig- keiten, ohne welche ſie unbegreiflich ſeyn wuͤrden. Als ein Muſter einer ſehr geſchikten und guten Ent- wiklung einer bis auf das aͤuſſerſte geſtiegenen Lei- denſchaft haben wir in Geßners Abel, wo der ſo gar unnatuͤrlich ſcheinende Haß des Cains auf eine mei- ſterhafte Art von dem Dichter entwikelt wird. Man kann bey der Entwiklung eines Gegenſtan- des zweyerley Abſichten haben; naͤmlich den Ein- druk deſſelben zu ſchwaͤchen, oder ihn zu verſtaͤrken. Einige (†) De his rebus tantis tamque atrocibus, neque ſatis commode dicere, neque ſatis graviter conqueri, neque ſa- tis libere vociferari poſſe intelligo; nam commoditati inge- nium, gravitati ætas, libertati tempora ſunt impedimente.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 328. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/340>, abgerufen am 22.11.2024.