Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Ein lichkeit gegen andre geradezu, aber auf eine edleArt erkläret; der wird sowol die Natur der edlen Einfalt überhaupt, als ihren unendlichen Werth über das gekünstelte und überladene lebhaft em- pfinden. Wer bey einem richtigen und geübten Verstand Jn den neuern Zeiten hat das willkührliche und Ein allem Glanz der Farben und allem Witz und falscherLebhaftigkeit in den Gesichtszügen und Stellungen der Personen, die Geschichte selbst nicht sehen, die das Gemählde vorstellen soll. Jn der edlen Einfalt besteht die wahre Vollkom- Es muß aber einem heutigen Virtuosen sehr viel ihrer
[Spaltenumbruch] Ein lichkeit gegen andre geradezu, aber auf eine edleArt erklaͤret; der wird ſowol die Natur der edlen Einfalt uͤberhaupt, als ihren unendlichen Werth uͤber das gekuͤnſtelte und uͤberladene lebhaft em- pfinden. Wer bey einem richtigen und geuͤbten Verſtand Jn den neuern Zeiten hat das willkuͤhrliche und Ein allem Glanz der Farben und allem Witz und falſcherLebhaftigkeit in den Geſichtszuͤgen und Stellungen der Perſonen, die Geſchichte ſelbſt nicht ſehen, die das Gemaͤhlde vorſtellen ſoll. Jn der edlen Einfalt beſteht die wahre Vollkom- Es muß aber einem heutigen Virtuoſen ſehr viel ihrer
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0308" n="296"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ein</hi></fw><lb/> lichkeit gegen andre geradezu, aber auf eine edle<lb/> Art erklaͤret; der wird ſowol die Natur der edlen<lb/> Einfalt uͤberhaupt, als ihren unendlichen Werth<lb/> uͤber das gekuͤnſtelte und uͤberladene lebhaft em-<lb/> pfinden.</p><lb/> <p>Wer bey einem richtigen und geuͤbten Verſtand<lb/> der Natur treu geblieben iſt, der wird ſo wol in ſei-<lb/> nem Betragen, als in ſeinen Reden und Werken,<lb/> dieſe edle Einfalt zeigen. Dies iſt der allgemeine<lb/> Charakter der aͤlteſten griechiſchen und roͤmiſchen<lb/> Schriftſteller und Kuͤnſtler, wodurch ſie ſich vor-<lb/> nehmlich von den neuern unterſcheiden. Ein ge-<lb/> wiſſer Beweis, daß die edle Einfalt eine Wuͤrkung<lb/> der unverdorbenen Natur ſey. Erſt zu der Zeit, da<lb/> in Athen und Rom durch den Verluſt der natuͤrlichen<lb/> Freyheit, unnatuͤrliche Mittel den Großen und den<lb/> Regenten zu gefallen nothwendig wurden, kam eine<lb/> gezwungene Art zu denken auf, die ſich nach und<lb/> nach aus der Lebensart in die Werke der Kunſt<lb/> einmiſchte.</p><lb/> <p>Jn den neuern Zeiten hat das willkuͤhrliche und<lb/> gezwungene die Natur ſo ſehr verdraͤngt, daß die<lb/> Geſichtszuͤge, die Leibesſtellungen, die Gebehrden,<lb/> die Reden, das ganze Betragen eines Menſchen,<lb/> nach willkuͤhrlichen oder doch weithergeſuchten Re-<lb/> geln der Kunſt muͤſſen abgepaßt werden. Aus dieſer<lb/> Urſach iſt auch die edle Einfalt in den Werken der<lb/> Kunſt ſo ſelten, als das Erhabene. Und weil die<lb/> mit Muͤhe erlernte Kunſt beynahe ſchon zur andern<lb/> Natur geworden iſt, ſo iſt ſo gar bey vielen Men-<lb/> ſchen das natuͤrliche Wolgefallen an der edlen Ein-<lb/> falt erloſchen. Man vermißt die Einfalt in den Ge-<lb/> baͤuden, in den Werken der bildenden Kuͤnſte, in<lb/> den Gemaͤhlden, in der Beredſamkeit, Dichtkunſt<lb/> und Muſik. Das weitlaͤuftige, uͤberfluͤßige und<lb/> willkuͤhrliche hat ſo wol in den Sitten, als in den<lb/> Werken der Kunſt ſo ſehr uͤberhand genommen, daß<lb/> man gar oft Muͤhe hat, das wenige natuͤrliche darin<lb/> zu erkennen. Wie viel, ſowol ganze Gebaͤude, als<lb/> einzele Zimmer, ſieht man nicht, wo unnuͤtze oder<lb/> gar widernatuͤrliche Zierrathen die Augen ſo ſehr<lb/> auf ſich ziehen, daß man vergißt auf das Weſent-<lb/> liche zu ſehen. So ſucht mancher Dichter, durch<lb/> kleine Zierrathen der Harmonie und witzige Bilder<lb/> ſein Lied mit ſo viel Glanz zu uͤberſtreuen, daß man<lb/> daruͤber den Hauptinhalt deſſelben vergißt, ſo wie<lb/> man uͤber einer uͤppig reichen Kleidung vergißt, daß<lb/> ein Menſch darunter ſtekt. Man kann ofte fuͤr<lb/><cb/> <fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Ein</hi></fw><lb/> allem Glanz der Farben und allem Witz und falſcher<lb/> Lebhaftigkeit in den Geſichtszuͤgen und Stellungen<lb/> der Perſonen, die Geſchichte ſelbſt nicht ſehen, die<lb/> das Gemaͤhlde vorſtellen ſoll.</p><lb/> <p>Jn der edlen Einfalt beſteht die wahre Vollkom-<lb/> menheit eines jeden Werks der Kunſt. Jedes ſoll<lb/> etwas vorſtellen, das iſt, in der Einbildungskraft<lb/> oder dem Herzen der Menſchen einen gewiſſen be-<lb/> ſtimmten Eindruk machen. Alles was dieſen Ein-<lb/> druk nicht befoͤrdert, iſt der Abſicht der Kunſt ent-<lb/> gegen; was aber ihn gar hindert, iſt ein Zeichen<lb/> des Unſinnes in dem Kunſtler. Es iſt ihm deswe-<lb/> gen keine Sache ernſtlicher anzupreiſen, als die Be-<lb/> ſtrebung nach der edlen Einfalt. Koͤnnten wir in<lb/> unſern Kuͤnſten die Einfalt der Natur wieder erhal-<lb/> ten, ſo wuͤrde ſie ſich gewiß von da auch wie-<lb/> der uͤber die Sitten ausbreiten. Ohne Zweifel ha-<lb/> ben die von der edlen Einfalt abgewichenen Kuͤnſtler<lb/> zu dem verdorbenen Geſchmak in dem Leben des<lb/> Menſchen das ihrige beygetragen. Die Tanzmeiſter<lb/> haben viel ſteiffe und unnatuͤrliche Leibesſtellungen<lb/> aufgebracht. Verſchiedene ſehr abgeſchmakte Zierun-<lb/> gen, und das gezwungene Spiel der Haͤnde, der Au-<lb/> gen und des Mundes, haben einige Perſonen des<lb/> ſchoͤnen Geſchlechts von den Schauſpielerinen ge-<lb/> lernt. Die abgeſchmakte Art der Auszierungen der<lb/> Zimmer, der Hausgeraͤthe, hat man den Zeichnern<lb/> und Baumeiſtern zu danken; und die ekelhafte Rafi-<lb/> nirung im Ausdruk der Empfindungen und ſo viel<lb/> gezwungenes und verſtiegenes in dem Ausdruk der<lb/> Rede, haben einige Dichter aufgebracht. Dieſes<lb/> mannigfaltige Verderben in der Lebensart und den<lb/> Sitten koͤnnen Kuͤnſtler von reinem Geſchmak wie-<lb/> der hemmen, und auch das verlohrne Gute wiederher-<lb/> ſtellen. Die Mahler und Bildhauer koͤnnen die Be-<lb/> griffe von der urſpruͤnglichen Schoͤnheit der menſch-<lb/> lichen Geſtalt wieder aufweken. Die Taͤnzer und<lb/> Schauſpieler koͤnnen das wahrhaftig Schoͤne und<lb/> Edle in den Minen, Manieren, Gebehrden und Be-<lb/> wegungen einpflanzen. Die Dichter koͤnnen die<lb/> Sitten, die Handlungen, die Charaktere, die Tugen-<lb/> den, alles Liebenswuͤrdige der einfachen Natur de-<lb/> nen kennen lehren, die ſie in der menſchlichen Ge-<lb/> ſellſchaft nicht mehr antreffen.</p><lb/> <p>Es muß aber einem heutigen Virtuoſen ſehr viel<lb/> ſchweerer werden, der edlen Einfalt der Natur zu<lb/> folgen, als es den Alten geworden iſt. Dieſe durf-<lb/> ten ſich nicht erſt aus dem verdorbenen Geſchmak<lb/> <fw place="bottom" type="catch">ihrer</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [296/0308]
Ein
Ein
lichkeit gegen andre geradezu, aber auf eine edle
Art erklaͤret; der wird ſowol die Natur der edlen
Einfalt uͤberhaupt, als ihren unendlichen Werth
uͤber das gekuͤnſtelte und uͤberladene lebhaft em-
pfinden.
Wer bey einem richtigen und geuͤbten Verſtand
der Natur treu geblieben iſt, der wird ſo wol in ſei-
nem Betragen, als in ſeinen Reden und Werken,
dieſe edle Einfalt zeigen. Dies iſt der allgemeine
Charakter der aͤlteſten griechiſchen und roͤmiſchen
Schriftſteller und Kuͤnſtler, wodurch ſie ſich vor-
nehmlich von den neuern unterſcheiden. Ein ge-
wiſſer Beweis, daß die edle Einfalt eine Wuͤrkung
der unverdorbenen Natur ſey. Erſt zu der Zeit, da
in Athen und Rom durch den Verluſt der natuͤrlichen
Freyheit, unnatuͤrliche Mittel den Großen und den
Regenten zu gefallen nothwendig wurden, kam eine
gezwungene Art zu denken auf, die ſich nach und
nach aus der Lebensart in die Werke der Kunſt
einmiſchte.
Jn den neuern Zeiten hat das willkuͤhrliche und
gezwungene die Natur ſo ſehr verdraͤngt, daß die
Geſichtszuͤge, die Leibesſtellungen, die Gebehrden,
die Reden, das ganze Betragen eines Menſchen,
nach willkuͤhrlichen oder doch weithergeſuchten Re-
geln der Kunſt muͤſſen abgepaßt werden. Aus dieſer
Urſach iſt auch die edle Einfalt in den Werken der
Kunſt ſo ſelten, als das Erhabene. Und weil die
mit Muͤhe erlernte Kunſt beynahe ſchon zur andern
Natur geworden iſt, ſo iſt ſo gar bey vielen Men-
ſchen das natuͤrliche Wolgefallen an der edlen Ein-
falt erloſchen. Man vermißt die Einfalt in den Ge-
baͤuden, in den Werken der bildenden Kuͤnſte, in
den Gemaͤhlden, in der Beredſamkeit, Dichtkunſt
und Muſik. Das weitlaͤuftige, uͤberfluͤßige und
willkuͤhrliche hat ſo wol in den Sitten, als in den
Werken der Kunſt ſo ſehr uͤberhand genommen, daß
man gar oft Muͤhe hat, das wenige natuͤrliche darin
zu erkennen. Wie viel, ſowol ganze Gebaͤude, als
einzele Zimmer, ſieht man nicht, wo unnuͤtze oder
gar widernatuͤrliche Zierrathen die Augen ſo ſehr
auf ſich ziehen, daß man vergißt auf das Weſent-
liche zu ſehen. So ſucht mancher Dichter, durch
kleine Zierrathen der Harmonie und witzige Bilder
ſein Lied mit ſo viel Glanz zu uͤberſtreuen, daß man
daruͤber den Hauptinhalt deſſelben vergißt, ſo wie
man uͤber einer uͤppig reichen Kleidung vergißt, daß
ein Menſch darunter ſtekt. Man kann ofte fuͤr
allem Glanz der Farben und allem Witz und falſcher
Lebhaftigkeit in den Geſichtszuͤgen und Stellungen
der Perſonen, die Geſchichte ſelbſt nicht ſehen, die
das Gemaͤhlde vorſtellen ſoll.
Jn der edlen Einfalt beſteht die wahre Vollkom-
menheit eines jeden Werks der Kunſt. Jedes ſoll
etwas vorſtellen, das iſt, in der Einbildungskraft
oder dem Herzen der Menſchen einen gewiſſen be-
ſtimmten Eindruk machen. Alles was dieſen Ein-
druk nicht befoͤrdert, iſt der Abſicht der Kunſt ent-
gegen; was aber ihn gar hindert, iſt ein Zeichen
des Unſinnes in dem Kunſtler. Es iſt ihm deswe-
gen keine Sache ernſtlicher anzupreiſen, als die Be-
ſtrebung nach der edlen Einfalt. Koͤnnten wir in
unſern Kuͤnſten die Einfalt der Natur wieder erhal-
ten, ſo wuͤrde ſie ſich gewiß von da auch wie-
der uͤber die Sitten ausbreiten. Ohne Zweifel ha-
ben die von der edlen Einfalt abgewichenen Kuͤnſtler
zu dem verdorbenen Geſchmak in dem Leben des
Menſchen das ihrige beygetragen. Die Tanzmeiſter
haben viel ſteiffe und unnatuͤrliche Leibesſtellungen
aufgebracht. Verſchiedene ſehr abgeſchmakte Zierun-
gen, und das gezwungene Spiel der Haͤnde, der Au-
gen und des Mundes, haben einige Perſonen des
ſchoͤnen Geſchlechts von den Schauſpielerinen ge-
lernt. Die abgeſchmakte Art der Auszierungen der
Zimmer, der Hausgeraͤthe, hat man den Zeichnern
und Baumeiſtern zu danken; und die ekelhafte Rafi-
nirung im Ausdruk der Empfindungen und ſo viel
gezwungenes und verſtiegenes in dem Ausdruk der
Rede, haben einige Dichter aufgebracht. Dieſes
mannigfaltige Verderben in der Lebensart und den
Sitten koͤnnen Kuͤnſtler von reinem Geſchmak wie-
der hemmen, und auch das verlohrne Gute wiederher-
ſtellen. Die Mahler und Bildhauer koͤnnen die Be-
griffe von der urſpruͤnglichen Schoͤnheit der menſch-
lichen Geſtalt wieder aufweken. Die Taͤnzer und
Schauſpieler koͤnnen das wahrhaftig Schoͤne und
Edle in den Minen, Manieren, Gebehrden und Be-
wegungen einpflanzen. Die Dichter koͤnnen die
Sitten, die Handlungen, die Charaktere, die Tugen-
den, alles Liebenswuͤrdige der einfachen Natur de-
nen kennen lehren, die ſie in der menſchlichen Ge-
ſellſchaft nicht mehr antreffen.
Es muß aber einem heutigen Virtuoſen ſehr viel
ſchweerer werden, der edlen Einfalt der Natur zu
folgen, als es den Alten geworden iſt. Dieſe durf-
ten ſich nicht erſt aus dem verdorbenen Geſchmak
ihrer
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |