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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ein
müther der Menschen erwerben helfen. Die Ein-
bildungskraft erschafft nichts neues, sie bringt nur
das, was unsere Sinnen gerührt hat, wieder heran.
Also muß sie durch Erfahrung bereichert werden.
Der Künstler muß die Gegenstände seiner Kunst zu-
erst in der Natur gesehen oder empfunden haben,
damit sie ihm hernach, wenn er sie gebraucht, wieder
gegenwärtig seyen, damit ihre Menge und Man-
nigfaltigkeit ihm entweder eine gute Wahl verstat-
ten, oder seiner Dichtungskraft Gelegenheit geben,
desto glüklicher neue zu erfinden. Also muß er un-
aufhörlich seine Sinnen für jeden Gegenstand offen
halten, daß ihm nichts entgehe; er muß den man-
nigfaltigen Scenen der Natur und des sittlichen Le-
bens der Menschen überall nachgehen, sie in meh-
rern Ländern und unter mehrern Völkern aufsu-
chen; aber ein scharfer Beobachtungsgeist muß ihn
(*) Junius
de Pictura
Vetr. L. I.
c.
2.
überall begleiten. Was ein guter Kenner (*) dem
Mahler anräth, kann jedem Künstler zur Lehre die-
nen; er soll dem Philopömen nachahmen, der auf
allen Reisen, auch mitten im Frieden, jede Gegend
die ihm fürs Gesicht kam, mit dem Aug eines Heer-
führers betrachtete; hier stekte er in Gedanken ein
Lager ab; da stellte er seine Posten zur Sicherheit
aus; hier rükte er gegen den Feind an; durch die-
sen Weg nahm er einen verdekten Marsch vor;
durch dergleichen Betrachtungen bereicherte er seine
Einbildungskraft mit allem, was ein Heerführer
zur Beurtheilung der guten und schlechten Lage der
Oerter nöthig hat. So hat Homer durch Reisen,
durch Beobachtung der Menschen, der Sitten, der
Künste, der Beschäftigungen im öffentlichen und im
Privatleben, seine Einbildungskraft dergestalt ange-
füllt, daß sie unerschöpflich an jeder Art der Gegen-
stände geworden. So muß der Mahler sein Aug,
der Tonkünstler sein Ohr, aber der Dichter jeden
Sinn unaufhörlich gespannt halten, damit seiner
Beobachtung von allen ihm dienenden Gegenstän-
den nichts entgehe. Es würde überaus nützlich seyn,
wenn jemand mit hinlänglicher Kenntnis der Sa-
chen jungen Künstlern zugefallen, ein Werk schriebe,
wodurch sie alle Mittel ihre Phantaste zu bereichern,
(*) Von
den poeti-
schen Ge-
mählden
im 1 Cap.
könnten kennen lernen. Einen Versuch hierüber hat
Bodmer gemacht, (*) und der Mahler wird in dem
fürtreflichen Werk des Leonhard Vinci viel dahin
dienendes antreffen. (*)

(*) Traitte
de la pein-
ture.

Einer lebhaften und mit hinlänglichem Reich-
thum angefüllten Einbildungskraft, die Geschmak
[Spaltenumbruch]

Ein
und Beurtheilung zur Begleitung hat, fehlt denn, um
die glänzendsten Werke hervorzubringen, nichts weiter,
als daß sie zu rechter Zeit gehörig erwärmet werde,
und nach Beschaffenheit der Sache eine stärkere oder
gemäßigtere Begeisterung in der Seele des Dichters
hervorbringe. Wir haben aber an einem andern
Orte, so wol die Entstehung, als die wunderbaren
Würkungen dieser erhöhten Wärme der Einbildungs-
kraft in nähere Betrachtung gezogen, und das was
über die Begeisterung gesagt worden, ist als eine
Fortsetzung des gegenwärtigen Artikels anzusehen.

Einfalt.
(Schöne Künste.)

Die Einfalt ist im allgemeinesten Verstand der
Mangel der Theile, oder die Unzertrennlichkeit eines
Dinges. Jn Gegenständen des Geschmaks drükt
man durch dieses Wort den Mangel oder die Abwe-
senheit aller Zufälligen, durch Kunst hereingebrach-
ten Umständen aus. Man schreibt einer Sache eine
edle Einfalt zu, entweder wenn die Würkung die
sie thun soll, durch wenige Umstände erhalten wird,
oder auch, wenn sie nur durch das Wesentliche, so in
ihr ist, gefällt, und alle zufällige Verschönerungen
wegbleiben. So schreibet man einer körperlichen
Form oder Figur eine edle Einfalt zu, wenn sie,
wie die meisten antiken Vasen oder Krüge blos
durch ihre Gestalt und sanfte Umrisse angenehm in
die Augen fallen, ohne daß sie durch ausgeschweiffte
Zierathen, durch kühn geschlungene Handgriffe oder
daran gesetztes Schnizwerk einen mehrern Grad der
Mannigfaltigkeit haben. Jn einem Gebäude be-
merkt man die edle Einfalt, wenn die ganze Masse
desselben eine einzige, untheilbare, wol in die Augen
fallende Figur vorstellt, an welcher ausser den we-
sentlichen Theilen keine zufällige Zierathen angebracht
sind. Von dieser Art ist das Pantheum oder die so-
genannte Rotonda in Rom. Jn einer Rede herrscht
eine edle Einfalt, wenn mit Weglassung aller zu-
fälligen Verschönerungen nur die dem Zwek des
Redners wesentlichen Vorstellungen kräftig und wol
vorgetragen werden. Jn den Sitten und in dem
Betragen eines Menschen herrscht edle Einfalt, wenn
er in allen Umständen nach einem wahren und rich-
tigen Gefühl ohne Umschweiffe den geradesten Weg
so handelt, wie die Natur der Sache es mit sich
bringt. Jn einem ganzen System herrscht Einfalt,
wenn alles darin nach einem einzigen Grundsatz ge-

schieht

[Spaltenumbruch]

Ein
muͤther der Menſchen erwerben helfen. Die Ein-
bildungskraft erſchafft nichts neues, ſie bringt nur
das, was unſere Sinnen geruͤhrt hat, wieder heran.
Alſo muß ſie durch Erfahrung bereichert werden.
Der Kuͤnſtler muß die Gegenſtaͤnde ſeiner Kunſt zu-
erſt in der Natur geſehen oder empfunden haben,
damit ſie ihm hernach, wenn er ſie gebraucht, wieder
gegenwaͤrtig ſeyen, damit ihre Menge und Man-
nigfaltigkeit ihm entweder eine gute Wahl verſtat-
ten, oder ſeiner Dichtungskraft Gelegenheit geben,
deſto gluͤklicher neue zu erfinden. Alſo muß er un-
aufhoͤrlich ſeine Sinnen fuͤr jeden Gegenſtand offen
halten, daß ihm nichts entgehe; er muß den man-
nigfaltigen Scenen der Natur und des ſittlichen Le-
bens der Menſchen uͤberall nachgehen, ſie in meh-
rern Laͤndern und unter mehrern Voͤlkern aufſu-
chen; aber ein ſcharfer Beobachtungsgeiſt muß ihn
(*) Junius
de Pictura
Vetr. L. I.
c.
2.
uͤberall begleiten. Was ein guter Kenner (*) dem
Mahler anraͤth, kann jedem Kuͤnſtler zur Lehre die-
nen; er ſoll dem Philopoͤmen nachahmen, der auf
allen Reiſen, auch mitten im Frieden, jede Gegend
die ihm fuͤrs Geſicht kam, mit dem Aug eines Heer-
fuͤhrers betrachtete; hier ſtekte er in Gedanken ein
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aus; hier ruͤkte er gegen den Feind an; durch die-
ſen Weg nahm er einen verdekten Marſch vor;
durch dergleichen Betrachtungen bereicherte er ſeine
Einbildungskraft mit allem, was ein Heerfuͤhrer
zur Beurtheilung der guten und ſchlechten Lage der
Oerter noͤthig hat. So hat Homer durch Reiſen,
durch Beobachtung der Menſchen, der Sitten, der
Kuͤnſte, der Beſchaͤftigungen im oͤffentlichen und im
Privatleben, ſeine Einbildungskraft dergeſtalt ange-
fuͤllt, daß ſie unerſchoͤpflich an jeder Art der Gegen-
ſtaͤnde geworden. So muß der Mahler ſein Aug,
der Tonkuͤnſtler ſein Ohr, aber der Dichter jeden
Sinn unaufhoͤrlich geſpannt halten, damit ſeiner
Beobachtung von allen ihm dienenden Gegenſtaͤn-
den nichts entgehe. Es wuͤrde uͤberaus nuͤtzlich ſeyn,
wenn jemand mit hinlaͤnglicher Kenntnis der Sa-
chen jungen Kuͤnſtlern zugefallen, ein Werk ſchriebe,
wodurch ſie alle Mittel ihre Phantaſte zu bereichern,
(*) Von
den poeti-
ſchen Ge-
maͤhlden
im 1 Cap.
koͤnnten kennen lernen. Einen Verſuch hieruͤber hat
Bodmer gemacht, (*) und der Mahler wird in dem
fuͤrtreflichen Werk des Leonhard Vinci viel dahin
dienendes antreffen. (*)

(*) Traitté
de la pein-
ture.

Einer lebhaften und mit hinlaͤnglichem Reich-
thum angefuͤllten Einbildungskraft, die Geſchmak
[Spaltenumbruch]

Ein
und Beurtheilung zur Begleitung hat, fehlt denn, um
die glaͤnzendſten Werke hervorzubringen, nichts weiter,
als daß ſie zu rechter Zeit gehoͤrig erwaͤrmet werde,
und nach Beſchaffenheit der Sache eine ſtaͤrkere oder
gemaͤßigtere Begeiſterung in der Seele des Dichters
hervorbringe. Wir haben aber an einem andern
Orte, ſo wol die Entſtehung, als die wunderbaren
Wuͤrkungen dieſer erhoͤhten Waͤrme der Einbildungs-
kraft in naͤhere Betrachtung gezogen, und das was
uͤber die Begeiſterung geſagt worden, iſt als eine
Fortſetzung des gegenwaͤrtigen Artikels anzuſehen.

Einfalt.
(Schoͤne Kuͤnſte.)

Die Einfalt iſt im allgemeineſten Verſtand der
Mangel der Theile, oder die Unzertrennlichkeit eines
Dinges. Jn Gegenſtaͤnden des Geſchmaks druͤkt
man durch dieſes Wort den Mangel oder die Abwe-
ſenheit aller Zufaͤlligen, durch Kunſt hereingebrach-
ten Umſtaͤnden aus. Man ſchreibt einer Sache eine
edle Einfalt zu, entweder wenn die Wuͤrkung die
ſie thun ſoll, durch wenige Umſtaͤnde erhalten wird,
oder auch, wenn ſie nur durch das Weſentliche, ſo in
ihr iſt, gefaͤllt, und alle zufaͤllige Verſchoͤnerungen
wegbleiben. So ſchreibet man einer koͤrperlichen
Form oder Figur eine edle Einfalt zu, wenn ſie,
wie die meiſten antiken Vaſen oder Kruͤge blos
durch ihre Geſtalt und ſanfte Umriſſe angenehm in
die Augen fallen, ohne daß ſie durch ausgeſchweiffte
Zierathen, durch kuͤhn geſchlungene Handgriffe oder
daran geſetztes Schnizwerk einen mehrern Grad der
Mannigfaltigkeit haben. Jn einem Gebaͤude be-
merkt man die edle Einfalt, wenn die ganze Maſſe
deſſelben eine einzige, untheilbare, wol in die Augen
fallende Figur vorſtellt, an welcher auſſer den we-
ſentlichen Theilen keine zufaͤllige Zierathen angebracht
ſind. Von dieſer Art iſt das Pantheum oder die ſo-
genannte Rotonda in Rom. Jn einer Rede herrſcht
eine edle Einfalt, wenn mit Weglaſſung aller zu-
faͤlligen Verſchoͤnerungen nur die dem Zwek des
Redners weſentlichen Vorſtellungen kraͤftig und wol
vorgetragen werden. Jn den Sitten und in dem
Betragen eines Menſchen herrſcht edle Einfalt, wenn
er in allen Umſtaͤnden nach einem wahren und rich-
tigen Gefuͤhl ohne Umſchweiffe den geradeſten Weg
ſo handelt, wie die Natur der Sache es mit ſich
bringt. Jn einem ganzen Syſtem herrſcht Einfalt,
wenn alles darin nach einem einzigen Grundſatz ge-

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[294/0306] Ein Ein muͤther der Menſchen erwerben helfen. Die Ein- bildungskraft erſchafft nichts neues, ſie bringt nur das, was unſere Sinnen geruͤhrt hat, wieder heran. Alſo muß ſie durch Erfahrung bereichert werden. Der Kuͤnſtler muß die Gegenſtaͤnde ſeiner Kunſt zu- erſt in der Natur geſehen oder empfunden haben, damit ſie ihm hernach, wenn er ſie gebraucht, wieder gegenwaͤrtig ſeyen, damit ihre Menge und Man- nigfaltigkeit ihm entweder eine gute Wahl verſtat- ten, oder ſeiner Dichtungskraft Gelegenheit geben, deſto gluͤklicher neue zu erfinden. Alſo muß er un- aufhoͤrlich ſeine Sinnen fuͤr jeden Gegenſtand offen halten, daß ihm nichts entgehe; er muß den man- nigfaltigen Scenen der Natur und des ſittlichen Le- bens der Menſchen uͤberall nachgehen, ſie in meh- rern Laͤndern und unter mehrern Voͤlkern aufſu- chen; aber ein ſcharfer Beobachtungsgeiſt muß ihn uͤberall begleiten. Was ein guter Kenner (*) dem Mahler anraͤth, kann jedem Kuͤnſtler zur Lehre die- nen; er ſoll dem Philopoͤmen nachahmen, der auf allen Reiſen, auch mitten im Frieden, jede Gegend die ihm fuͤrs Geſicht kam, mit dem Aug eines Heer- fuͤhrers betrachtete; hier ſtekte er in Gedanken ein Lager ab; da ſtellte er ſeine Poſten zur Sicherheit aus; hier ruͤkte er gegen den Feind an; durch die- ſen Weg nahm er einen verdekten Marſch vor; durch dergleichen Betrachtungen bereicherte er ſeine Einbildungskraft mit allem, was ein Heerfuͤhrer zur Beurtheilung der guten und ſchlechten Lage der Oerter noͤthig hat. So hat Homer durch Reiſen, durch Beobachtung der Menſchen, der Sitten, der Kuͤnſte, der Beſchaͤftigungen im oͤffentlichen und im Privatleben, ſeine Einbildungskraft dergeſtalt ange- fuͤllt, daß ſie unerſchoͤpflich an jeder Art der Gegen- ſtaͤnde geworden. So muß der Mahler ſein Aug, der Tonkuͤnſtler ſein Ohr, aber der Dichter jeden Sinn unaufhoͤrlich geſpannt halten, damit ſeiner Beobachtung von allen ihm dienenden Gegenſtaͤn- den nichts entgehe. Es wuͤrde uͤberaus nuͤtzlich ſeyn, wenn jemand mit hinlaͤnglicher Kenntnis der Sa- chen jungen Kuͤnſtlern zugefallen, ein Werk ſchriebe, wodurch ſie alle Mittel ihre Phantaſte zu bereichern, koͤnnten kennen lernen. Einen Verſuch hieruͤber hat Bodmer gemacht, (*) und der Mahler wird in dem fuͤrtreflichen Werk des Leonhard Vinci viel dahin dienendes antreffen. (*) (*) Junius de Pictura Vetr. L. I. c. 2. (*) Von den poeti- ſchen Ge- maͤhlden im 1 Cap. Einer lebhaften und mit hinlaͤnglichem Reich- thum angefuͤllten Einbildungskraft, die Geſchmak und Beurtheilung zur Begleitung hat, fehlt denn, um die glaͤnzendſten Werke hervorzubringen, nichts weiter, als daß ſie zu rechter Zeit gehoͤrig erwaͤrmet werde, und nach Beſchaffenheit der Sache eine ſtaͤrkere oder gemaͤßigtere Begeiſterung in der Seele des Dichters hervorbringe. Wir haben aber an einem andern Orte, ſo wol die Entſtehung, als die wunderbaren Wuͤrkungen dieſer erhoͤhten Waͤrme der Einbildungs- kraft in naͤhere Betrachtung gezogen, und das was uͤber die Begeiſterung geſagt worden, iſt als eine Fortſetzung des gegenwaͤrtigen Artikels anzuſehen. Einfalt. (Schoͤne Kuͤnſte.) Die Einfalt iſt im allgemeineſten Verſtand der Mangel der Theile, oder die Unzertrennlichkeit eines Dinges. Jn Gegenſtaͤnden des Geſchmaks druͤkt man durch dieſes Wort den Mangel oder die Abwe- ſenheit aller Zufaͤlligen, durch Kunſt hereingebrach- ten Umſtaͤnden aus. Man ſchreibt einer Sache eine edle Einfalt zu, entweder wenn die Wuͤrkung die ſie thun ſoll, durch wenige Umſtaͤnde erhalten wird, oder auch, wenn ſie nur durch das Weſentliche, ſo in ihr iſt, gefaͤllt, und alle zufaͤllige Verſchoͤnerungen wegbleiben. So ſchreibet man einer koͤrperlichen Form oder Figur eine edle Einfalt zu, wenn ſie, wie die meiſten antiken Vaſen oder Kruͤge blos durch ihre Geſtalt und ſanfte Umriſſe angenehm in die Augen fallen, ohne daß ſie durch ausgeſchweiffte Zierathen, durch kuͤhn geſchlungene Handgriffe oder daran geſetztes Schnizwerk einen mehrern Grad der Mannigfaltigkeit haben. Jn einem Gebaͤude be- merkt man die edle Einfalt, wenn die ganze Maſſe deſſelben eine einzige, untheilbare, wol in die Augen fallende Figur vorſtellt, an welcher auſſer den we- ſentlichen Theilen keine zufaͤllige Zierathen angebracht ſind. Von dieſer Art iſt das Pantheum oder die ſo- genannte Rotonda in Rom. Jn einer Rede herrſcht eine edle Einfalt, wenn mit Weglaſſung aller zu- faͤlligen Verſchoͤnerungen nur die dem Zwek des Redners weſentlichen Vorſtellungen kraͤftig und wol vorgetragen werden. Jn den Sitten und in dem Betragen eines Menſchen herrſcht edle Einfalt, wenn er in allen Umſtaͤnden nach einem wahren und rich- tigen Gefuͤhl ohne Umſchweiffe den geradeſten Weg ſo handelt, wie die Natur der Sache es mit ſich bringt. Jn einem ganzen Syſtem herrſcht Einfalt, wenn alles darin nach einem einzigen Grundſatz ge- ſchieht

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 294. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/306>, abgerufen am 22.11.2024.