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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Due
müssen, daß sie eine völlige Reinigkeit und Vollstän-
digkeit der Harmonie haben, wenn alle begleitende
Stimmen weggelassen werden.

Man hat zwey Arten des Duets, die merklich
von einander unterschieden sind. Die eine Art be-
steht blos aus zwey Hauptstimmen, ohne alle Be-
gleitung; diese nennen die Tonlehrer insgemein Bi-
cinia:
die andre Art hat zwar auch nur zwey Haupt-
stimmen, aber diese haben eine oder mehrere Stim-
men zur Begleitung, so daß der Satz bisweilen vier,
fünf und mehrstimmig darin vorkommt. Von die-
ser Art sind die Duette in der Oper, wo ausser ei-
nem begleitenden Basse noch verschiedene Mittelstim-
men zur Begleitung vorkommen.

Die erste Art kann entweder für einerley, oder
für verschiedene Stimmen und Jnstrumente verfer-
tiget werden, als für zwey Discantstimmen, für
zwey Violine, für zwey Flöten u. s. f. oder für eine
Discant- und eine Tenorstimme, für eine Flöte und
eine Violin u. s. w. Nur muß bey der Verschie-
denheit der Stimmen oder Jnstrumente dieses in
acht genommen werden, daß sie in Ansehung der
Höhe nicht zu weit auseinander seyn, als wie z. B.
eine Baßstimme und eine Discantstimme seyn wür-
den; denn dadurch würde die Harmonie zu sehr zer-
streut werden, die Stimmen würden zu sehr gegen
einander abstechen, und eine würde die andre ver-
dunkeln. Diese Art erfodert einen überaus reinen
und dabey Harmoniereichen Satz, der so beschaffen
seyn muß, daß ohne Zwang nicht einmal eine dritte
begleitende Stimme dazu könnte angebracht werden.
Wenn der Satz in seiner höchsten Vollkommenheit
dabey beobachtet worden, so muß das Gehör durchaus
so befriediget werden, daß ihm nirgend weder ein
dritter Ton, noch ein Fundament zur Unterstützung
der obern Stimmen, dabey einfallen könnte. Der-
gleichen Tonstüke sind also nur den geübtesten Ton-
setzern zu überlassen, die alle Geheimnisse der rei-
nen Harmonie völlig besitzen.

Die andre Art ist die, welche überall aus den
Opern bekannt ist. Zwey Sänger singen bald
wechselsweise einer nach dem andern, bald beyde
zugleich, ähnliche Melodien, welche von einem be-
ständigen Baß und von verschiedenen Mittelstim-
men begleitet werden.

Beyde Arten der Duette kommen darin überein,
daß beyde darin vorkommende Stimmen Hauptstim-
men sind, und keine über die andre herrscht; daß
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Due
bald die eine, bald die andre eine Zeitlang sich al-
lein hören läßt, hernach aber beyde zugleich, jede
aber in ihrem besondern Gang. Hieraus entsteht
in beyden Arten die Nothwendigkeit, daß das Duet
Fugenmäßig und völlig nach der Kunst des doppel-
ten Contrapunkts gesetzt seyn müsse, damit beyde
Melodien bey der Einheit des Charakters eine
schöne Mannigfaltigkeit haben. Und wiewol die
erstere Art, die ohne Begleitung ist, vorzüglich die
ganze Harmonie in zwey Stimmen zusammen faßt;
so muß auch die andre Art so bearbeitet seyn, daß der
Baß und die Mittelstimmen davon wegbleiben können,
ohne daß die Harmonie mangelhaft werde. Denn
die beyden concertirenden Stimmen nehmen sich doch
vor den begleitenden so sehr aus, daß das Gehör
sich damit hauptsächlich beschäftiget. Sollten also
die beyden Hauptstimmen so beschaffen seyn, daß
sie zur Reinigkeit der Harmonie einer dritten Stim-
me bedürften, so würde das Fehlerhafte gar zu fühl-
bar werden, wenn das Gehör sich, wie es allemal
geschieht, vorzüglich mit den beyden Hauptstimmen
beschäftigte. Dieses wird durch folgendes Beyspiel
begreiflich werden.

[Abbildung]

Dieser Saz hat so, wie er hier steht, nichts gegen
die gute Harmonie; inzwischen könnte man ein Duet
nicht nach dieser Art setzen; denn wenn man den
Baß wegließe, so würden die beyden obern Stim-
men in Quarten gegen einander stehen, und sehr
unangenehm werden.

Man muß also bey solchen Duetten auch ohne
Rüksicht auf die Umkehrung der Stimmen, die Re-
geln des doppelten Contrapunkts in der Octave vor
Augen haben; weil nur dadurch die beyden Haupt-
stimmen auch ohne den Baß ihre harmonische Rich-
tigkeit bekommen. Deßwegen ist das Duet alle-
mal ein Werk, das nur der Setzer unternehmen
kann, der ein vollkommener Harmonist ist, und so
wol die Kunst der Fugen und Nachahmungen, als
des doppelten Contrapunkts in seiner Gewalt hat.

Zwey
N n 2

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Due
muͤſſen, daß ſie eine voͤllige Reinigkeit und Vollſtaͤn-
digkeit der Harmonie haben, wenn alle begleitende
Stimmen weggelaſſen werden.

Man hat zwey Arten des Duets, die merklich
von einander unterſchieden ſind. Die eine Art be-
ſteht blos aus zwey Hauptſtimmen, ohne alle Be-
gleitung; dieſe nennen die Tonlehrer insgemein Bi-
cinia:
die andre Art hat zwar auch nur zwey Haupt-
ſtimmen, aber dieſe haben eine oder mehrere Stim-
men zur Begleitung, ſo daß der Satz bisweilen vier,
fuͤnf und mehrſtimmig darin vorkommt. Von die-
ſer Art ſind die Duette in der Oper, wo auſſer ei-
nem begleitenden Baſſe noch verſchiedene Mittelſtim-
men zur Begleitung vorkommen.

Die erſte Art kann entweder fuͤr einerley, oder
fuͤr verſchiedene Stimmen und Jnſtrumente verfer-
tiget werden, als fuͤr zwey Discantſtimmen, fuͤr
zwey Violine, fuͤr zwey Floͤten u. ſ. f. oder fuͤr eine
Discant- und eine Tenorſtimme, fuͤr eine Floͤte und
eine Violin u. ſ. w. Nur muß bey der Verſchie-
denheit der Stimmen oder Jnſtrumente dieſes in
acht genommen werden, daß ſie in Anſehung der
Hoͤhe nicht zu weit auseinander ſeyn, als wie z. B.
eine Baßſtimme und eine Discantſtimme ſeyn wuͤr-
den; denn dadurch wuͤrde die Harmonie zu ſehr zer-
ſtreut werden, die Stimmen wuͤrden zu ſehr gegen
einander abſtechen, und eine wuͤrde die andre ver-
dunkeln. Dieſe Art erfodert einen uͤberaus reinen
und dabey Harmoniereichen Satz, der ſo beſchaffen
ſeyn muß, daß ohne Zwang nicht einmal eine dritte
begleitende Stimme dazu koͤnnte angebracht werden.
Wenn der Satz in ſeiner hoͤchſten Vollkommenheit
dabey beobachtet worden, ſo muß das Gehoͤr durchaus
ſo befriediget werden, daß ihm nirgend weder ein
dritter Ton, noch ein Fundament zur Unterſtuͤtzung
der obern Stimmen, dabey einfallen koͤnnte. Der-
gleichen Tonſtuͤke ſind alſo nur den geuͤbteſten Ton-
ſetzern zu uͤberlaſſen, die alle Geheimniſſe der rei-
nen Harmonie voͤllig beſitzen.

Die andre Art iſt die, welche uͤberall aus den
Opern bekannt iſt. Zwey Saͤnger ſingen bald
wechſelsweiſe einer nach dem andern, bald beyde
zugleich, aͤhnliche Melodien, welche von einem be-
ſtaͤndigen Baß und von verſchiedenen Mittelſtim-
men begleitet werden.

Beyde Arten der Duette kommen darin uͤberein,
daß beyde darin vorkommende Stimmen Hauptſtim-
men ſind, und keine uͤber die andre herrſcht; daß
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bald die eine, bald die andre eine Zeitlang ſich al-
lein hoͤren laͤßt, hernach aber beyde zugleich, jede
aber in ihrem beſondern Gang. Hieraus entſteht
in beyden Arten die Nothwendigkeit, daß das Duet
Fugenmaͤßig und voͤllig nach der Kunſt des doppel-
ten Contrapunkts geſetzt ſeyn muͤſſe, damit beyde
Melodien bey der Einheit des Charakters eine
ſchoͤne Mannigfaltigkeit haben. Und wiewol die
erſtere Art, die ohne Begleitung iſt, vorzuͤglich die
ganze Harmonie in zwey Stimmen zuſammen faßt;
ſo muß auch die andre Art ſo bearbeitet ſeyn, daß der
Baß und die Mittelſtimmen davon wegbleiben koͤnnen,
ohne daß die Harmonie mangelhaft werde. Denn
die beyden concertirenden Stimmen nehmen ſich doch
vor den begleitenden ſo ſehr aus, daß das Gehoͤr
ſich damit hauptſaͤchlich beſchaͤftiget. Sollten alſo
die beyden Hauptſtimmen ſo beſchaffen ſeyn, daß
ſie zur Reinigkeit der Harmonie einer dritten Stim-
me beduͤrften, ſo wuͤrde das Fehlerhafte gar zu fuͤhl-
bar werden, wenn das Gehoͤr ſich, wie es allemal
geſchieht, vorzuͤglich mit den beyden Hauptſtimmen
beſchaͤftigte. Dieſes wird durch folgendes Beyſpiel
begreiflich werden.

[Abbildung]

Dieſer Saz hat ſo, wie er hier ſteht, nichts gegen
die gute Harmonie; inzwiſchen koͤnnte man ein Duet
nicht nach dieſer Art ſetzen; denn wenn man den
Baß wegließe, ſo wuͤrden die beyden obern Stim-
men in Quarten gegen einander ſtehen, und ſehr
unangenehm werden.

Man muß alſo bey ſolchen Duetten auch ohne
Ruͤkſicht auf die Umkehrung der Stimmen, die Re-
geln des doppelten Contrapunkts in der Octave vor
Augen haben; weil nur dadurch die beyden Haupt-
ſtimmen auch ohne den Baß ihre harmoniſche Rich-
tigkeit bekommen. Deßwegen iſt das Duet alle-
mal ein Werk, das nur der Setzer unternehmen
kann, der ein vollkommener Harmoniſt iſt, und ſo
wol die Kunſt der Fugen und Nachahmungen, als
des doppelten Contrapunkts in ſeiner Gewalt hat.

Zwey
N n 2
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[283/0295] Due Due muͤſſen, daß ſie eine voͤllige Reinigkeit und Vollſtaͤn- digkeit der Harmonie haben, wenn alle begleitende Stimmen weggelaſſen werden. Man hat zwey Arten des Duets, die merklich von einander unterſchieden ſind. Die eine Art be- ſteht blos aus zwey Hauptſtimmen, ohne alle Be- gleitung; dieſe nennen die Tonlehrer insgemein Bi- cinia: die andre Art hat zwar auch nur zwey Haupt- ſtimmen, aber dieſe haben eine oder mehrere Stim- men zur Begleitung, ſo daß der Satz bisweilen vier, fuͤnf und mehrſtimmig darin vorkommt. Von die- ſer Art ſind die Duette in der Oper, wo auſſer ei- nem begleitenden Baſſe noch verſchiedene Mittelſtim- men zur Begleitung vorkommen. Die erſte Art kann entweder fuͤr einerley, oder fuͤr verſchiedene Stimmen und Jnſtrumente verfer- tiget werden, als fuͤr zwey Discantſtimmen, fuͤr zwey Violine, fuͤr zwey Floͤten u. ſ. f. oder fuͤr eine Discant- und eine Tenorſtimme, fuͤr eine Floͤte und eine Violin u. ſ. w. Nur muß bey der Verſchie- denheit der Stimmen oder Jnſtrumente dieſes in acht genommen werden, daß ſie in Anſehung der Hoͤhe nicht zu weit auseinander ſeyn, als wie z. B. eine Baßſtimme und eine Discantſtimme ſeyn wuͤr- den; denn dadurch wuͤrde die Harmonie zu ſehr zer- ſtreut werden, die Stimmen wuͤrden zu ſehr gegen einander abſtechen, und eine wuͤrde die andre ver- dunkeln. Dieſe Art erfodert einen uͤberaus reinen und dabey Harmoniereichen Satz, der ſo beſchaffen ſeyn muß, daß ohne Zwang nicht einmal eine dritte begleitende Stimme dazu koͤnnte angebracht werden. Wenn der Satz in ſeiner hoͤchſten Vollkommenheit dabey beobachtet worden, ſo muß das Gehoͤr durchaus ſo befriediget werden, daß ihm nirgend weder ein dritter Ton, noch ein Fundament zur Unterſtuͤtzung der obern Stimmen, dabey einfallen koͤnnte. Der- gleichen Tonſtuͤke ſind alſo nur den geuͤbteſten Ton- ſetzern zu uͤberlaſſen, die alle Geheimniſſe der rei- nen Harmonie voͤllig beſitzen. Die andre Art iſt die, welche uͤberall aus den Opern bekannt iſt. Zwey Saͤnger ſingen bald wechſelsweiſe einer nach dem andern, bald beyde zugleich, aͤhnliche Melodien, welche von einem be- ſtaͤndigen Baß und von verſchiedenen Mittelſtim- men begleitet werden. Beyde Arten der Duette kommen darin uͤberein, daß beyde darin vorkommende Stimmen Hauptſtim- men ſind, und keine uͤber die andre herrſcht; daß bald die eine, bald die andre eine Zeitlang ſich al- lein hoͤren laͤßt, hernach aber beyde zugleich, jede aber in ihrem beſondern Gang. Hieraus entſteht in beyden Arten die Nothwendigkeit, daß das Duet Fugenmaͤßig und voͤllig nach der Kunſt des doppel- ten Contrapunkts geſetzt ſeyn muͤſſe, damit beyde Melodien bey der Einheit des Charakters eine ſchoͤne Mannigfaltigkeit haben. Und wiewol die erſtere Art, die ohne Begleitung iſt, vorzuͤglich die ganze Harmonie in zwey Stimmen zuſammen faßt; ſo muß auch die andre Art ſo bearbeitet ſeyn, daß der Baß und die Mittelſtimmen davon wegbleiben koͤnnen, ohne daß die Harmonie mangelhaft werde. Denn die beyden concertirenden Stimmen nehmen ſich doch vor den begleitenden ſo ſehr aus, daß das Gehoͤr ſich damit hauptſaͤchlich beſchaͤftiget. Sollten alſo die beyden Hauptſtimmen ſo beſchaffen ſeyn, daß ſie zur Reinigkeit der Harmonie einer dritten Stim- me beduͤrften, ſo wuͤrde das Fehlerhafte gar zu fuͤhl- bar werden, wenn das Gehoͤr ſich, wie es allemal geſchieht, vorzuͤglich mit den beyden Hauptſtimmen beſchaͤftigte. Dieſes wird durch folgendes Beyſpiel begreiflich werden. [Abbildung] Dieſer Saz hat ſo, wie er hier ſteht, nichts gegen die gute Harmonie; inzwiſchen koͤnnte man ein Duet nicht nach dieſer Art ſetzen; denn wenn man den Baß wegließe, ſo wuͤrden die beyden obern Stim- men in Quarten gegen einander ſtehen, und ſehr unangenehm werden. Man muß alſo bey ſolchen Duetten auch ohne Ruͤkſicht auf die Umkehrung der Stimmen, die Re- geln des doppelten Contrapunkts in der Octave vor Augen haben; weil nur dadurch die beyden Haupt- ſtimmen auch ohne den Baß ihre harmoniſche Rich- tigkeit bekommen. Deßwegen iſt das Duet alle- mal ein Werk, das nur der Setzer unternehmen kann, der ein vollkommener Harmoniſt iſt, und ſo wol die Kunſt der Fugen und Nachahmungen, als des doppelten Contrapunkts in ſeiner Gewalt hat. Zwey N n 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 283. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/295>, abgerufen am 23.11.2024.