Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Dra
Schwierigkeiten, und mehr, als irgend eine
Dichtungsart.

Gleich im Anfang der Handlung müssen sowol
die Personen, als das Geschäft, welches sie vorha-
ben, die Neugierde der Zuschauer stark reizen. Diese
müssen begierig werden, die Personen näher kennen
zu lernen und zu sehen, was für Eindrüke das Ge-
schäft auf sie machen, wie sie sich in den verschiede-
nen Fällen, die man voraus vermuthet, betragen
werden. Durch dergleichen Fragen muß die Auf-
merksamkeit gleich von Anfang festgesetzt werden.
Also muß der Dichter seiner Handlung einen guten
Anfang zu geben wissen, der den Zuschauer gleich in
bestimmte Erwartungen setzet, und dieses ist inson-
derheit in der Comödie eine schweere Sache.

Jn dem Verfolg der Handlung muß die Neube-
gierde zwar nach und nach befriediget, aber immer
durch neue Verwiklungen gereizt werden. Je mehr
die Sachen gegen die Erwartung der Zuschauer lauf-
fen, dabey aber in völliger Wahrscheinlichkeit sind,
je grösser wird ihr Vergnügen dabey seyn.

Die Handlung muß von Zeit zu Zeit ihre Ruhe-
punkte haben, auf denen man etwas still stehen kann,
um alles vergangene zu übersehen, und neue Er-
wartungen des folgenden zu bilden. Dabey aber
muß man die Hauptpersonen und das Hauptinteresse
der Handlung nie aus dem Gesichte verlieren.
Jede Unterbrechung, da Dinge vorkommen, deren
Verbindung mit dem Ganzen nicht sogleich kann be-
merkt werden, thut der Handlung Schaden.

Man muß ofte denken, daß nun eine Entwiklung
der Sache nahe sey, und durch neue Hinternisse sie
weiter hinausgesetzt sehen. Aber endlich müssen alle
Erwartungen des Zuschauers völlig befriediget wer-
den, und er muß am Ende jede Frage, die er sich
währender Handlung gemacht hat, völlig beant-
wortet finden, so daß ihm von der ganzen Sache
nichts mehr zu erfahren übrig bleibet, und damit
muß sich das Drama endigen.

Aber das unterhaltende ist nur eine der guten
Eigenschaften des Drama. Es muß auch dadurch
wichtig werden, daß es uns helle Aussichten in das
innere des menschlichen Herzens giebt. Das größte
Verdienst des Dichters entsteht daher, daß er uns
Menschen von hoher Sinnesart und ungewöhnlicher
[Spaltenumbruch]

Dra
Grösse der Seele bewundern macht; daß er uns die
traurigen oder schreklichen Würkungen des Lasters
oder der hinreissenden Leidenschaften zu empfinden
giebt; daß er uns für alles, was an Menschen und
Sitten liebenswürdig oder verächtlich ist, fühlbar
macht. Er muß sowol unsern Geist, als unser
Herz ohne Aufhören in einer vortheilhaften Be-
schäftigung unterhalten, und alle Nerven der Seele
zur Würksamkeit reizen. Dieses alles aber muß
auf eine vortheilhafte Wendung unsrer Seelenkräfte
abzielen. Der Schreken, den der Dichter in uns
erwekt, muß dienen uns vom Bösen zurük zu hal-
ten; das Lachen muß uns selbst vor dem lächerli-
chen bewahren; jede Empfindung der Menschlich-
keit muß in uns rege gemacht werden; alles
aber muß dahin abzielen, die Seele zu der schö-
nen Harmonie der Empfindungen zu stimmen, da-
rin sie für jedes Gute und Böse, in dem Maaße
wie es solches verdienet, empfindsam wird.

Auf diese Weise wird das Drama eines der vor-
nehmsten Werke der Dichtkunst, und das Schauspiel
dazu es dienet, eine edle und nützliche Beschäftigung
denkender und empfindsamer Zuschauer.

Es ist überhaupt so etwas intressantes, die lebhaf-
testen Auftritte des menschlichen Lebens zu beobachten,
daß sich vermuthen läßt, die dramatische Dichtkunst
möchte in ihrer ersten rohen Gestalt bey nahe so
alt seyn, als jede andre Dichtungsart. Man fin-
det, daß auch noch ganz rohe Völker bey feyerlichen
Versammlungen leidenschaftliche Scenen in Nach-
ahmungen vorstellen. Daraus aber ist hernach, da
die Dichtkunst durch glückliche Genien ausgebildet
worden, das ordentliche Drama entstanden. Es
ist schon an einem andern Ort (*) angemerkt wor-(*) S.
Dichtkunst.

den, daß das Drama weit älter ist, als man insge-
mein glaubt. Es ist ein bloßes Compliment, das
einige griechische Kunstrichter dem Homer gemacht
haben, wenn sie vorgeben, daß die Jlias zu Er-
findung des Trauerspiels und die Odyßea zur Co-
mödie die Veranlasung gegeben habe. Beyde
haben einen weit natürlichern Ursprung, den Casau-
bon
von den uralten Lustbarkeiten herleitet, die die
Menschen natürlicher Weise nach vollendeter Ein-
sammlung der Erdfrüchte angestellt haben [Spaltenumbruch] (+). Man
sieht noch izt an einigen Orten Deutschlands, un-

ter
(+) Satyricae igitur poeseos non secus ac Tragoediae & comoe-
diae Origo prima ab illis repetenda conventibus, quos vetustissi-
[Spaltenumbruch] mi mortales, collectis Frugibus cogere soliti, ut - - animum
relaxarent ac jucunditati se darent. De Satyrica poesi p.
9. 10.
M m 3

[Spaltenumbruch]

Dra
Schwierigkeiten, und mehr, als irgend eine
Dichtungsart.

Gleich im Anfang der Handlung muͤſſen ſowol
die Perſonen, als das Geſchaͤft, welches ſie vorha-
ben, die Neugierde der Zuſchauer ſtark reizen. Dieſe
muͤſſen begierig werden, die Perſonen naͤher kennen
zu lernen und zu ſehen, was fuͤr Eindruͤke das Ge-
ſchaͤft auf ſie machen, wie ſie ſich in den verſchiede-
nen Faͤllen, die man voraus vermuthet, betragen
werden. Durch dergleichen Fragen muß die Auf-
merkſamkeit gleich von Anfang feſtgeſetzt werden.
Alſo muß der Dichter ſeiner Handlung einen guten
Anfang zu geben wiſſen, der den Zuſchauer gleich in
beſtimmte Erwartungen ſetzet, und dieſes iſt inſon-
derheit in der Comoͤdie eine ſchweere Sache.

Jn dem Verfolg der Handlung muß die Neube-
gierde zwar nach und nach befriediget, aber immer
durch neue Verwiklungen gereizt werden. Je mehr
die Sachen gegen die Erwartung der Zuſchauer lauf-
fen, dabey aber in voͤlliger Wahrſcheinlichkeit ſind,
je groͤſſer wird ihr Vergnuͤgen dabey ſeyn.

Die Handlung muß von Zeit zu Zeit ihre Ruhe-
punkte haben, auf denen man etwas ſtill ſtehen kann,
um alles vergangene zu uͤberſehen, und neue Er-
wartungen des folgenden zu bilden. Dabey aber
muß man die Hauptperſonen und das Hauptintereſſe
der Handlung nie aus dem Geſichte verlieren.
Jede Unterbrechung, da Dinge vorkommen, deren
Verbindung mit dem Ganzen nicht ſogleich kann be-
merkt werden, thut der Handlung Schaden.

Man muß ofte denken, daß nun eine Entwiklung
der Sache nahe ſey, und durch neue Hinterniſſe ſie
weiter hinausgeſetzt ſehen. Aber endlich muͤſſen alle
Erwartungen des Zuſchauers voͤllig befriediget wer-
den, und er muß am Ende jede Frage, die er ſich
waͤhrender Handlung gemacht hat, voͤllig beant-
wortet finden, ſo daß ihm von der ganzen Sache
nichts mehr zu erfahren uͤbrig bleibet, und damit
muß ſich das Drama endigen.

Aber das unterhaltende iſt nur eine der guten
Eigenſchaften des Drama. Es muß auch dadurch
wichtig werden, daß es uns helle Ausſichten in das
innere des menſchlichen Herzens giebt. Das groͤßte
Verdienſt des Dichters entſteht daher, daß er uns
Menſchen von hoher Sinnesart und ungewoͤhnlicher
[Spaltenumbruch]

Dra
Groͤſſe der Seele bewundern macht; daß er uns die
traurigen oder ſchreklichen Wuͤrkungen des Laſters
oder der hinreiſſenden Leidenſchaften zu empfinden
giebt; daß er uns fuͤr alles, was an Menſchen und
Sitten liebenswuͤrdig oder veraͤchtlich iſt, fuͤhlbar
macht. Er muß ſowol unſern Geiſt, als unſer
Herz ohne Aufhoͤren in einer vortheilhaften Be-
ſchaͤftigung unterhalten, und alle Nerven der Seele
zur Wuͤrkſamkeit reizen. Dieſes alles aber muß
auf eine vortheilhafte Wendung unſrer Seelenkraͤfte
abzielen. Der Schreken, den der Dichter in uns
erwekt, muß dienen uns vom Boͤſen zuruͤk zu hal-
ten; das Lachen muß uns ſelbſt vor dem laͤcherli-
chen bewahren; jede Empfindung der Menſchlich-
keit muß in uns rege gemacht werden; alles
aber muß dahin abzielen, die Seele zu der ſchoͤ-
nen Harmonie der Empfindungen zu ſtimmen, da-
rin ſie fuͤr jedes Gute und Boͤſe, in dem Maaße
wie es ſolches verdienet, empfindſam wird.

Auf dieſe Weiſe wird das Drama eines der vor-
nehmſten Werke der Dichtkunſt, und das Schauſpiel
dazu es dienet, eine edle und nuͤtzliche Beſchaͤftigung
denkender und empfindſamer Zuſchauer.

Es iſt uͤberhaupt ſo etwas intreſſantes, die lebhaf-
teſten Auftritte des menſchlichen Lebens zu beobachten,
daß ſich vermuthen laͤßt, die dramatiſche Dichtkunſt
moͤchte in ihrer erſten rohen Geſtalt bey nahe ſo
alt ſeyn, als jede andre Dichtungsart. Man fin-
det, daß auch noch ganz rohe Voͤlker bey feyerlichen
Verſammlungen leidenſchaftliche Scenen in Nach-
ahmungen vorſtellen. Daraus aber iſt hernach, da
die Dichtkunſt durch gluͤckliche Genien ausgebildet
worden, das ordentliche Drama entſtanden. Es
iſt ſchon an einem andern Ort (*) angemerkt wor-(*) S.
Dichtkunſt.

den, daß das Drama weit aͤlter iſt, als man insge-
mein glaubt. Es iſt ein bloßes Compliment, das
einige griechiſche Kunſtrichter dem Homer gemacht
haben, wenn ſie vorgeben, daß die Jlias zu Er-
findung des Trauerſpiels und die Odyßea zur Co-
moͤdie die Veranlaſung gegeben habe. Beyde
haben einen weit natuͤrlichern Urſprung, den Caſau-
bon
von den uralten Luſtbarkeiten herleitet, die die
Menſchen natuͤrlicher Weiſe nach vollendeter Ein-
ſammlung der Erdfruͤchte angeſtellt haben [Spaltenumbruch] (†). Man
ſieht noch izt an einigen Orten Deutſchlands, un-

ter
(†) Satyricæ igitur poeſeos non ſecus ac Tragœdiæ & comœ-
diæ Origo prima ab illis repetenda conventibus, quos vetuſtiſſi-
[Spaltenumbruch] mi mortales, collectis Frugibus cogere ſoliti, ut - - animum
relaxarent ac jucunditati ſe darent. De Satyrica poeſi p.
9. 10.
M m 3
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0289" n="277"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dra</hi></fw><lb/>
Schwierigkeiten, und mehr, als irgend eine<lb/>
Dichtungsart.</p><lb/>
          <p>Gleich im Anfang der Handlung mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en &#x017F;owol<lb/>
die Per&#x017F;onen, als das Ge&#x017F;cha&#x0364;ft, welches &#x017F;ie vorha-<lb/>
ben, die Neugierde der Zu&#x017F;chauer &#x017F;tark reizen. Die&#x017F;e<lb/>
mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en begierig werden, die Per&#x017F;onen na&#x0364;her kennen<lb/>
zu lernen und zu &#x017F;ehen, was fu&#x0364;r Eindru&#x0364;ke das Ge-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ft auf &#x017F;ie machen, wie &#x017F;ie &#x017F;ich in den ver&#x017F;chiede-<lb/>
nen Fa&#x0364;llen, die man voraus vermuthet, betragen<lb/>
werden. Durch dergleichen Fragen muß die Auf-<lb/>
merk&#x017F;amkeit gleich von Anfang fe&#x017F;tge&#x017F;etzt werden.<lb/>
Al&#x017F;o muß der Dichter &#x017F;einer Handlung einen guten<lb/>
Anfang zu geben wi&#x017F;&#x017F;en, der den Zu&#x017F;chauer gleich in<lb/>
be&#x017F;timmte Erwartungen &#x017F;etzet, und die&#x017F;es i&#x017F;t in&#x017F;on-<lb/>
derheit in der Como&#x0364;die eine &#x017F;chweere Sache.</p><lb/>
          <p>Jn dem Verfolg der Handlung muß die Neube-<lb/>
gierde zwar nach und nach befriediget, aber immer<lb/>
durch neue Verwiklungen gereizt werden. Je mehr<lb/>
die Sachen gegen die Erwartung der Zu&#x017F;chauer lauf-<lb/>
fen, dabey aber in vo&#x0364;lliger Wahr&#x017F;cheinlichkeit &#x017F;ind,<lb/>
je gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;er wird ihr Vergnu&#x0364;gen dabey &#x017F;eyn.</p><lb/>
          <p>Die Handlung muß von Zeit zu Zeit ihre Ruhe-<lb/>
punkte haben, auf denen man etwas &#x017F;till &#x017F;tehen kann,<lb/>
um alles vergangene zu u&#x0364;ber&#x017F;ehen, und neue Er-<lb/>
wartungen des folgenden zu bilden. Dabey aber<lb/>
muß man die Hauptper&#x017F;onen und das Hauptintere&#x017F;&#x017F;e<lb/>
der Handlung nie aus dem Ge&#x017F;ichte verlieren.<lb/>
Jede Unterbrechung, da Dinge vorkommen, deren<lb/>
Verbindung mit dem Ganzen nicht &#x017F;ogleich kann be-<lb/>
merkt werden, thut der Handlung Schaden.</p><lb/>
          <p>Man muß ofte denken, daß nun eine Entwiklung<lb/>
der Sache nahe &#x017F;ey, und durch neue Hinterni&#x017F;&#x017F;e &#x017F;ie<lb/>
weiter hinausge&#x017F;etzt &#x017F;ehen. Aber endlich mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en alle<lb/>
Erwartungen des Zu&#x017F;chauers vo&#x0364;llig befriediget wer-<lb/>
den, und er muß am Ende jede Frage, die er &#x017F;ich<lb/>
wa&#x0364;hrender Handlung gemacht hat, vo&#x0364;llig beant-<lb/>
wortet finden, &#x017F;o daß ihm von der ganzen Sache<lb/>
nichts mehr zu erfahren u&#x0364;brig bleibet, und damit<lb/>
muß &#x017F;ich das Drama endigen.</p><lb/>
          <p>Aber das unterhaltende i&#x017F;t nur eine der guten<lb/>
Eigen&#x017F;chaften des Drama. Es muß auch dadurch<lb/>
wichtig werden, daß es uns helle Aus&#x017F;ichten in das<lb/>
innere des men&#x017F;chlichen Herzens giebt. Das gro&#x0364;ßte<lb/>
Verdien&#x017F;t des Dichters ent&#x017F;teht daher, daß er uns<lb/>
Men&#x017F;chen von hoher Sinnesart und ungewo&#x0364;hnlicher<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dra</hi></fw><lb/>
Gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e der Seele bewundern macht; daß er uns die<lb/>
traurigen oder &#x017F;chreklichen Wu&#x0364;rkungen des La&#x017F;ters<lb/>
oder der hinrei&#x017F;&#x017F;enden Leiden&#x017F;chaften zu empfinden<lb/>
giebt; daß er uns fu&#x0364;r alles, was an Men&#x017F;chen und<lb/>
Sitten liebenswu&#x0364;rdig oder vera&#x0364;chtlich i&#x017F;t, fu&#x0364;hlbar<lb/>
macht. Er muß &#x017F;owol un&#x017F;ern Gei&#x017F;t, als un&#x017F;er<lb/>
Herz ohne Aufho&#x0364;ren in einer vortheilhaften Be-<lb/>
&#x017F;cha&#x0364;ftigung unterhalten, und alle Nerven der Seele<lb/>
zur Wu&#x0364;rk&#x017F;amkeit reizen. Die&#x017F;es alles aber muß<lb/>
auf eine vortheilhafte Wendung un&#x017F;rer Seelenkra&#x0364;fte<lb/>
abzielen. Der Schreken, den der Dichter in uns<lb/>
erwekt, muß dienen uns vom Bo&#x0364;&#x017F;en zuru&#x0364;k zu hal-<lb/>
ten; das Lachen muß uns &#x017F;elb&#x017F;t vor dem la&#x0364;cherli-<lb/>
chen bewahren; jede Empfindung der Men&#x017F;chlich-<lb/>
keit muß in uns rege gemacht werden; alles<lb/>
aber muß dahin abzielen, die Seele zu der &#x017F;cho&#x0364;-<lb/>
nen Harmonie der Empfindungen zu &#x017F;timmen, da-<lb/>
rin &#x017F;ie fu&#x0364;r jedes Gute und Bo&#x0364;&#x017F;e, in dem Maaße<lb/>
wie es &#x017F;olches verdienet, empfind&#x017F;am wird.</p><lb/>
          <p>Auf die&#x017F;e Wei&#x017F;e wird das Drama eines der vor-<lb/>
nehm&#x017F;ten Werke der Dichtkun&#x017F;t, und das Schau&#x017F;piel<lb/>
dazu es dienet, eine edle und nu&#x0364;tzliche Be&#x017F;cha&#x0364;ftigung<lb/>
denkender und empfind&#x017F;amer Zu&#x017F;chauer.</p><lb/>
          <p>Es i&#x017F;t u&#x0364;berhaupt &#x017F;o etwas intre&#x017F;&#x017F;antes, die lebhaf-<lb/>
te&#x017F;ten Auftritte des men&#x017F;chlichen Lebens zu beobachten,<lb/>
daß &#x017F;ich vermuthen la&#x0364;ßt, die dramati&#x017F;che Dichtkun&#x017F;t<lb/>
mo&#x0364;chte in ihrer er&#x017F;ten rohen Ge&#x017F;talt bey nahe &#x017F;o<lb/>
alt &#x017F;eyn, als jede andre Dichtungsart. Man fin-<lb/>
det, daß auch noch ganz rohe Vo&#x0364;lker bey feyerlichen<lb/>
Ver&#x017F;ammlungen leiden&#x017F;chaftliche Scenen in Nach-<lb/>
ahmungen vor&#x017F;tellen. Daraus aber i&#x017F;t hernach, da<lb/>
die Dichtkun&#x017F;t durch glu&#x0364;ckliche Genien ausgebildet<lb/>
worden, das ordentliche Drama ent&#x017F;tanden. Es<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;chon an einem andern Ort (*) angemerkt wor-<note place="right">(*) S.<lb/>
Dichtkun&#x017F;t.</note><lb/>
den, daß das Drama weit a&#x0364;lter i&#x017F;t, als man insge-<lb/>
mein glaubt. Es i&#x017F;t ein bloßes Compliment, das<lb/>
einige griechi&#x017F;che Kun&#x017F;trichter dem Homer gemacht<lb/>
haben, wenn &#x017F;ie vorgeben, daß die Jlias zu Er-<lb/>
findung des Trauer&#x017F;piels und die Odyßea zur Co-<lb/>
mo&#x0364;die die Veranla&#x017F;ung gegeben habe. Beyde<lb/>
haben einen weit natu&#x0364;rlichern Ur&#x017F;prung, den <hi rendition="#fr">Ca&#x017F;au-<lb/>
bon</hi> von den uralten Lu&#x017F;tbarkeiten herleitet, die die<lb/>
Men&#x017F;chen natu&#x0364;rlicher Wei&#x017F;e nach vollendeter Ein-<lb/>
&#x017F;ammlung der Erdfru&#x0364;chte ange&#x017F;tellt haben <cb/>
<note place="foot" n="(&#x2020;)"><hi rendition="#aq">Satyricæ igitur poe&#x017F;eos non &#x017F;ecus ac Trag&#x0153;diæ &amp; com&#x0153;-<lb/>
diæ Origo prima ab illis repetenda conventibus, quos vetu&#x017F;ti&#x017F;&#x017F;i-<lb/><cb/>
mi mortales, collectis Frugibus cogere &#x017F;oliti, ut - - animum<lb/>
relaxarent ac jucunditati &#x017F;e darent. De Satyrica poe&#x017F;i p.</hi> 9. 10.</note>. Man<lb/>
&#x017F;ieht noch izt an einigen Orten Deut&#x017F;chlands, un-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">M m 3</fw><fw place="bottom" type="catch">ter</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[277/0289] Dra Dra Schwierigkeiten, und mehr, als irgend eine Dichtungsart. Gleich im Anfang der Handlung muͤſſen ſowol die Perſonen, als das Geſchaͤft, welches ſie vorha- ben, die Neugierde der Zuſchauer ſtark reizen. Dieſe muͤſſen begierig werden, die Perſonen naͤher kennen zu lernen und zu ſehen, was fuͤr Eindruͤke das Ge- ſchaͤft auf ſie machen, wie ſie ſich in den verſchiede- nen Faͤllen, die man voraus vermuthet, betragen werden. Durch dergleichen Fragen muß die Auf- merkſamkeit gleich von Anfang feſtgeſetzt werden. Alſo muß der Dichter ſeiner Handlung einen guten Anfang zu geben wiſſen, der den Zuſchauer gleich in beſtimmte Erwartungen ſetzet, und dieſes iſt inſon- derheit in der Comoͤdie eine ſchweere Sache. Jn dem Verfolg der Handlung muß die Neube- gierde zwar nach und nach befriediget, aber immer durch neue Verwiklungen gereizt werden. Je mehr die Sachen gegen die Erwartung der Zuſchauer lauf- fen, dabey aber in voͤlliger Wahrſcheinlichkeit ſind, je groͤſſer wird ihr Vergnuͤgen dabey ſeyn. Die Handlung muß von Zeit zu Zeit ihre Ruhe- punkte haben, auf denen man etwas ſtill ſtehen kann, um alles vergangene zu uͤberſehen, und neue Er- wartungen des folgenden zu bilden. Dabey aber muß man die Hauptperſonen und das Hauptintereſſe der Handlung nie aus dem Geſichte verlieren. Jede Unterbrechung, da Dinge vorkommen, deren Verbindung mit dem Ganzen nicht ſogleich kann be- merkt werden, thut der Handlung Schaden. Man muß ofte denken, daß nun eine Entwiklung der Sache nahe ſey, und durch neue Hinterniſſe ſie weiter hinausgeſetzt ſehen. Aber endlich muͤſſen alle Erwartungen des Zuſchauers voͤllig befriediget wer- den, und er muß am Ende jede Frage, die er ſich waͤhrender Handlung gemacht hat, voͤllig beant- wortet finden, ſo daß ihm von der ganzen Sache nichts mehr zu erfahren uͤbrig bleibet, und damit muß ſich das Drama endigen. Aber das unterhaltende iſt nur eine der guten Eigenſchaften des Drama. Es muß auch dadurch wichtig werden, daß es uns helle Ausſichten in das innere des menſchlichen Herzens giebt. Das groͤßte Verdienſt des Dichters entſteht daher, daß er uns Menſchen von hoher Sinnesart und ungewoͤhnlicher Groͤſſe der Seele bewundern macht; daß er uns die traurigen oder ſchreklichen Wuͤrkungen des Laſters oder der hinreiſſenden Leidenſchaften zu empfinden giebt; daß er uns fuͤr alles, was an Menſchen und Sitten liebenswuͤrdig oder veraͤchtlich iſt, fuͤhlbar macht. Er muß ſowol unſern Geiſt, als unſer Herz ohne Aufhoͤren in einer vortheilhaften Be- ſchaͤftigung unterhalten, und alle Nerven der Seele zur Wuͤrkſamkeit reizen. Dieſes alles aber muß auf eine vortheilhafte Wendung unſrer Seelenkraͤfte abzielen. Der Schreken, den der Dichter in uns erwekt, muß dienen uns vom Boͤſen zuruͤk zu hal- ten; das Lachen muß uns ſelbſt vor dem laͤcherli- chen bewahren; jede Empfindung der Menſchlich- keit muß in uns rege gemacht werden; alles aber muß dahin abzielen, die Seele zu der ſchoͤ- nen Harmonie der Empfindungen zu ſtimmen, da- rin ſie fuͤr jedes Gute und Boͤſe, in dem Maaße wie es ſolches verdienet, empfindſam wird. Auf dieſe Weiſe wird das Drama eines der vor- nehmſten Werke der Dichtkunſt, und das Schauſpiel dazu es dienet, eine edle und nuͤtzliche Beſchaͤftigung denkender und empfindſamer Zuſchauer. Es iſt uͤberhaupt ſo etwas intreſſantes, die lebhaf- teſten Auftritte des menſchlichen Lebens zu beobachten, daß ſich vermuthen laͤßt, die dramatiſche Dichtkunſt moͤchte in ihrer erſten rohen Geſtalt bey nahe ſo alt ſeyn, als jede andre Dichtungsart. Man fin- det, daß auch noch ganz rohe Voͤlker bey feyerlichen Verſammlungen leidenſchaftliche Scenen in Nach- ahmungen vorſtellen. Daraus aber iſt hernach, da die Dichtkunſt durch gluͤckliche Genien ausgebildet worden, das ordentliche Drama entſtanden. Es iſt ſchon an einem andern Ort (*) angemerkt wor- den, daß das Drama weit aͤlter iſt, als man insge- mein glaubt. Es iſt ein bloßes Compliment, das einige griechiſche Kunſtrichter dem Homer gemacht haben, wenn ſie vorgeben, daß die Jlias zu Er- findung des Trauerſpiels und die Odyßea zur Co- moͤdie die Veranlaſung gegeben habe. Beyde haben einen weit natuͤrlichern Urſprung, den Caſau- bon von den uralten Luſtbarkeiten herleitet, die die Menſchen natuͤrlicher Weiſe nach vollendeter Ein- ſammlung der Erdfruͤchte angeſtellt haben (†). Man ſieht noch izt an einigen Orten Deutſchlands, un- ter (*) S. Dichtkunſt. (†) Satyricæ igitur poeſeos non ſecus ac Tragœdiæ & comœ- diæ Origo prima ab illis repetenda conventibus, quos vetuſtiſſi- mi mortales, collectis Frugibus cogere ſoliti, ut - - animum relaxarent ac jucunditati ſe darent. De Satyrica poeſi p. 9. 10. M m 3

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/289
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 277. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/289>, abgerufen am 27.11.2024.