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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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noch andre Personen nöthig, um der sinkenden Auf-
merksamkeit aufzuhelfen; mehrere Vorfälle, um
ihrem Schauspiel Leben zu geben, und können da-
her sich auch nicht allemal an einen Ort binden.
Aber dieser Reichthum der Materie ist im Grund
nichts als Armuth, die durch die Menge gemeiner
Sachen das zu ersetzen sucht, was den wenigen
Hauptsachen an innerlichem Werth mangelt; ein
Hülfsmittel der Dichter, die nicht Genie genug ha-
ben, oder die zu lebhaft und zu ungeduldig sind ihre
Vorstellungen in abgemessenen Schranken zu hal-
ten. Jn diesem letztern Fall scheinet Shakespear
gewesen zu seyn, der bey dem größten Vermögen,
eine sehr einfache Handlung höchst intressant zu
machen, sich die Mühe nicht hat geben wollen ein-
fach zu seyn.

Diese Einfalt der Handlung, da nur ein einziges
Jntresse von Anfang bis zum Ende vorkommt, das
durch keine episodische Nebenhandlung und zufällige
Vorfälle unterbrochen wird, ist die Einheit der Hand-
lung
genennt worden, und macht also mit den Ein-
heiten des Orts und der Zeit, deren bereits Erwäh-
nung geschehen, das aus, was man die drey Einhei-
(*) S.
Einheiten.
ten des Drama zu nennen pflegt. (*) Ohne sie kann
die Handlung nicht natürlich genug seyn, und des-
wegen halten viele sie für eine wesentliche Eigen-
schaft des dramatischen Gedichts. Wie sie aber seinen
eigentlichen Werth, von dem sogleich soll gesprochen
werden, nicht ausmachen, so ist auch nicht zu leug-
nen, daß die Neuern intressante Stüke gemacht ha-
ben, denen dieser Vorzug mangelt. Man kann
aber immer gewiß behaupten, daß diese Stüke noch
mehr Verdienst haben, und noch besser gefallen wür-
den, wenn ihre Verfasser sich die Mühe gegeben hät-
ten, alles so einzurichten, daß die Uebertretung der
Einheiten nicht nöthig gewesen wäre. Es wäre gar
nicht unmöglich, die Zuschauer ein paar Stunden lang
überaus angenehm, durch blos einzele Scenen aus
ganz verschiedenen Trauerspielen oder Comödien ge-
nommen, zu unterhalten. Aber dieses wär denn
kein Drama. Da wir also, indem wir von der Na-
tur dieser Dichtungsart sprechen, sagen, die drey
Einheiten müssen darin beobachtet werden, so wird
dieses dadurch nicht widerlegt, daß man auch Stüke
gern sieht, darin sie nicht beobachtet worden; denn
diese Stüke würden noch gefallen, wenn man gar
alle Rebenscenen wegliesse, und nur die vornehm-
sten ohne Verbindung vorstellte. Alsdenn aber
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wär ein solches Stük kein Drama mehr, sondern es
wären einzele Theile eines Drama.

Diese Anmerkungen betreffen größtentheils das
Aeussere des Drama, wodurch es natürlich und von
anstößigen Fehlern der äusserlichen Form frey wird.

Wichtiger ist es, von seiner innerlichen Vollkom-
menheit bestimmte und richtige Begriffe zu haben.
Das Schauspiel muß nicht nur, sowol in seinem Jn-
halt überhaupt, als in seinen einzelen Theilen, in-
tressant seyn, und Menschen von Geschmak in einer
ununterbrochenen lebhaften Beschäftigung des Gei-
stes und des Herzens unterhalten, sondern am End
Eindrüke zurük lassen, die einen vortheilhaften Ein-
fluß auf die Gemüther haben.

Die erste Sorge des Dichters geht auf die Wahl
eines intressanten Jnhalts. Er wählt einen Ge-
genstand, der für Menschen von Geschmak und von
empfindsamen Herzen hinlängliche Reizung hat. Für
einen Dichter von Genie, der den Menschen sowol
aus der Geschicht, als aus der täglichen Beobach-
tung kennen gelernt hat, ist die Materie zum Drama
unerschöpflich. Aus der Geschichte selbst stellen sich
die größten oder die mächtigsten Männer dar, denen
ganze Nationen ihr gutes oder schlechtes Schiksal
zu verdanken haben. Er weiß sie wieder ins Leben
zurük zu führen, uns fürs Gesichte zu stellen, und
uns zu Zeugen ihrer merkwürdigsten Thaten zu ma-
chen, daß wir die grossen Seelen eines Themisto-
kles, eines Alexanders, eines Cicero, und andrer
claßischer Männer, in ihren Reden und Handlun-
gen sich in unsrer Gegenwart entfalten sehen. Noch
mehr kann er reizen, wenn er die größten Männer
seiner eigenen Nation, aus den verflossenen Jahr-
hunderten, seinen Zuschauern wieder vors Gesichte
bringt. Will er seine Materie aus der allgemei-
nen Naturgeschichte des sittlichen Menschen nehmen,
so hat er einen noch reichern Stoff. Die verschie-
denen Charaktere der Menschen, ihre seltsamen
Schiksale, ihre Leidenschaften und derer Würkun-
gen, die mannigfaltige Lebensarten und Sitten der
Völker und der verschiedenen Stände der Menschen,
bieten sich ihm zur Bearbeitung dar.

An intressantem Stoff kann es dem dramati-
schen Dichter nie fehlen, wenn er nur selbst nach
Beschaffenheit seiner Materie eine grosse, oder
eine Empfindungsvolle Seele, oder ein grosses
Maaß von seinem Witz und guter Laune hat.
Aber die Bearbeitung dieses Stoffes hat eigene

Schwie-

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Dra
noch andre Perſonen noͤthig, um der ſinkenden Auf-
merkſamkeit aufzuhelfen; mehrere Vorfaͤlle, um
ihrem Schauſpiel Leben zu geben, und koͤnnen da-
her ſich auch nicht allemal an einen Ort binden.
Aber dieſer Reichthum der Materie iſt im Grund
nichts als Armuth, die durch die Menge gemeiner
Sachen das zu erſetzen ſucht, was den wenigen
Hauptſachen an innerlichem Werth mangelt; ein
Huͤlfsmittel der Dichter, die nicht Genie genug ha-
ben, oder die zu lebhaft und zu ungeduldig ſind ihre
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ten. Jn dieſem letztern Fall ſcheinet Shakeſpear
geweſen zu ſeyn, der bey dem groͤßten Vermoͤgen,
eine ſehr einfache Handlung hoͤchſt intreſſant zu
machen, ſich die Muͤhe nicht hat geben wollen ein-
fach zu ſeyn.

Dieſe Einfalt der Handlung, da nur ein einziges
Jntreſſe von Anfang bis zum Ende vorkommt, das
durch keine epiſodiſche Nebenhandlung und zufaͤllige
Vorfaͤlle unterbrochen wird, iſt die Einheit der Hand-
lung
genennt worden, und macht alſo mit den Ein-
heiten des Orts und der Zeit, deren bereits Erwaͤh-
nung geſchehen, das aus, was man die drey Einhei-
(*) S.
Einheiten.
ten des Drama zu nennen pflegt. (*) Ohne ſie kann
die Handlung nicht natuͤrlich genug ſeyn, und des-
wegen halten viele ſie fuͤr eine weſentliche Eigen-
ſchaft des dramatiſchen Gedichts. Wie ſie aber ſeinen
eigentlichen Werth, von dem ſogleich ſoll geſprochen
werden, nicht ausmachen, ſo iſt auch nicht zu leug-
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ben, denen dieſer Vorzug mangelt. Man kann
aber immer gewiß behaupten, daß dieſe Stuͤke noch
mehr Verdienſt haben, und noch beſſer gefallen wuͤr-
den, wenn ihre Verfaſſer ſich die Muͤhe gegeben haͤt-
ten, alles ſo einzurichten, daß die Uebertretung der
Einheiten nicht noͤthig geweſen waͤre. Es waͤre gar
nicht unmoͤglich, die Zuſchauer ein paar Stunden lang
uͤberaus angenehm, durch blos einzele Scenen aus
ganz verſchiedenen Trauerſpielen oder Comoͤdien ge-
nommen, zu unterhalten. Aber dieſes waͤr denn
kein Drama. Da wir alſo, indem wir von der Na-
tur dieſer Dichtungsart ſprechen, ſagen, die drey
Einheiten muͤſſen darin beobachtet werden, ſo wird
dieſes dadurch nicht widerlegt, daß man auch Stuͤke
gern ſieht, darin ſie nicht beobachtet worden; denn
dieſe Stuͤke wuͤrden noch gefallen, wenn man gar
alle Rebenſcenen weglieſſe, und nur die vornehm-
ſten ohne Verbindung vorſtellte. Alsdenn aber
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Dra
waͤr ein ſolches Stuͤk kein Drama mehr, ſondern es
waͤren einzele Theile eines Drama.

Dieſe Anmerkungen betreffen groͤßtentheils das
Aeuſſere des Drama, wodurch es natuͤrlich und von
anſtoͤßigen Fehlern der aͤuſſerlichen Form frey wird.

Wichtiger iſt es, von ſeiner innerlichen Vollkom-
menheit beſtimmte und richtige Begriffe zu haben.
Das Schauſpiel muß nicht nur, ſowol in ſeinem Jn-
halt uͤberhaupt, als in ſeinen einzelen Theilen, in-
treſſant ſeyn, und Menſchen von Geſchmak in einer
ununterbrochenen lebhaften Beſchaͤftigung des Gei-
ſtes und des Herzens unterhalten, ſondern am End
Eindruͤke zuruͤk laſſen, die einen vortheilhaften Ein-
fluß auf die Gemuͤther haben.

Die erſte Sorge des Dichters geht auf die Wahl
eines intreſſanten Jnhalts. Er waͤhlt einen Ge-
genſtand, der fuͤr Menſchen von Geſchmak und von
empfindſamen Herzen hinlaͤngliche Reizung hat. Fuͤr
einen Dichter von Genie, der den Menſchen ſowol
aus der Geſchicht, als aus der taͤglichen Beobach-
tung kennen gelernt hat, iſt die Materie zum Drama
unerſchoͤpflich. Aus der Geſchichte ſelbſt ſtellen ſich
die groͤßten oder die maͤchtigſten Maͤnner dar, denen
ganze Nationen ihr gutes oder ſchlechtes Schikſal
zu verdanken haben. Er weiß ſie wieder ins Leben
zuruͤk zu fuͤhren, uns fuͤrs Geſichte zu ſtellen, und
uns zu Zeugen ihrer merkwuͤrdigſten Thaten zu ma-
chen, daß wir die groſſen Seelen eines Themiſto-
kles, eines Alexanders, eines Cicero, und andrer
claßiſcher Maͤnner, in ihren Reden und Handlun-
gen ſich in unſrer Gegenwart entfalten ſehen. Noch
mehr kann er reizen, wenn er die groͤßten Maͤnner
ſeiner eigenen Nation, aus den verfloſſenen Jahr-
hunderten, ſeinen Zuſchauern wieder vors Geſichte
bringt. Will er ſeine Materie aus der allgemei-
nen Naturgeſchichte des ſittlichen Menſchen nehmen,
ſo hat er einen noch reichern Stoff. Die verſchie-
denen Charaktere der Menſchen, ihre ſeltſamen
Schikſale, ihre Leidenſchaften und derer Wuͤrkun-
gen, die mannigfaltige Lebensarten und Sitten der
Voͤlker und der verſchiedenen Staͤnde der Menſchen,
bieten ſich ihm zur Bearbeitung dar.

An intreſſantem Stoff kann es dem dramati-
ſchen Dichter nie fehlen, wenn er nur ſelbſt nach
Beſchaffenheit ſeiner Materie eine groſſe, oder
eine Empfindungsvolle Seele, oder ein groſſes
Maaß von ſeinem Witz und guter Laune hat.
Aber die Bearbeitung dieſes Stoffes hat eigene

Schwie-
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[276/0288] Dra Dra noch andre Perſonen noͤthig, um der ſinkenden Auf- merkſamkeit aufzuhelfen; mehrere Vorfaͤlle, um ihrem Schauſpiel Leben zu geben, und koͤnnen da- her ſich auch nicht allemal an einen Ort binden. Aber dieſer Reichthum der Materie iſt im Grund nichts als Armuth, die durch die Menge gemeiner Sachen das zu erſetzen ſucht, was den wenigen Hauptſachen an innerlichem Werth mangelt; ein Huͤlfsmittel der Dichter, die nicht Genie genug ha- ben, oder die zu lebhaft und zu ungeduldig ſind ihre Vorſtellungen in abgemeſſenen Schranken zu hal- ten. Jn dieſem letztern Fall ſcheinet Shakeſpear geweſen zu ſeyn, der bey dem groͤßten Vermoͤgen, eine ſehr einfache Handlung hoͤchſt intreſſant zu machen, ſich die Muͤhe nicht hat geben wollen ein- fach zu ſeyn. Dieſe Einfalt der Handlung, da nur ein einziges Jntreſſe von Anfang bis zum Ende vorkommt, das durch keine epiſodiſche Nebenhandlung und zufaͤllige Vorfaͤlle unterbrochen wird, iſt die Einheit der Hand- lung genennt worden, und macht alſo mit den Ein- heiten des Orts und der Zeit, deren bereits Erwaͤh- nung geſchehen, das aus, was man die drey Einhei- ten des Drama zu nennen pflegt. (*) Ohne ſie kann die Handlung nicht natuͤrlich genug ſeyn, und des- wegen halten viele ſie fuͤr eine weſentliche Eigen- ſchaft des dramatiſchen Gedichts. Wie ſie aber ſeinen eigentlichen Werth, von dem ſogleich ſoll geſprochen werden, nicht ausmachen, ſo iſt auch nicht zu leug- nen, daß die Neuern intreſſante Stuͤke gemacht ha- ben, denen dieſer Vorzug mangelt. Man kann aber immer gewiß behaupten, daß dieſe Stuͤke noch mehr Verdienſt haben, und noch beſſer gefallen wuͤr- den, wenn ihre Verfaſſer ſich die Muͤhe gegeben haͤt- ten, alles ſo einzurichten, daß die Uebertretung der Einheiten nicht noͤthig geweſen waͤre. Es waͤre gar nicht unmoͤglich, die Zuſchauer ein paar Stunden lang uͤberaus angenehm, durch blos einzele Scenen aus ganz verſchiedenen Trauerſpielen oder Comoͤdien ge- nommen, zu unterhalten. Aber dieſes waͤr denn kein Drama. Da wir alſo, indem wir von der Na- tur dieſer Dichtungsart ſprechen, ſagen, die drey Einheiten muͤſſen darin beobachtet werden, ſo wird dieſes dadurch nicht widerlegt, daß man auch Stuͤke gern ſieht, darin ſie nicht beobachtet worden; denn dieſe Stuͤke wuͤrden noch gefallen, wenn man gar alle Rebenſcenen weglieſſe, und nur die vornehm- ſten ohne Verbindung vorſtellte. Alsdenn aber waͤr ein ſolches Stuͤk kein Drama mehr, ſondern es waͤren einzele Theile eines Drama. (*) S. Einheiten. Dieſe Anmerkungen betreffen groͤßtentheils das Aeuſſere des Drama, wodurch es natuͤrlich und von anſtoͤßigen Fehlern der aͤuſſerlichen Form frey wird. Wichtiger iſt es, von ſeiner innerlichen Vollkom- menheit beſtimmte und richtige Begriffe zu haben. Das Schauſpiel muß nicht nur, ſowol in ſeinem Jn- halt uͤberhaupt, als in ſeinen einzelen Theilen, in- treſſant ſeyn, und Menſchen von Geſchmak in einer ununterbrochenen lebhaften Beſchaͤftigung des Gei- ſtes und des Herzens unterhalten, ſondern am End Eindruͤke zuruͤk laſſen, die einen vortheilhaften Ein- fluß auf die Gemuͤther haben. Die erſte Sorge des Dichters geht auf die Wahl eines intreſſanten Jnhalts. Er waͤhlt einen Ge- genſtand, der fuͤr Menſchen von Geſchmak und von empfindſamen Herzen hinlaͤngliche Reizung hat. Fuͤr einen Dichter von Genie, der den Menſchen ſowol aus der Geſchicht, als aus der taͤglichen Beobach- tung kennen gelernt hat, iſt die Materie zum Drama unerſchoͤpflich. Aus der Geſchichte ſelbſt ſtellen ſich die groͤßten oder die maͤchtigſten Maͤnner dar, denen ganze Nationen ihr gutes oder ſchlechtes Schikſal zu verdanken haben. Er weiß ſie wieder ins Leben zuruͤk zu fuͤhren, uns fuͤrs Geſichte zu ſtellen, und uns zu Zeugen ihrer merkwuͤrdigſten Thaten zu ma- chen, daß wir die groſſen Seelen eines Themiſto- kles, eines Alexanders, eines Cicero, und andrer claßiſcher Maͤnner, in ihren Reden und Handlun- gen ſich in unſrer Gegenwart entfalten ſehen. Noch mehr kann er reizen, wenn er die groͤßten Maͤnner ſeiner eigenen Nation, aus den verfloſſenen Jahr- hunderten, ſeinen Zuſchauern wieder vors Geſichte bringt. Will er ſeine Materie aus der allgemei- nen Naturgeſchichte des ſittlichen Menſchen nehmen, ſo hat er einen noch reichern Stoff. Die verſchie- denen Charaktere der Menſchen, ihre ſeltſamen Schikſale, ihre Leidenſchaften und derer Wuͤrkun- gen, die mannigfaltige Lebensarten und Sitten der Voͤlker und der verſchiedenen Staͤnde der Menſchen, bieten ſich ihm zur Bearbeitung dar. An intreſſantem Stoff kann es dem dramati- ſchen Dichter nie fehlen, wenn er nur ſelbſt nach Beſchaffenheit ſeiner Materie eine groſſe, oder eine Empfindungsvolle Seele, oder ein groſſes Maaß von ſeinem Witz und guter Laune hat. Aber die Bearbeitung dieſes Stoffes hat eigene Schwie-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/288>, abgerufen am 03.05.2024.