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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Acc
hen nach haben die ältesten dreystimmigen Gesänge ei-
ne Folge von consonirenden Accorden zum Grund
gehabt. Die Begierde die Harmonie reizender zu
machen, hat ohne Zweifel die Tonsetzer vermocht,
zwischen diese consonirenden Accorde hier und da
dißonirende zu setzen. Vermuthlich haben sie es zuerst
mit Accorden versucht, in denen nur eine Dißonanz
den consonirenden Tönen hinzugefügt, oder an
die Stelle einer Consonanz gesezt worden. Nach
und nach mögen sie bemerkt haben, daß mehrere
und sogar alle Töne des consonirenden Accords so
können verlezt werden, daß der Fortgang des Ge-
sanges dadurch angenehmer wird. Durch unzähli-
ge Proben dieser Art ist endlich eine sehr große
Anzahl verschiedener Accorde in die Musik eingeführt
worden, über deren Werth und Gebrauch man
noch nicht einstimmig ist, und worüber man ins-
gemein das Gehör der erfahrnesten Tonsetzer zum
Richter anruft.

Bey dieser Beschaffenheit der Sache wäre es sehr
zu wünschen, daß eine Methode entdekt würde,
durch welche man alle brauchbaren Accorde bestim-
men könnte. Der französische Tonsetzer Rameau
hat dieses versucht und hat bey vielen Beyfall gefun-
den. Jn der That scheinet er auch in manchen
Stüken auf den eigentlichen Grund der Sachen ge-
kommen zu seyn. Es würde für uns zu weitläuftig
seyn, sein System aus einander zusetzen, daher
wir uns begnügen, die Schriften anzuzeigen, in
denen man daßelbe findet [Spaltenumbruch] (+). Noch tiefer scheint
Tartini in den Grund der Sache gedrungen zu
seyn, aus dessen System sich die Accorde und ihr
Gebrauch herleiten ließen. Roußeau hat eine
sehr deutliche Entwiklung dieses Systems ge-
(*) Art.
Systeme.
geben (*). Nach genauer Ueberlegung der Sa-
chen scheint folgende Vorstellung dieser Materie
sich durch ihre Einfalt und Deutlichkeit vorzüg-
lich zu empfehlen.

Man kann zuerst annehmen, daß ein jedes Tonstük
blos auf eine Reyhe consonirender Accorde gegrün-
det sey, und zu dieser Voraussetzung die brauchbaren
Accorde aufsuchen; hernach kann man die Gründe
erforschen, aus denen wahrscheinlicher Weise die
[Spaltenumbruch]

Acc
Dißonanzen in der Harmonie entstanden sind, und
versuchen, ob dadurch die Anzahl und Beschaffenheit
der dißonirenden Accorde könne bestimmt werden.

Die erwähnte Voraussetzung hat nichts erzwun-
genes. Es ist wahrscheinlich, daß im Anfang, da
der vielstimmige Gesang aufgekommen, alles darin
blos consonirend gewesen sey, und man hat noch
gute Stüke ohne Dißonanzen in der Harmonie.
Es ist überdem eine nicht nur wahre, sondern wich-
tige und wesentliche Bemerkung, daß ein vollkom-
menes Tonstük allemal so gesezt seyn müße, daß,
wenn alle Dißonanzen ausgestrichen werden, das,
was übrig bleibet, einen guten harmonischen Zu-
sammenhang habe. Es ist demnach ein wesent-
licher Theil der Setzkunst, daß man einen Gesang
durch bloße consonirende Harmonien durchzufüh-
ren wiße.

Nun nehmen alle Tonlehrer dieses als einen
durch alle Erfahrungen bestätigten Grundsatz an,
daß ein consonirender Accord nur dreystimmig seyn
könne. Darin kommen alle überein, außer daß un-
längst ein großer Mathematiker zu behaupten ge-
sucht hat, daß sich auch ein consonirender vierstim-
miger Accord finde (*): dieses aber kann gegenwär-
tige Untersuchung nicht stöhren.

Ferner werden wir sowol durch das Zeugniß des
Ohrs, als durch die Untersuchung des Ursprungs
der Harmonie versichert, daß unter allen mögli-
chen dreystimmigen Accorden, derjenige, der ausS. Har-
monie.

der Terz, der Quint und Octave des Grundtones
zusammen gesezt ist, die vollkommenste Harmonie
habe. Dieser Accord wird deßwegen vorzüglich
der harmonische Dreyklang genennt.

Nun hat Rameau zuerst angemerkt, und alle
Tonlehrer haben die Richtigkeit seiner Bemerkung
erkennt; daß aus Verwechslung des harmonischen
Dreyklangs alle übrige consonirende dreystimmige
Accorde entstehen. Denn zu dem Dreyklang müssen
der Octave des Grundtones, noch zwey andre
Töne hinzugefügt werden, die man aus dieser
Reyhe, Secunde, Terz, Quarte, Quinte, Sexte
und Septime erwähnter Octave, aussuchen muß.
Aus dieser Reyhe werden sowol die Secunden, als

die
(+) Traitte de l' harmonie etc. par Mr. Ramean. 4to.
Marpurgs Handbuch zum Generalbaß und der Composi-
tion.
Desselben Uebersetzung des Herrn d' Alamberts
systematischer Einleitung in die Setzkunst. Dictionaire de
[Spaltenumbruch] Musique par J. J. Rousseau.
(*) Herr Euler in den
Memoires de l'Acad. Roy. des Sciences et Belles-Lettres
pour l'Annee
1764. S. 177. f. f.

[Spaltenumbruch]

Acc
hen nach haben die aͤlteſten dreyſtimmigen Geſaͤnge ei-
ne Folge von conſonirenden Accorden zum Grund
gehabt. Die Begierde die Harmonie reizender zu
machen, hat ohne Zweifel die Tonſetzer vermocht,
zwiſchen dieſe conſonirenden Accorde hier und da
dißonirende zu ſetzen. Vermuthlich haben ſie es zuerſt
mit Accorden verſucht, in denen nur eine Dißonanz
den conſonirenden Toͤnen hinzugefuͤgt, oder an
die Stelle einer Conſonanz geſezt worden. Nach
und nach moͤgen ſie bemerkt haben, daß mehrere
und ſogar alle Toͤne des conſonirenden Accords ſo
koͤnnen verlezt werden, daß der Fortgang des Ge-
ſanges dadurch angenehmer wird. Durch unzaͤhli-
ge Proben dieſer Art iſt endlich eine ſehr große
Anzahl verſchiedener Accorde in die Muſik eingefuͤhrt
worden, uͤber deren Werth und Gebrauch man
noch nicht einſtimmig iſt, und woruͤber man ins-
gemein das Gehoͤr der erfahrneſten Tonſetzer zum
Richter anruft.

Bey dieſer Beſchaffenheit der Sache waͤre es ſehr
zu wuͤnſchen, daß eine Methode entdekt wuͤrde,
durch welche man alle brauchbaren Accorde beſtim-
men koͤnnte. Der franzoͤſiſche Tonſetzer Rameau
hat dieſes verſucht und hat bey vielen Beyfall gefun-
den. Jn der That ſcheinet er auch in manchen
Stuͤken auf den eigentlichen Grund der Sachen ge-
kommen zu ſeyn. Es wuͤrde fuͤr uns zu weitlaͤuftig
ſeyn, ſein Syſtem aus einander zuſetzen, daher
wir uns begnuͤgen, die Schriften anzuzeigen, in
denen man daßelbe findet [Spaltenumbruch] (†). Noch tiefer ſcheint
Tartini in den Grund der Sache gedrungen zu
ſeyn, aus deſſen Syſtem ſich die Accorde und ihr
Gebrauch herleiten ließen. Roußeau hat eine
ſehr deutliche Entwiklung dieſes Syſtems ge-
(*) Art.
Syſteme.
geben (*). Nach genauer Ueberlegung der Sa-
chen ſcheint folgende Vorſtellung dieſer Materie
ſich durch ihre Einfalt und Deutlichkeit vorzuͤg-
lich zu empfehlen.

Man kann zuerſt annehmen, daß ein jedes Tonſtuͤk
blos auf eine Reyhe conſonirender Accorde gegruͤn-
det ſey, und zu dieſer Vorausſetzung die brauchbaren
Accorde aufſuchen; hernach kann man die Gruͤnde
erforſchen, aus denen wahrſcheinlicher Weiſe die
[Spaltenumbruch]

Acc
Dißonanzen in der Harmonie entſtanden ſind, und
verſuchen, ob dadurch die Anzahl und Beſchaffenheit
der dißonirenden Accorde koͤnne beſtimmt werden.

Die erwaͤhnte Vorausſetzung hat nichts erzwun-
genes. Es iſt wahrſcheinlich, daß im Anfang, da
der vielſtimmige Geſang aufgekommen, alles darin
blos conſonirend geweſen ſey, und man hat noch
gute Stuͤke ohne Dißonanzen in der Harmonie.
Es iſt uͤberdem eine nicht nur wahre, ſondern wich-
tige und weſentliche Bemerkung, daß ein vollkom-
menes Tonſtuͤk allemal ſo geſezt ſeyn muͤße, daß,
wenn alle Dißonanzen ausgeſtrichen werden, das,
was uͤbrig bleibet, einen guten harmoniſchen Zu-
ſammenhang habe. Es iſt demnach ein weſent-
licher Theil der Setzkunſt, daß man einen Geſang
durch bloße conſonirende Harmonien durchzufuͤh-
ren wiße.

Nun nehmen alle Tonlehrer dieſes als einen
durch alle Erfahrungen beſtaͤtigten Grundſatz an,
daß ein conſonirender Accord nur dreyſtimmig ſeyn
koͤnne. Darin kommen alle uͤberein, außer daß un-
laͤngſt ein großer Mathematiker zu behaupten ge-
ſucht hat, daß ſich auch ein conſonirender vierſtim-
miger Accord finde (*): dieſes aber kann gegenwaͤr-
tige Unterſuchung nicht ſtoͤhren.

Ferner werden wir ſowol durch das Zeugniß des
Ohrs, als durch die Unterſuchung des Urſprungs
der Harmonie verſichert, daß unter allen moͤgli-
chen dreyſtimmigen Accorden, derjenige, der ausS. Har-
monie.

der Terz, der Quint und Octave des Grundtones
zuſammen geſezt iſt, die vollkommenſte Harmonie
habe. Dieſer Accord wird deßwegen vorzuͤglich
der harmoniſche Dreyklang genennt.

Nun hat Rameau zuerſt angemerkt, und alle
Tonlehrer haben die Richtigkeit ſeiner Bemerkung
erkennt; daß aus Verwechslung des harmoniſchen
Dreyklangs alle uͤbrige conſonirende dreyſtimmige
Accorde entſtehen. Denn zu dem Dreyklang muͤſſen
der Octave des Grundtones, noch zwey andre
Toͤne hinzugefuͤgt werden, die man aus dieſer
Reyhe, Secunde, Terz, Quarte, Quinte, Sexte
und Septime erwaͤhnter Octave, ausſuchen muß.
Aus dieſer Reyhe werden ſowol die Secunden, als

die
(†) Traitté de l’ harmonie etc. par Mr. Ramean. 4to.
Marpurgs Handbuch zum Generalbaß und der Compoſi-
tion.
Deſſelben Ueberſetzung des Herrn d’ Alamberts
ſyſtematiſcher Einleitung in die Setzkunſt. Dictionaire de
[Spaltenumbruch] Muſique par J. J. Rouſſeau.
(*) Herr Euler in den
Memoires de l’Acad. Roy. des Sciences et Belles-Lettres
pour l’Année
1764. S. 177. f. f.
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[12/0024] Acc Acc hen nach haben die aͤlteſten dreyſtimmigen Geſaͤnge ei- ne Folge von conſonirenden Accorden zum Grund gehabt. Die Begierde die Harmonie reizender zu machen, hat ohne Zweifel die Tonſetzer vermocht, zwiſchen dieſe conſonirenden Accorde hier und da dißonirende zu ſetzen. Vermuthlich haben ſie es zuerſt mit Accorden verſucht, in denen nur eine Dißonanz den conſonirenden Toͤnen hinzugefuͤgt, oder an die Stelle einer Conſonanz geſezt worden. Nach und nach moͤgen ſie bemerkt haben, daß mehrere und ſogar alle Toͤne des conſonirenden Accords ſo koͤnnen verlezt werden, daß der Fortgang des Ge- ſanges dadurch angenehmer wird. Durch unzaͤhli- ge Proben dieſer Art iſt endlich eine ſehr große Anzahl verſchiedener Accorde in die Muſik eingefuͤhrt worden, uͤber deren Werth und Gebrauch man noch nicht einſtimmig iſt, und woruͤber man ins- gemein das Gehoͤr der erfahrneſten Tonſetzer zum Richter anruft. Bey dieſer Beſchaffenheit der Sache waͤre es ſehr zu wuͤnſchen, daß eine Methode entdekt wuͤrde, durch welche man alle brauchbaren Accorde beſtim- men koͤnnte. Der franzoͤſiſche Tonſetzer Rameau hat dieſes verſucht und hat bey vielen Beyfall gefun- den. Jn der That ſcheinet er auch in manchen Stuͤken auf den eigentlichen Grund der Sachen ge- kommen zu ſeyn. Es wuͤrde fuͤr uns zu weitlaͤuftig ſeyn, ſein Syſtem aus einander zuſetzen, daher wir uns begnuͤgen, die Schriften anzuzeigen, in denen man daßelbe findet (†). Noch tiefer ſcheint Tartini in den Grund der Sache gedrungen zu ſeyn, aus deſſen Syſtem ſich die Accorde und ihr Gebrauch herleiten ließen. Roußeau hat eine ſehr deutliche Entwiklung dieſes Syſtems ge- geben (*). Nach genauer Ueberlegung der Sa- chen ſcheint folgende Vorſtellung dieſer Materie ſich durch ihre Einfalt und Deutlichkeit vorzuͤg- lich zu empfehlen. (*) Art. Syſteme. Man kann zuerſt annehmen, daß ein jedes Tonſtuͤk blos auf eine Reyhe conſonirender Accorde gegruͤn- det ſey, und zu dieſer Vorausſetzung die brauchbaren Accorde aufſuchen; hernach kann man die Gruͤnde erforſchen, aus denen wahrſcheinlicher Weiſe die Dißonanzen in der Harmonie entſtanden ſind, und verſuchen, ob dadurch die Anzahl und Beſchaffenheit der dißonirenden Accorde koͤnne beſtimmt werden. Die erwaͤhnte Vorausſetzung hat nichts erzwun- genes. Es iſt wahrſcheinlich, daß im Anfang, da der vielſtimmige Geſang aufgekommen, alles darin blos conſonirend geweſen ſey, und man hat noch gute Stuͤke ohne Dißonanzen in der Harmonie. Es iſt uͤberdem eine nicht nur wahre, ſondern wich- tige und weſentliche Bemerkung, daß ein vollkom- menes Tonſtuͤk allemal ſo geſezt ſeyn muͤße, daß, wenn alle Dißonanzen ausgeſtrichen werden, das, was uͤbrig bleibet, einen guten harmoniſchen Zu- ſammenhang habe. Es iſt demnach ein weſent- licher Theil der Setzkunſt, daß man einen Geſang durch bloße conſonirende Harmonien durchzufuͤh- ren wiße. Nun nehmen alle Tonlehrer dieſes als einen durch alle Erfahrungen beſtaͤtigten Grundſatz an, daß ein conſonirender Accord nur dreyſtimmig ſeyn koͤnne. Darin kommen alle uͤberein, außer daß un- laͤngſt ein großer Mathematiker zu behaupten ge- ſucht hat, daß ſich auch ein conſonirender vierſtim- miger Accord finde (*): dieſes aber kann gegenwaͤr- tige Unterſuchung nicht ſtoͤhren. Ferner werden wir ſowol durch das Zeugniß des Ohrs, als durch die Unterſuchung des Urſprungs der Harmonie verſichert, daß unter allen moͤgli- chen dreyſtimmigen Accorden, derjenige, der aus der Terz, der Quint und Octave des Grundtones zuſammen geſezt iſt, die vollkommenſte Harmonie habe. Dieſer Accord wird deßwegen vorzuͤglich der harmoniſche Dreyklang genennt. S. Har- monie. Nun hat Rameau zuerſt angemerkt, und alle Tonlehrer haben die Richtigkeit ſeiner Bemerkung erkennt; daß aus Verwechslung des harmoniſchen Dreyklangs alle uͤbrige conſonirende dreyſtimmige Accorde entſtehen. Denn zu dem Dreyklang muͤſſen der Octave des Grundtones, noch zwey andre Toͤne hinzugefuͤgt werden, die man aus dieſer Reyhe, Secunde, Terz, Quarte, Quinte, Sexte und Septime erwaͤhnter Octave, ausſuchen muß. Aus dieſer Reyhe werden ſowol die Secunden, als die (†) Traitté de l’ harmonie etc. par Mr. Ramean. 4to. Marpurgs Handbuch zum Generalbaß und der Compoſi- tion. Deſſelben Ueberſetzung des Herrn d’ Alamberts ſyſtematiſcher Einleitung in die Setzkunſt. Dictionaire de Muſique par J. J. Rouſſeau. (*) Herr Euler in den Memoires de l’Acad. Roy. des Sciences et Belles-Lettres pour l’Année 1764. S. 177. f. f.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/24>, abgerufen am 22.11.2024.