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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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ist so gar möglich, Auftritte, wo die Handlung völ-
lig stille steht, die einigermaassen nur in fugam vacui,
damit die Scene nicht ganz leer sey, eingeführt
werden, ganz wichtig zu machen. Man kann sie da-
zu anwenden, daß man eine oder ein paar Personen
ihre Gedanken über das, was bereits geschehen ist,
oder über die gegenwärtige Lage der Sachen, oder
über das was noch geschehen soll, über die Cha-
raktere anderer Personen äussern läßt. Diese kön-
nen Betrachtungen anstellen, wodurch das Lehrrei-
che und Unterrichtende, das in der Handlung liegt,
in dem hellesten Licht erscheinet. Freylich muß der
Dichter Verstand genug haben, anstatt des gemei-
nen und alltäglichen, feine und treffende Anmer-
kungen zu machen, die moralischen oder philo-
sophischen Wahrheiten ein Licht und eine Kraft
geben, wodurch sie auf immer lebhaft und un-
vergeßlich bleiben. Dergleichen Scenen sind die
eigentlichen Stellen, wo die richtigsten Senten-
zen, Maximen, und Beobachtungen, die von al-
len verständigen Kunstrichtern unter die wichtigsten
(*) S.
Denksprü-
che.
Gegenstände der Dichtkunst gerechnet werden (*), in
ihrem vollen Licht erscheinen können. Es ist in der
That kaum eine wichtige philosophische oder mora-
lische Wahrheit, oder Lebensregel, oder Beobachtung
über Menschen und Sitten, kaum eine von den
praktischen Wahrheiten, die jeder Mensch beständig
vor Augen haben sollte, die der comische Dichter in
solchen Auftritten nicht sollte in einem Lichte zeigen
können, in welchem sie höchst überzeugend und tref-
fend sind. Für Zuschauer, die etwas höheres als
die Belustigung des Auges und der Phantasie suchen,
kann der ruhigste Auftritt wichtig werden. Nur in
dem niedrig comischen | muß jeder Augenblik mit
Handlung angefüllt seyn.

Ueberhaupt ist die Comödie zu lehrreichen und
unterrichtenden Auftritten von dieser Art sehr viel
bequemer, als das Trauerspiel. Tragische Auf-
tritte und Begebenheiten äussern sich in dem Le-
ben selten, da hingegen täglich Geschäfte vor-
fallen, denen Verstand, Klugheit, Mäßigung der
Leidenschaften, Kenntniß der Welt, Rechtschaf-
fenheit, jede einzele Tugend, einen erwünschten
Fortgang geben, oder darin das Gegentheil dieser
Eigenschaften, Verwirrung und Unordnung verur-
sachet. Jedem Menschen, der blos in den gewöhn-
lichen moralischen oder bürgerlichen Verbindungen
stehet, kommen fast täglich Fälle vor, bey denen
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sein Betragen gegen andere und seine ganze Art
zu denken und zu handeln von einiger Wichtig-
keit wird. So wie unser Körper täglich verschie-
denen Zufällen ausgesetzt ist, so ist es auch unser
moralischer Zustand: wir sind keinen Tag vor Pro-
cessen, vor Beleidigungen, die man uns anthut,
vor Zwistigkeiten mit andern Menschen, vor Feind-
schaften, vor Betrügereyen, sicher; und kaum ver-
geht ein Tag, da wir nicht nöthig haben, um man-
cherley Verdruß oder Verwirrung zu vermeiden,
bald aus Klugheit nachzugeben, bald mit guter Art
standhaft zu seyn, und andern Menschen, die wir
nicht beleidigen dürfen, oder doch nicht beleidigen
wollen, entgegen zu handeln. Bald müssen wir
uns selbst, bald andere besänftigen; itzt andere von
etwas überzeugen, denn von ihnen Vorstellung
annehmen und mit Unpartheylichkeit untersuchen;
itzt andre Menschen versöhnen, denn uns versöh-
nen lassen; Veniam dare petereque vicissim.

Welcher Mensch von Vernunft und Nachdenken
wird so gleichgültig, man möchte sagen, so brutal
seyn, daß er nicht wünschte, für Geschäfte und Vor-
fälle, von denen seine Ruhe, sein guter Name, seine
Ehre, und ofte das ganze Glück seines Lebens ab-
hängt, richtige und wolgezeichnete Muster vor sich
zu haben, die ihm auf eine einleuchtende Art zeigen,
was er hier zu thun und dort zu vermeiden habe?
Vergeblich sucht er in den Büchern der Moralisten
Unterricht und Rath; sie reden zu allgemein, er
wendet ihre Lehren nicht mit Zuverläßigkeit auf die
ihm vorkommenden Fälle an. Nur die comische
Bühne kann ihm für jeden Auftritt des Lebens die
wahren Muster des Guten und des Bösen, des Ver-
nünftigen und Unvernünftigen geben; dabey zeich-
net sie ihm die Fälle so genau mit allen Umständen
bestimmt vor, daß er nicht blos sieht, was er zu thun
hat, sondern wie er es thun soll; sie giebt ihm
nicht blos das spekulative, sondern das zum Leben
allein nützliche praktische Urtheil.

Es kann niemand zweifeln, daß alle diese wich-
tige Gegenstände, deren hier Erwähnung geschieht,
nicht die eigentliche Materie der Comödie seyen:
also kommt es nur auf den Verstand und das Genie
des comischen Dichters an, durch eine gute Behand-
lung derselben höchst lehrreich, und folglich für nach-
denkende Menschen höchst interessant zu seyn. Wie
aber nach diesen Begriffen die Comödie nichts anders
ist, als die praktische Philosophie durch Handlungen

aus-
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Com
iſt ſo gar moͤglich, Auftritte, wo die Handlung voͤl-
lig ſtille ſteht, die einigermaaſſen nur in fugam vacui,
damit die Scene nicht ganz leer ſey, eingefuͤhrt
werden, ganz wichtig zu machen. Man kann ſie da-
zu anwenden, daß man eine oder ein paar Perſonen
ihre Gedanken uͤber das, was bereits geſchehen iſt,
oder uͤber die gegenwaͤrtige Lage der Sachen, oder
uͤber das was noch geſchehen ſoll, uͤber die Cha-
raktere anderer Perſonen aͤuſſern laͤßt. Dieſe koͤn-
nen Betrachtungen anſtellen, wodurch das Lehrrei-
che und Unterrichtende, das in der Handlung liegt,
in dem helleſten Licht erſcheinet. Freylich muß der
Dichter Verſtand genug haben, anſtatt des gemei-
nen und alltaͤglichen, feine und treffende Anmer-
kungen zu machen, die moraliſchen oder philo-
ſophiſchen Wahrheiten ein Licht und eine Kraft
geben, wodurch ſie auf immer lebhaft und un-
vergeßlich bleiben. Dergleichen Scenen ſind die
eigentlichen Stellen, wo die richtigſten Senten-
zen, Maximen, und Beobachtungen, die von al-
len verſtaͤndigen Kunſtrichtern unter die wichtigſten
(*) S.
Denkſpruͤ-
che.
Gegenſtaͤnde der Dichtkunſt gerechnet werden (*), in
ihrem vollen Licht erſcheinen koͤnnen. Es iſt in der
That kaum eine wichtige philoſophiſche oder mora-
liſche Wahrheit, oder Lebensregel, oder Beobachtung
uͤber Menſchen und Sitten, kaum eine von den
praktiſchen Wahrheiten, die jeder Menſch beſtaͤndig
vor Augen haben ſollte, die der comiſche Dichter in
ſolchen Auftritten nicht ſollte in einem Lichte zeigen
koͤnnen, in welchem ſie hoͤchſt uͤberzeugend und tref-
fend ſind. Fuͤr Zuſchauer, die etwas hoͤheres als
die Beluſtigung des Auges und der Phantaſie ſuchen,
kann der ruhigſte Auftritt wichtig werden. Nur in
dem niedrig comiſchen | muß jeder Augenblik mit
Handlung angefuͤllt ſeyn.

Ueberhaupt iſt die Comoͤdie zu lehrreichen und
unterrichtenden Auftritten von dieſer Art ſehr viel
bequemer, als das Trauerſpiel. Tragiſche Auf-
tritte und Begebenheiten aͤuſſern ſich in dem Le-
ben ſelten, da hingegen taͤglich Geſchaͤfte vor-
fallen, denen Verſtand, Klugheit, Maͤßigung der
Leidenſchaften, Kenntniß der Welt, Rechtſchaf-
fenheit, jede einzele Tugend, einen erwuͤnſchten
Fortgang geben, oder darin das Gegentheil dieſer
Eigenſchaften, Verwirrung und Unordnung verur-
ſachet. Jedem Menſchen, der blos in den gewoͤhn-
lichen moraliſchen oder buͤrgerlichen Verbindungen
ſtehet, kommen faſt taͤglich Faͤlle vor, bey denen
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Com
ſein Betragen gegen andere und ſeine ganze Art
zu denken und zu handeln von einiger Wichtig-
keit wird. So wie unſer Koͤrper taͤglich verſchie-
denen Zufaͤllen ausgeſetzt iſt, ſo iſt es auch unſer
moraliſcher Zuſtand: wir ſind keinen Tag vor Pro-
ceſſen, vor Beleidigungen, die man uns anthut,
vor Zwiſtigkeiten mit andern Menſchen, vor Feind-
ſchaften, vor Betruͤgereyen, ſicher; und kaum ver-
geht ein Tag, da wir nicht noͤthig haben, um man-
cherley Verdruß oder Verwirrung zu vermeiden,
bald aus Klugheit nachzugeben, bald mit guter Art
ſtandhaft zu ſeyn, und andern Menſchen, die wir
nicht beleidigen duͤrfen, oder doch nicht beleidigen
wollen, entgegen zu handeln. Bald muͤſſen wir
uns ſelbſt, bald andere beſaͤnftigen; itzt andere von
etwas uͤberzeugen, denn von ihnen Vorſtellung
annehmen und mit Unpartheylichkeit unterſuchen;
itzt andre Menſchen verſoͤhnen, denn uns verſoͤh-
nen laſſen; Veniam dare petereque viciſſim.

Welcher Menſch von Vernunft und Nachdenken
wird ſo gleichguͤltig, man moͤchte ſagen, ſo brutal
ſeyn, daß er nicht wuͤnſchte, fuͤr Geſchaͤfte und Vor-
faͤlle, von denen ſeine Ruhe, ſein guter Name, ſeine
Ehre, und ofte das ganze Gluͤck ſeines Lebens ab-
haͤngt, richtige und wolgezeichnete Muſter vor ſich
zu haben, die ihm auf eine einleuchtende Art zeigen,
was er hier zu thun und dort zu vermeiden habe?
Vergeblich ſucht er in den Buͤchern der Moraliſten
Unterricht und Rath; ſie reden zu allgemein, er
wendet ihre Lehren nicht mit Zuverlaͤßigkeit auf die
ihm vorkommenden Faͤlle an. Nur die comiſche
Buͤhne kann ihm fuͤr jeden Auftritt des Lebens die
wahren Muſter des Guten und des Boͤſen, des Ver-
nuͤnftigen und Unvernuͤnftigen geben; dabey zeich-
net ſie ihm die Faͤlle ſo genau mit allen Umſtaͤnden
beſtimmt vor, daß er nicht blos ſieht, was er zu thun
hat, ſondern wie er es thun ſoll; ſie giebt ihm
nicht blos das ſpekulative, ſondern das zum Leben
allein nuͤtzliche praktiſche Urtheil.

Es kann niemand zweifeln, daß alle dieſe wich-
tige Gegenſtaͤnde, deren hier Erwaͤhnung geſchieht,
nicht die eigentliche Materie der Comoͤdie ſeyen:
alſo kommt es nur auf den Verſtand und das Genie
des comiſchen Dichters an, durch eine gute Behand-
lung derſelben hoͤchſt lehrreich, und folglich fuͤr nach-
denkende Menſchen hoͤchſt intereſſant zu ſeyn. Wie
aber nach dieſen Begriffen die Comoͤdie nichts anders
iſt, als die praktiſche Philoſophie durch Handlungen

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[219/0231] Com Com iſt ſo gar moͤglich, Auftritte, wo die Handlung voͤl- lig ſtille ſteht, die einigermaaſſen nur in fugam vacui, damit die Scene nicht ganz leer ſey, eingefuͤhrt werden, ganz wichtig zu machen. Man kann ſie da- zu anwenden, daß man eine oder ein paar Perſonen ihre Gedanken uͤber das, was bereits geſchehen iſt, oder uͤber die gegenwaͤrtige Lage der Sachen, oder uͤber das was noch geſchehen ſoll, uͤber die Cha- raktere anderer Perſonen aͤuſſern laͤßt. Dieſe koͤn- nen Betrachtungen anſtellen, wodurch das Lehrrei- che und Unterrichtende, das in der Handlung liegt, in dem helleſten Licht erſcheinet. Freylich muß der Dichter Verſtand genug haben, anſtatt des gemei- nen und alltaͤglichen, feine und treffende Anmer- kungen zu machen, die moraliſchen oder philo- ſophiſchen Wahrheiten ein Licht und eine Kraft geben, wodurch ſie auf immer lebhaft und un- vergeßlich bleiben. Dergleichen Scenen ſind die eigentlichen Stellen, wo die richtigſten Senten- zen, Maximen, und Beobachtungen, die von al- len verſtaͤndigen Kunſtrichtern unter die wichtigſten Gegenſtaͤnde der Dichtkunſt gerechnet werden (*), in ihrem vollen Licht erſcheinen koͤnnen. Es iſt in der That kaum eine wichtige philoſophiſche oder mora- liſche Wahrheit, oder Lebensregel, oder Beobachtung uͤber Menſchen und Sitten, kaum eine von den praktiſchen Wahrheiten, die jeder Menſch beſtaͤndig vor Augen haben ſollte, die der comiſche Dichter in ſolchen Auftritten nicht ſollte in einem Lichte zeigen koͤnnen, in welchem ſie hoͤchſt uͤberzeugend und tref- fend ſind. Fuͤr Zuſchauer, die etwas hoͤheres als die Beluſtigung des Auges und der Phantaſie ſuchen, kann der ruhigſte Auftritt wichtig werden. Nur in dem niedrig comiſchen | muß jeder Augenblik mit Handlung angefuͤllt ſeyn. (*) S. Denkſpruͤ- che. Ueberhaupt iſt die Comoͤdie zu lehrreichen und unterrichtenden Auftritten von dieſer Art ſehr viel bequemer, als das Trauerſpiel. Tragiſche Auf- tritte und Begebenheiten aͤuſſern ſich in dem Le- ben ſelten, da hingegen taͤglich Geſchaͤfte vor- fallen, denen Verſtand, Klugheit, Maͤßigung der Leidenſchaften, Kenntniß der Welt, Rechtſchaf- fenheit, jede einzele Tugend, einen erwuͤnſchten Fortgang geben, oder darin das Gegentheil dieſer Eigenſchaften, Verwirrung und Unordnung verur- ſachet. Jedem Menſchen, der blos in den gewoͤhn- lichen moraliſchen oder buͤrgerlichen Verbindungen ſtehet, kommen faſt taͤglich Faͤlle vor, bey denen ſein Betragen gegen andere und ſeine ganze Art zu denken und zu handeln von einiger Wichtig- keit wird. So wie unſer Koͤrper taͤglich verſchie- denen Zufaͤllen ausgeſetzt iſt, ſo iſt es auch unſer moraliſcher Zuſtand: wir ſind keinen Tag vor Pro- ceſſen, vor Beleidigungen, die man uns anthut, vor Zwiſtigkeiten mit andern Menſchen, vor Feind- ſchaften, vor Betruͤgereyen, ſicher; und kaum ver- geht ein Tag, da wir nicht noͤthig haben, um man- cherley Verdruß oder Verwirrung zu vermeiden, bald aus Klugheit nachzugeben, bald mit guter Art ſtandhaft zu ſeyn, und andern Menſchen, die wir nicht beleidigen duͤrfen, oder doch nicht beleidigen wollen, entgegen zu handeln. Bald muͤſſen wir uns ſelbſt, bald andere beſaͤnftigen; itzt andere von etwas uͤberzeugen, denn von ihnen Vorſtellung annehmen und mit Unpartheylichkeit unterſuchen; itzt andre Menſchen verſoͤhnen, denn uns verſoͤh- nen laſſen; Veniam dare petereque viciſſim. Welcher Menſch von Vernunft und Nachdenken wird ſo gleichguͤltig, man moͤchte ſagen, ſo brutal ſeyn, daß er nicht wuͤnſchte, fuͤr Geſchaͤfte und Vor- faͤlle, von denen ſeine Ruhe, ſein guter Name, ſeine Ehre, und ofte das ganze Gluͤck ſeines Lebens ab- haͤngt, richtige und wolgezeichnete Muſter vor ſich zu haben, die ihm auf eine einleuchtende Art zeigen, was er hier zu thun und dort zu vermeiden habe? Vergeblich ſucht er in den Buͤchern der Moraliſten Unterricht und Rath; ſie reden zu allgemein, er wendet ihre Lehren nicht mit Zuverlaͤßigkeit auf die ihm vorkommenden Faͤlle an. Nur die comiſche Buͤhne kann ihm fuͤr jeden Auftritt des Lebens die wahren Muſter des Guten und des Boͤſen, des Ver- nuͤnftigen und Unvernuͤnftigen geben; dabey zeich- net ſie ihm die Faͤlle ſo genau mit allen Umſtaͤnden beſtimmt vor, daß er nicht blos ſieht, was er zu thun hat, ſondern wie er es thun ſoll; ſie giebt ihm nicht blos das ſpekulative, ſondern das zum Leben allein nuͤtzliche praktiſche Urtheil. Es kann niemand zweifeln, daß alle dieſe wich- tige Gegenſtaͤnde, deren hier Erwaͤhnung geſchieht, nicht die eigentliche Materie der Comoͤdie ſeyen: alſo kommt es nur auf den Verſtand und das Genie des comiſchen Dichters an, durch eine gute Behand- lung derſelben hoͤchſt lehrreich, und folglich fuͤr nach- denkende Menſchen hoͤchſt intereſſant zu ſeyn. Wie aber nach dieſen Begriffen die Comoͤdie nichts anders iſt, als die praktiſche Philoſophie durch Handlungen aus- E e 2

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 219. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/231>, abgerufen am 24.04.2024.