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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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denselben höchst aufmerksam machen. Ofte wird er
uns den Streit der Vernunft gegen die Leidenschaf-
ten zeigen. Er wird sowol dem Schalk als dem Heuch-
ler die Maske abreissen, und beyde in ihrer wahren
Gestalt für unser Gesicht bringen. Den rechtschaf-
fenen Mann aber wird er in den mancherley ver-
worrenen Umständen des Lebens in einem Lichte zei-
gen, wodurch wir von Hochachtung gegen ihn durch-
drungen werden. Alles Gegenstände, die an sich
höchst interessant sind, und durch die Kunst des Dich-
ters es noch mehr werden. Denn werden ihm auch
die mancherley Zufalle des menschlichen Lebens, das
Verhalten der Menschen von verschiedener Gemüths-
art bey denselben, eine sehr reiche Quelle zu den
interessantesten Gemählden geben.

Der Stoff zur Comödie ist so mannigfaltig, daß
verschiedene merklich von einander abgehende Arten
der Comödie daher entstehen können. Es würde nicht
ohne Nutzen seyn, wenn diese Arten näher bestimmt,
und jeder Art besondere Beschaffenheit umständlich
aus einander gesetzt würde. Diejenigen, darin haupt-
sächlich alles auf die vollkommene Auszeichnung ei-
nes Charakters ankommt, könnte man Comödien
der Charaktere
nennen. Von dieser Art haben wir
sehr viele: wie den Geizigen, den Ruhmräthigen,
den Lügner, den Mann nach der Uhr, u. d. gl. Diese
Gattung allein ist an Stoff beynahe unerschöpflich,
da die Mischung der Charaktere selbst unendlich ver-
schieden ist. Es sind noch ungemein viel Charaktere,
die, ob sie gleich interessant sind, von keinem Dich-
ter besonders behandelt worden.

Man hat für die Historienmahler aus der Ge-
schichte, aus den Dichtern und aus den Romanen
interessante Scenen zu historischen Gemählden zusam-
men gesucht: weit wichtiger wäre es für die comi-
sche Schaubühne, noch nicht behandelte merkwür-
dige Charaktere zu sammeln.

Zu dieser Gattung der Comödie ist die Handlung
so zu wählen, daß die Umstände, in welche die
Hauptperson versetzt wird, ihrem Charakter auf
mancherley Weise entgegen stehen: der Misantrop
muß, wie Diderot sagt, sich in eine Coquette, und
Harpagon in ein armes Mädchen verlieben. Die
meisten Kunstrichter wollen haben, der comische
Dichter soll entgegengesetzte Charakter neben ein-
ander stellen, damit sie sich durch den Gegensatz
desto besser heben: aber der angeführte scharfsinnige
Mann hat gründlich gezeiget, daß diese Regel kei-
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nen Grund habe, und daß der Contrast in dem Wi-
derstreitenden zu suchen sey, das die Situationen,
die vorübergehenden Leidenschaften mit dem Charakter
haben. Vornehmlich aber ist dieses wichtig, daß in
solchen Stüken nicht mehr, als ein Hauptcharakter
vorkomme, dem alles übrige untergeordnet sey.
Dieses ist eine Einheit, die noch weit wesentlicher
ist, als die Einheit der Zeit und des Orts. Die
vollkommenste Ausführung des Plans in einer Co-
mödie dieser Art würde diese seyn: Ein Mensch würde
in eine Situation gesetzet, die einen völligen Conflikt
mit seinem Charakter macht. Also müßte entweder
der Charakter den Umständen nachgeben, oder in
diesen müßte durch die, dem Charakter gemässe Hand-
lungen, eine solche Wendung hervorgebracht werden,
daß der Charakter am Ende sein Recht behielte: das
ist; entweder würde der Charakter über die Situa-
tion der Sachen; oder die Sachen über den Charakter
den Sieg erhalten.

Es ist leicht zu sehen, wie ein solcher Plan, wenn
er recht gut ausgeführt wird, ein immerwähren-
des Jnteresse vom Anfang bis zum Ende in der
Handlung unterhält, und wie mannigfaltige Ab-
wechslung der Vorstellungen noch überdem, durch
die Nebenpersonen erwachsen würden. Etwas von
einer solchen Behandlung sieht man in dem Tartüffe
des Moliere; aber sein Geiziger ist gar nicht nach
dieser Art behandelt, und auch dieserhalb sehr weit
unter jenem. Denn den Charakter so behandeln,
daß alle Augenblike eine neue, in der Haupthand-
lung nicht gegründete Situation, die mit dem Cha-
rakter streitet, entstehet; giebt eine aus blos ein-
zeln, keinen wahren Zusammenhang habenden Sce-
nen bestehende Comödie. Es ist allemal ein Fehler
gegen die Einheit der Handlung, wenn der Dichter
etwas anbringt, das nicht aus der Lage der Sa-
chen in der Haupthandlung entsteht, wenn es gleich
genau in dem Charakter der handelnden Personen
ist; denn es führet immer von der Haupthandlung
ab. So ist das, was Terenz im Eünuchus in dem
ersten Auftritt der dritten Handlung anbringt, zwar
gut, um den Charakter des Thraso zu bezeichnen;
aber es fällt ganz ausser die Handlung.

Bey dieser Art der Comödie kann man die Ab-
sicht haben, durch seltsame Charakter blos zu belu-
stigen, oder häßliche verhaßt und verächtlich, oder
edle und gute in ihrem liebenswürdigen Lichte zu zei-
gen. Also ist die Comödie der Charaktere eines sehr

ver-

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Com
denſelben hoͤchſt aufmerkſam machen. Ofte wird er
uns den Streit der Vernunft gegen die Leidenſchaf-
ten zeigen. Er wird ſowol dem Schalk als dem Heuch-
ler die Maske abreiſſen, und beyde in ihrer wahren
Geſtalt fuͤr unſer Geſicht bringen. Den rechtſchaf-
fenen Mann aber wird er in den mancherley ver-
worrenen Umſtaͤnden des Lebens in einem Lichte zei-
gen, wodurch wir von Hochachtung gegen ihn durch-
drungen werden. Alles Gegenſtaͤnde, die an ſich
hoͤchſt intereſſant ſind, und durch die Kunſt des Dich-
ters es noch mehr werden. Denn werden ihm auch
die mancherley Zufalle des menſchlichen Lebens, das
Verhalten der Menſchen von verſchiedener Gemuͤths-
art bey denſelben, eine ſehr reiche Quelle zu den
intereſſanteſten Gemaͤhlden geben.

Der Stoff zur Comoͤdie iſt ſo mannigfaltig, daß
verſchiedene merklich von einander abgehende Arten
der Comoͤdie daher entſtehen koͤnnen. Es wuͤrde nicht
ohne Nutzen ſeyn, wenn dieſe Arten naͤher beſtimmt,
und jeder Art beſondere Beſchaffenheit umſtaͤndlich
aus einander geſetzt wuͤrde. Diejenigen, darin haupt-
ſaͤchlich alles auf die vollkommene Auszeichnung ei-
nes Charakters ankommt, koͤnnte man Comoͤdien
der Charaktere
nennen. Von dieſer Art haben wir
ſehr viele: wie den Geizigen, den Ruhmraͤthigen,
den Luͤgner, den Mann nach der Uhr, u. d. gl. Dieſe
Gattung allein iſt an Stoff beynahe unerſchoͤpflich,
da die Miſchung der Charaktere ſelbſt unendlich ver-
ſchieden iſt. Es ſind noch ungemein viel Charaktere,
die, ob ſie gleich intereſſant ſind, von keinem Dich-
ter beſonders behandelt worden.

Man hat fuͤr die Hiſtorienmahler aus der Ge-
ſchichte, aus den Dichtern und aus den Romanen
intereſſante Scenen zu hiſtoriſchen Gemaͤhlden zuſam-
men geſucht: weit wichtiger waͤre es fuͤr die comi-
ſche Schaubuͤhne, noch nicht behandelte merkwuͤr-
dige Charaktere zu ſammeln.

Zu dieſer Gattung der Comoͤdie iſt die Handlung
ſo zu waͤhlen, daß die Umſtaͤnde, in welche die
Hauptperſon verſetzt wird, ihrem Charakter auf
mancherley Weiſe entgegen ſtehen: der Miſantrop
muß, wie Diderot ſagt, ſich in eine Coquette, und
Harpagon in ein armes Maͤdchen verlieben. Die
meiſten Kunſtrichter wollen haben, der comiſche
Dichter ſoll entgegengeſetzte Charakter neben ein-
ander ſtellen, damit ſie ſich durch den Gegenſatz
deſto beſſer heben: aber der angefuͤhrte ſcharfſinnige
Mann hat gruͤndlich gezeiget, daß dieſe Regel kei-
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Com
nen Grund habe, und daß der Contraſt in dem Wi-
derſtreitenden zu ſuchen ſey, das die Situationen,
die voruͤbergehenden Leidenſchaften mit dem Charakter
haben. Vornehmlich aber iſt dieſes wichtig, daß in
ſolchen Stuͤken nicht mehr, als ein Hauptcharakter
vorkomme, dem alles uͤbrige untergeordnet ſey.
Dieſes iſt eine Einheit, die noch weit weſentlicher
iſt, als die Einheit der Zeit und des Orts. Die
vollkommenſte Ausfuͤhrung des Plans in einer Co-
moͤdie dieſer Art wuͤrde dieſe ſeyn: Ein Menſch wuͤrde
in eine Situation geſetzet, die einen voͤlligen Conflikt
mit ſeinem Charakter macht. Alſo muͤßte entweder
der Charakter den Umſtaͤnden nachgeben, oder in
dieſen muͤßte durch die, dem Charakter gemaͤſſe Hand-
lungen, eine ſolche Wendung hervorgebracht werden,
daß der Charakter am Ende ſein Recht behielte: das
iſt; entweder wuͤrde der Charakter uͤber die Situa-
tion der Sachen; oder die Sachen uͤber den Charakter
den Sieg erhalten.

Es iſt leicht zu ſehen, wie ein ſolcher Plan, wenn
er recht gut ausgefuͤhrt wird, ein immerwaͤhren-
des Jntereſſe vom Anfang bis zum Ende in der
Handlung unterhaͤlt, und wie mannigfaltige Ab-
wechslung der Vorſtellungen noch uͤberdem, durch
die Nebenperſonen erwachſen wuͤrden. Etwas von
einer ſolchen Behandlung ſieht man in dem Tartuͤffe
des Moliere; aber ſein Geiziger iſt gar nicht nach
dieſer Art behandelt, und auch dieſerhalb ſehr weit
unter jenem. Denn den Charakter ſo behandeln,
daß alle Augenblike eine neue, in der Haupthand-
lung nicht gegruͤndete Situation, die mit dem Cha-
rakter ſtreitet, entſtehet; giebt eine aus blos ein-
zeln, keinen wahren Zuſammenhang habenden Sce-
nen beſtehende Comoͤdie. Es iſt allemal ein Fehler
gegen die Einheit der Handlung, wenn der Dichter
etwas anbringt, das nicht aus der Lage der Sa-
chen in der Haupthandlung entſteht, wenn es gleich
genau in dem Charakter der handelnden Perſonen
iſt; denn es fuͤhret immer von der Haupthandlung
ab. So iſt das, was Terenz im Euͤnuchus in dem
erſten Auftritt der dritten Handlung anbringt, zwar
gut, um den Charakter des Thraſo zu bezeichnen;
aber es faͤllt ganz auſſer die Handlung.

Bey dieſer Art der Comoͤdie kann man die Ab-
ſicht haben, durch ſeltſame Charakter blos zu belu-
ſtigen, oder haͤßliche verhaßt und veraͤchtlich, oder
edle und gute in ihrem liebenswuͤrdigen Lichte zu zei-
gen. Alſo iſt die Comoͤdie der Charaktere eines ſehr

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[215/0227] Com Com denſelben hoͤchſt aufmerkſam machen. Ofte wird er uns den Streit der Vernunft gegen die Leidenſchaf- ten zeigen. Er wird ſowol dem Schalk als dem Heuch- ler die Maske abreiſſen, und beyde in ihrer wahren Geſtalt fuͤr unſer Geſicht bringen. Den rechtſchaf- fenen Mann aber wird er in den mancherley ver- worrenen Umſtaͤnden des Lebens in einem Lichte zei- gen, wodurch wir von Hochachtung gegen ihn durch- drungen werden. Alles Gegenſtaͤnde, die an ſich hoͤchſt intereſſant ſind, und durch die Kunſt des Dich- ters es noch mehr werden. Denn werden ihm auch die mancherley Zufalle des menſchlichen Lebens, das Verhalten der Menſchen von verſchiedener Gemuͤths- art bey denſelben, eine ſehr reiche Quelle zu den intereſſanteſten Gemaͤhlden geben. Der Stoff zur Comoͤdie iſt ſo mannigfaltig, daß verſchiedene merklich von einander abgehende Arten der Comoͤdie daher entſtehen koͤnnen. Es wuͤrde nicht ohne Nutzen ſeyn, wenn dieſe Arten naͤher beſtimmt, und jeder Art beſondere Beſchaffenheit umſtaͤndlich aus einander geſetzt wuͤrde. Diejenigen, darin haupt- ſaͤchlich alles auf die vollkommene Auszeichnung ei- nes Charakters ankommt, koͤnnte man Comoͤdien der Charaktere nennen. Von dieſer Art haben wir ſehr viele: wie den Geizigen, den Ruhmraͤthigen, den Luͤgner, den Mann nach der Uhr, u. d. gl. Dieſe Gattung allein iſt an Stoff beynahe unerſchoͤpflich, da die Miſchung der Charaktere ſelbſt unendlich ver- ſchieden iſt. Es ſind noch ungemein viel Charaktere, die, ob ſie gleich intereſſant ſind, von keinem Dich- ter beſonders behandelt worden. Man hat fuͤr die Hiſtorienmahler aus der Ge- ſchichte, aus den Dichtern und aus den Romanen intereſſante Scenen zu hiſtoriſchen Gemaͤhlden zuſam- men geſucht: weit wichtiger waͤre es fuͤr die comi- ſche Schaubuͤhne, noch nicht behandelte merkwuͤr- dige Charaktere zu ſammeln. Zu dieſer Gattung der Comoͤdie iſt die Handlung ſo zu waͤhlen, daß die Umſtaͤnde, in welche die Hauptperſon verſetzt wird, ihrem Charakter auf mancherley Weiſe entgegen ſtehen: der Miſantrop muß, wie Diderot ſagt, ſich in eine Coquette, und Harpagon in ein armes Maͤdchen verlieben. Die meiſten Kunſtrichter wollen haben, der comiſche Dichter ſoll entgegengeſetzte Charakter neben ein- ander ſtellen, damit ſie ſich durch den Gegenſatz deſto beſſer heben: aber der angefuͤhrte ſcharfſinnige Mann hat gruͤndlich gezeiget, daß dieſe Regel kei- nen Grund habe, und daß der Contraſt in dem Wi- derſtreitenden zu ſuchen ſey, das die Situationen, die voruͤbergehenden Leidenſchaften mit dem Charakter haben. Vornehmlich aber iſt dieſes wichtig, daß in ſolchen Stuͤken nicht mehr, als ein Hauptcharakter vorkomme, dem alles uͤbrige untergeordnet ſey. Dieſes iſt eine Einheit, die noch weit weſentlicher iſt, als die Einheit der Zeit und des Orts. Die vollkommenſte Ausfuͤhrung des Plans in einer Co- moͤdie dieſer Art wuͤrde dieſe ſeyn: Ein Menſch wuͤrde in eine Situation geſetzet, die einen voͤlligen Conflikt mit ſeinem Charakter macht. Alſo muͤßte entweder der Charakter den Umſtaͤnden nachgeben, oder in dieſen muͤßte durch die, dem Charakter gemaͤſſe Hand- lungen, eine ſolche Wendung hervorgebracht werden, daß der Charakter am Ende ſein Recht behielte: das iſt; entweder wuͤrde der Charakter uͤber die Situa- tion der Sachen; oder die Sachen uͤber den Charakter den Sieg erhalten. Es iſt leicht zu ſehen, wie ein ſolcher Plan, wenn er recht gut ausgefuͤhrt wird, ein immerwaͤhren- des Jntereſſe vom Anfang bis zum Ende in der Handlung unterhaͤlt, und wie mannigfaltige Ab- wechslung der Vorſtellungen noch uͤberdem, durch die Nebenperſonen erwachſen wuͤrden. Etwas von einer ſolchen Behandlung ſieht man in dem Tartuͤffe des Moliere; aber ſein Geiziger iſt gar nicht nach dieſer Art behandelt, und auch dieſerhalb ſehr weit unter jenem. Denn den Charakter ſo behandeln, daß alle Augenblike eine neue, in der Haupthand- lung nicht gegruͤndete Situation, die mit dem Cha- rakter ſtreitet, entſtehet; giebt eine aus blos ein- zeln, keinen wahren Zuſammenhang habenden Sce- nen beſtehende Comoͤdie. Es iſt allemal ein Fehler gegen die Einheit der Handlung, wenn der Dichter etwas anbringt, das nicht aus der Lage der Sa- chen in der Haupthandlung entſteht, wenn es gleich genau in dem Charakter der handelnden Perſonen iſt; denn es fuͤhret immer von der Haupthandlung ab. So iſt das, was Terenz im Euͤnuchus in dem erſten Auftritt der dritten Handlung anbringt, zwar gut, um den Charakter des Thraſo zu bezeichnen; aber es faͤllt ganz auſſer die Handlung. Bey dieſer Art der Comoͤdie kann man die Ab- ſicht haben, durch ſeltſame Charakter blos zu belu- ſtigen, oder haͤßliche verhaßt und veraͤchtlich, oder edle und gute in ihrem liebenswuͤrdigen Lichte zu zei- gen. Alſo iſt die Comoͤdie der Charaktere eines ſehr ver-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 215. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/227>, abgerufen am 19.04.2024.