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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Cho
nächste Nachahmung des alten Trauerspiels zu seyn.
Einige Engländer haben versucht die Chöre wieder
einzuführen, und selbst Racine hat es in der Atha-
lia gethan.

Auch im Lustspiel hatten die Alten anfänglich
Chöre, die aber zeitig abgeschaft worden. Jn der
alten atheniensischen Comödie, war die Beforgung
des Chors einem Mann aufgetragen, der allemal
durch eine öffentliche Wahl dazu ernennt worden;
dieser mußte die Sänger des Chors bezahlen. Als
aber jener, welcher Choragos genennt wurd, ab-
geschaft worden, gingen auch die Chöre ein, weil
niemand die Sänger bezahlen wollte. [Spaltenumbruch] (+)

Auch die Lieder, welche der Chor abgesungen hat,
werden Chöre genennt. Sie machen einen wichti-
gen Theil dessen aus, was uns von der lyrischen
Poesie der Griechen übrig geblieben ist. Sie sind,
so wie die pindarischen Oden in Strophen und An-
tistrophen eingetheilt, und bestehen meist aus sehr
kurzen lyrischen Versen. Es scheinet, daß die
Dichter auf diese Chöre den größten Fleis gewen-
det, und dabey hauptsächlich zum Augenmerk ge-
habt haben, sie zu Nationalgesängen zu machen;
wie man denn verschiedentlich Spuhren findet, daß
viele diese Lieder auswendig gekonnt, und wie
sich etwa Gelegenheit dazu gezeiget, abgesungen ha-
ben. Was für Kraft diese Gesänge auf die Gemü-
ther gehabt haben, läßt sich aus folgenden zwey
(*) Jn dem
Leben des
Nicias.
Anekdoten abnehmen. Plutarchus berichtet, (*) daß
viel von den unglüklichen Atheniensern, die nach
der berühmten Niederlage, die Nicias in Sicilien
erlidten, zu Sclaven gemacht worden, durch Absin-
gung der rührenden Lieder des Euripides ihre Frey-
heit wieder bekommen haben. Sie lernten, sagt
er, die kleinen Stüke aus seinen Tragedien, welche
von Reisenden dahin gebracht wurden, auswendig,
und machten sie auch andern bekannt. Viele von
denen, die in ihr Vaterland wieder zurük gekom-
men sind, sollen den Euripides auf das zärtlichste
umarmt und ihm erzählt haben, wie sie einige seiner
Lieder ihren Herrn vorgesungen, und dadurch theils
ihre Freyheit wieder bekommen, theis nach der
Schlacht, in der Jrre, den nöthigen Unterhalt ge-
funden haben. Eben dieser Geschichtschreiber erzählt
(*) Jm
Lys. uder.
auch folgendes: (*) Nach der Eroberung Athens
[Spaltenumbruch]

Cho
durch Lysander, wurde in Vorschlag gebracht, nicht
nur alle Athenienser zu Sclaven zu machen, son-
dern ein Thebaner rieth an, daß man Athen gänz-
lich zerstöhren sollte. Als hierauf die Anführer der
Feinde zur Tafel gegangen waren, sang ein gewis-
ser Phocenser den Chor aus des Euripides Elektra,
der mit diesen Worten anfängt:

O! Tochter des Agamemnons Elektra
Jch komm in deine bäurische Hütte.

Dieses Lied erwekte so starkes Mitleiden bey den
Zuhörern, daß die Stadt verschont wurde.

Chor in der heutigen Musik. Bedeutet einen
vier- oder mehrstimmigen figurirten oder arien-
mäßigen Gesang. Er dienet, das Gehör auf ein-
mal mit der vollen Pracht der Harmonie und zu-
gleich mit der Schönheit der Melodie zu rüh-
ren, zumal wenn jede Parthie mit einer Menge von
Stimmen besetzt ist. Solche Chöre kommen zur
Abwechslung in grossen Oratorien und in den Opern
vor. Der Text dazu enthält etwas, das natürli-
cher Weise von dem ganzen Volke, welches bey der
Handlung intereßirt ist, auf einmal gesprochen wird;
freudigen Zuruf, oder ehrfurchtsvolle Anbetung.
Ueberhaupt, weil bey dem Chor alle Personen einer-
ley Worte singen, so kann er von dem Dichter nur
da angebracht werden, wo der Gegenstand natür-
licher Weise auf gar alle Anwesende einerley Wür-
kung macht, so daß keiner die Aeusserung derselben
verbergen kann. Man kann sich leicht vorstellen,
daß bey einer feyerlichen Handlung, wenn durch
das, was geschieht, das Gemüth zu gewissen Em-
pfindungen gut vorbereitet ist, ein plötzlicher Aus-
bruch desselben in einer Menge von Menschen die
stärkste Würkung machen müsse. Es ist ohnedem
eine sehr bekannte Sache, daß jede Empfindung,
die wir an vielen Menschen zugleich sehen, unwider-
stehlich auf uns würkt. Wer einen oder zwey Men-
schen in irgend einer Leidenschaft sieht, kann noch
mit einiger Ruhe ihnen zusehen; wenn aber eine
ganze Menge durch dieselbe Leidenschaft in Bewegung
gesetzt ist, so wird man mit unwiderstehlicher Ge-
walt zur Freude, Furcht oder Schreken hingerissen.

Der Dichter also, der den Text zu einer feyer-
lichen Musik macht, muß mit Ueberlegung die Ge-

legenheit
(+) Die Stelle, welche sich in dem Fragment des
Platonius, von den drey Comedien der Griechen,
[Spaltenumbruch] hierüber findet, hat Theobald in der Vorrede zu seiner
Ausgabe des Shakespears angeführt und verbessert.

[Spaltenumbruch]

Cho
naͤchſte Nachahmung des alten Trauerſpiels zu ſeyn.
Einige Englaͤnder haben verſucht die Choͤre wieder
einzufuͤhren, und ſelbſt Racine hat es in der Atha-
lia gethan.

Auch im Luſtſpiel hatten die Alten anfaͤnglich
Choͤre, die aber zeitig abgeſchaft worden. Jn der
alten athenienſiſchen Comoͤdie, war die Beforgung
des Chors einem Mann aufgetragen, der allemal
durch eine oͤffentliche Wahl dazu ernennt worden;
dieſer mußte die Saͤnger des Chors bezahlen. Als
aber jener, welcher Choragos genennt wurd, ab-
geſchaft worden, gingen auch die Choͤre ein, weil
niemand die Saͤnger bezahlen wollte. [Spaltenumbruch] (†)

Auch die Lieder, welche der Chor abgeſungen hat,
werden Choͤre genennt. Sie machen einen wichti-
gen Theil deſſen aus, was uns von der lyriſchen
Poeſie der Griechen uͤbrig geblieben iſt. Sie ſind,
ſo wie die pindariſchen Oden in Strophen und An-
tiſtrophen eingetheilt, und beſtehen meiſt aus ſehr
kurzen lyriſchen Verſen. Es ſcheinet, daß die
Dichter auf dieſe Choͤre den groͤßten Fleis gewen-
det, und dabey hauptſaͤchlich zum Augenmerk ge-
habt haben, ſie zu Nationalgeſaͤngen zu machen;
wie man denn verſchiedentlich Spuhren findet, daß
viele dieſe Lieder auswendig gekonnt, und wie
ſich etwa Gelegenheit dazu gezeiget, abgeſungen ha-
ben. Was fuͤr Kraft dieſe Geſaͤnge auf die Gemuͤ-
ther gehabt haben, laͤßt ſich aus folgenden zwey
(*) Jn dem
Leben des
Nicias.
Anekdoten abnehmen. Plutarchus berichtet, (*) daß
viel von den ungluͤklichen Athenienſern, die nach
der beruͤhmten Niederlage, die Nicias in Sicilien
erlidten, zu Sclaven gemacht worden, durch Abſin-
gung der ruͤhrenden Lieder des Euripides ihre Frey-
heit wieder bekommen haben. Sie lernten, ſagt
er, die kleinen Stuͤke aus ſeinen Tragedien, welche
von Reiſenden dahin gebracht wurden, auswendig,
und machten ſie auch andern bekannt. Viele von
denen, die in ihr Vaterland wieder zuruͤk gekom-
men ſind, ſollen den Euripides auf das zaͤrtlichſte
umarmt und ihm erzaͤhlt haben, wie ſie einige ſeiner
Lieder ihren Herrn vorgeſungen, und dadurch theils
ihre Freyheit wieder bekommen, theis nach der
Schlacht, in der Jrre, den noͤthigen Unterhalt ge-
funden haben. Eben dieſer Geſchichtſchreiber erzaͤhlt
(*) Jm
Lyſ. uder.
auch folgendes: (*) Nach der Eroberung Athens
[Spaltenumbruch]

Cho
durch Lyſander, wurde in Vorſchlag gebracht, nicht
nur alle Athenienſer zu Sclaven zu machen, ſon-
dern ein Thebaner rieth an, daß man Athen gaͤnz-
lich zerſtoͤhren ſollte. Als hierauf die Anfuͤhrer der
Feinde zur Tafel gegangen waren, ſang ein gewiſ-
ſer Phocenſer den Chor aus des Euripides Elektra,
der mit dieſen Worten anfaͤngt:

O! Tochter des Agamemnons Elektra
Jch komm in deine baͤuriſche Huͤtte.

Dieſes Lied erwekte ſo ſtarkes Mitleiden bey den
Zuhoͤrern, daß die Stadt verſchont wurde.

Chor in der heutigen Muſik. Bedeutet einen
vier- oder mehrſtimmigen figurirten oder arien-
maͤßigen Geſang. Er dienet, das Gehoͤr auf ein-
mal mit der vollen Pracht der Harmonie und zu-
gleich mit der Schoͤnheit der Melodie zu ruͤh-
ren, zumal wenn jede Parthie mit einer Menge von
Stimmen beſetzt iſt. Solche Choͤre kommen zur
Abwechslung in groſſen Oratorien und in den Opern
vor. Der Text dazu enthaͤlt etwas, das natuͤrli-
cher Weiſe von dem ganzen Volke, welches bey der
Handlung intereßirt iſt, auf einmal geſprochen wird;
freudigen Zuruf, oder ehrfurchtsvolle Anbetung.
Ueberhaupt, weil bey dem Chor alle Perſonen einer-
ley Worte ſingen, ſo kann er von dem Dichter nur
da angebracht werden, wo der Gegenſtand natuͤr-
licher Weiſe auf gar alle Anweſende einerley Wuͤr-
kung macht, ſo daß keiner die Aeuſſerung derſelben
verbergen kann. Man kann ſich leicht vorſtellen,
daß bey einer feyerlichen Handlung, wenn durch
das, was geſchieht, das Gemuͤth zu gewiſſen Em-
pfindungen gut vorbereitet iſt, ein ploͤtzlicher Aus-
bruch deſſelben in einer Menge von Menſchen die
ſtaͤrkſte Wuͤrkung machen muͤſſe. Es iſt ohnedem
eine ſehr bekannte Sache, daß jede Empfindung,
die wir an vielen Menſchen zugleich ſehen, unwider-
ſtehlich auf uns wuͤrkt. Wer einen oder zwey Men-
ſchen in irgend einer Leidenſchaft ſieht, kann noch
mit einiger Ruhe ihnen zuſehen; wenn aber eine
ganze Menge durch dieſelbe Leidenſchaft in Bewegung
geſetzt iſt, ſo wird man mit unwiderſtehlicher Ge-
walt zur Freude, Furcht oder Schreken hingeriſſen.

Der Dichter alſo, der den Text zu einer feyer-
lichen Muſik macht, muß mit Ueberlegung die Ge-

legenheit
(†) Die Stelle, welche ſich in dem Fragment des
Platonius, von den drey Comedien der Griechen,
[Spaltenumbruch] hieruͤber findet, hat Theobald in der Vorrede zu ſeiner
Ausgabe des Shakeſpears angefuͤhrt und verbeſſert.
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[202/0214] Cho Cho naͤchſte Nachahmung des alten Trauerſpiels zu ſeyn. Einige Englaͤnder haben verſucht die Choͤre wieder einzufuͤhren, und ſelbſt Racine hat es in der Atha- lia gethan. Auch im Luſtſpiel hatten die Alten anfaͤnglich Choͤre, die aber zeitig abgeſchaft worden. Jn der alten athenienſiſchen Comoͤdie, war die Beforgung des Chors einem Mann aufgetragen, der allemal durch eine oͤffentliche Wahl dazu ernennt worden; dieſer mußte die Saͤnger des Chors bezahlen. Als aber jener, welcher Choragos genennt wurd, ab- geſchaft worden, gingen auch die Choͤre ein, weil niemand die Saͤnger bezahlen wollte. (†) Auch die Lieder, welche der Chor abgeſungen hat, werden Choͤre genennt. Sie machen einen wichti- gen Theil deſſen aus, was uns von der lyriſchen Poeſie der Griechen uͤbrig geblieben iſt. Sie ſind, ſo wie die pindariſchen Oden in Strophen und An- tiſtrophen eingetheilt, und beſtehen meiſt aus ſehr kurzen lyriſchen Verſen. Es ſcheinet, daß die Dichter auf dieſe Choͤre den groͤßten Fleis gewen- det, und dabey hauptſaͤchlich zum Augenmerk ge- habt haben, ſie zu Nationalgeſaͤngen zu machen; wie man denn verſchiedentlich Spuhren findet, daß viele dieſe Lieder auswendig gekonnt, und wie ſich etwa Gelegenheit dazu gezeiget, abgeſungen ha- ben. Was fuͤr Kraft dieſe Geſaͤnge auf die Gemuͤ- ther gehabt haben, laͤßt ſich aus folgenden zwey Anekdoten abnehmen. Plutarchus berichtet, (*) daß viel von den ungluͤklichen Athenienſern, die nach der beruͤhmten Niederlage, die Nicias in Sicilien erlidten, zu Sclaven gemacht worden, durch Abſin- gung der ruͤhrenden Lieder des Euripides ihre Frey- heit wieder bekommen haben. Sie lernten, ſagt er, die kleinen Stuͤke aus ſeinen Tragedien, welche von Reiſenden dahin gebracht wurden, auswendig, und machten ſie auch andern bekannt. Viele von denen, die in ihr Vaterland wieder zuruͤk gekom- men ſind, ſollen den Euripides auf das zaͤrtlichſte umarmt und ihm erzaͤhlt haben, wie ſie einige ſeiner Lieder ihren Herrn vorgeſungen, und dadurch theils ihre Freyheit wieder bekommen, theis nach der Schlacht, in der Jrre, den noͤthigen Unterhalt ge- funden haben. Eben dieſer Geſchichtſchreiber erzaͤhlt auch folgendes: (*) Nach der Eroberung Athens durch Lyſander, wurde in Vorſchlag gebracht, nicht nur alle Athenienſer zu Sclaven zu machen, ſon- dern ein Thebaner rieth an, daß man Athen gaͤnz- lich zerſtoͤhren ſollte. Als hierauf die Anfuͤhrer der Feinde zur Tafel gegangen waren, ſang ein gewiſ- ſer Phocenſer den Chor aus des Euripides Elektra, der mit dieſen Worten anfaͤngt: (*) Jn dem Leben des Nicias. (*) Jm Lyſ. uder. O! Tochter des Agamemnons Elektra Jch komm in deine baͤuriſche Huͤtte. Dieſes Lied erwekte ſo ſtarkes Mitleiden bey den Zuhoͤrern, daß die Stadt verſchont wurde. Chor in der heutigen Muſik. Bedeutet einen vier- oder mehrſtimmigen figurirten oder arien- maͤßigen Geſang. Er dienet, das Gehoͤr auf ein- mal mit der vollen Pracht der Harmonie und zu- gleich mit der Schoͤnheit der Melodie zu ruͤh- ren, zumal wenn jede Parthie mit einer Menge von Stimmen beſetzt iſt. Solche Choͤre kommen zur Abwechslung in groſſen Oratorien und in den Opern vor. Der Text dazu enthaͤlt etwas, das natuͤrli- cher Weiſe von dem ganzen Volke, welches bey der Handlung intereßirt iſt, auf einmal geſprochen wird; freudigen Zuruf, oder ehrfurchtsvolle Anbetung. Ueberhaupt, weil bey dem Chor alle Perſonen einer- ley Worte ſingen, ſo kann er von dem Dichter nur da angebracht werden, wo der Gegenſtand natuͤr- licher Weiſe auf gar alle Anweſende einerley Wuͤr- kung macht, ſo daß keiner die Aeuſſerung derſelben verbergen kann. Man kann ſich leicht vorſtellen, daß bey einer feyerlichen Handlung, wenn durch das, was geſchieht, das Gemuͤth zu gewiſſen Em- pfindungen gut vorbereitet iſt, ein ploͤtzlicher Aus- bruch deſſelben in einer Menge von Menſchen die ſtaͤrkſte Wuͤrkung machen muͤſſe. Es iſt ohnedem eine ſehr bekannte Sache, daß jede Empfindung, die wir an vielen Menſchen zugleich ſehen, unwider- ſtehlich auf uns wuͤrkt. Wer einen oder zwey Men- ſchen in irgend einer Leidenſchaft ſieht, kann noch mit einiger Ruhe ihnen zuſehen; wenn aber eine ganze Menge durch dieſelbe Leidenſchaft in Bewegung geſetzt iſt, ſo wird man mit unwiderſtehlicher Ge- walt zur Freude, Furcht oder Schreken hingeriſſen. Der Dichter alſo, der den Text zu einer feyer- lichen Muſik macht, muß mit Ueberlegung die Ge- legenheit (†) Die Stelle, welche ſich in dem Fragment des Platonius, von den drey Comedien der Griechen, hieruͤber findet, hat Theobald in der Vorrede zu ſeiner Ausgabe des Shakeſpears angefuͤhrt und verbeſſert.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/214>, abgerufen am 28.03.2024.