Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

Bild:
<< vorherige Seite

[Spaltenumbruch]

Cho
einen Antheil, äussern gegen die handelnden Perso-
nen ihre Gesinnungen durch Rath, Vermahnung
oder Trost. Die Personen des Chors sind biswei-
len ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung
vorgeht, wie in dem Oedipus in Theben, da das
ganze Volk, das die Priester an seiner Spitze hat,
den Chor ausmacht; bisweilen sind sie die Aeltesten
aus dem Volke, oder die Räthe des Königs, oder
die Hausgenossen der Hauptperson, wie die Aufwär-
terinnen einer Königin. Der Chor besteht aber auch
bisweilen aus Personen, die ganz zufällig, als
blosse Zuschauer zu der Handlung gekommen sind,
wie in der Jphigenia in Aulis des Euripides, wo
ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das
Lager der Griechen zu sehen, auf den Schauplatz
geführt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es
auch Chöre, die als Hauptpersonen der Handlung
erscheinen, wie die Eumeniden des Aeschylus und
(*) Jn der
Tragedie
#.
die Danaiden (*) desselben Dichters.

Die Hauptverrichtung des Chors ist, wie gesagt,
der Gesang zwischen den Handlungen, der allemal
moralischen Jnhalts ist und dienet, entweder den
Affekt zu stärken, oder gewisse Empfindungen über
das, was in der Handlung vorkommt, auszudruken.
Der Chor konnte aus dem Trauerspiel niemals weg-
bleiben, weil er ihm wesentlich war; ob es gleich,
wenn das Trauerspiel, wie in den nächstfolgen-
den Zeiten geschehen ist, blos als eine wichtige
Handlung angesehen wird, seiner gar nicht bedarf,
und er deswegen aus den neuern Trauerspielen
ganz wegbleibet. Ja er konnte diesem ersten Ur-
sprung zufolge, auch nicht einmal die Bühne ver-
lassen, sondern mußte nothwendig als die Haupt-
sache immer zugegen seyn, weil die Handlung ei-
gentlich das episodische des Schauspiels war.

Aus diesem Gesichtspunkt muß man den Gebrauch
der Chöre beurtheilen, und das unwahrscheinliche,
das bisweilen darin ist, seinem Ursprung, und nicht
dem Dichter zuschreiben. Wenn es von der Will-
kühr des Dichters abgehangen hätte, mit dem
Chor, so wie mit den übrigen Personen zu verfah-
ren, so wäre es ein unverzeihlicher Fehler, daß
Euripides in der Jphigenia in Aulis, eine Schaar
fremder und ganz unbekannter Frauenspersonen,
gleich zu Vertrauten der Clytemnestra und der übri-
gen Hauptpersonen gemacht hat. Weil aber der Chor
nothwendig zugegen seyn mußte, mithin ein Zeuge
aller Reden und Handlungen war, so mußten die
[Spaltenumbruch]

Cho
Dichter ihn als vollkommen verschwiegen und un-
partheyisch ansehen. Doch scheint es, daß schon
Sophokles versucht habe, den Chor ganz abtreten
zu lassen; denn in seinem Ajax theilet er sich, als
ein Bote vom Teucer kommt, und die handelnden
Personen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen
Ajax zu suchen, in zwey Theile, und hilft den an-
dern ihn aufsuchen; so daß kurz nachher, im Anfang
des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Bühne
erscheint. Man muß sich verwundern, daß Euri-
pides
sich dieser Freyheit nicht bedient hat. Die
handelnden Personen entdeken in Gegenwart des
Chors ihre geheimsten Gedanken, eben so, wie wenn
sie ganz allein wären; der Chor verräth sie so we-
nig, als der Zuschauer; er ist der Vertraute beyder
Partheyen, auch wenn die Personen gegen einander
handeln. Weil er also nothwendig unpartheyisch
seyn mußte, so nimmt er, wenn er sich in die Hand-
lung einmischt, allemal die Parthey der Billigkeit,
doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frie-
den, er nimmt sich der Unterdrükten an, er sucht
die Gemüther zu besänftigen, mischt seine Klagen
mit unter die Thränen der Leidenden. Jndessen
bleibt eine solche Theilnehmung an der Handlung
meistentheils eine Nebensache. Die Hauptsache ist
der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Gesang
zwischen den Aufzügen.

Anfänglich bestuhnd der Chor in dem griechischen
Trauerspiel aus vielen Personen, die sich bisweilen
auf funfzig erstrekten. Auf Befehl der Obrigkeit
mußte Aeschylus diese Zahl bis auf 15 herunter
setzen, nachdem man gesehen, daß ein so grosser
Pomp, wie bey der Vorstellung der Eumeniden ge-
schehen, zu starke Würkung auf die Gemüther ge-
than. (*) Der Chor hatte einen Vorsteher, de[r](*) S.
Aeschylus.

Coryphäus genennt wurde: wenn der Chor Antheil
an der Handlung nahm, so redete dieser allein im
Namen aller andern, daher die handelnden Perso-
nen den Chor immer in der einzeln Zahl anreden.
Bisweilen aber theilte sich der Chor in zwey Truppe,
die beyde abwechselnd sangen.

Die Neuern haben die Chöre im Trauerspiel ab-
geschaft, so wie sie überhaupt viel in der Pracht
desselben hinter den Alten zurüke bleiben. Jndes-
sen ist gewiß, daß sie mit grossem Vortheil könnten
bey behalten werden, zumal da man ietzo von dem
Zwang frey wäre, ihn beständig auf der Bühne zu
behalten. Die heutigen Opern scheinen noch die

nächste
Erster Theil. C c

[Spaltenumbruch]

Cho
einen Antheil, aͤuſſern gegen die handelnden Perſo-
nen ihre Geſinnungen durch Rath, Vermahnung
oder Troſt. Die Perſonen des Chors ſind biswei-
len ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung
vorgeht, wie in dem Oedipus in Theben, da das
ganze Volk, das die Prieſter an ſeiner Spitze hat,
den Chor ausmacht; bisweilen ſind ſie die Aelteſten
aus dem Volke, oder die Raͤthe des Koͤnigs, oder
die Hausgenoſſen der Hauptperſon, wie die Aufwaͤr-
terinnen einer Koͤnigin. Der Chor beſteht aber auch
bisweilen aus Perſonen, die ganz zufaͤllig, als
bloſſe Zuſchauer zu der Handlung gekommen ſind,
wie in der Jphigenia in Aulis des Euripides, wo
ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das
Lager der Griechen zu ſehen, auf den Schauplatz
gefuͤhrt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es
auch Choͤre, die als Hauptperſonen der Handlung
erſcheinen, wie die Eumeniden des Aeſchylus und
(*) Jn der
Tragedie
#.
die Danaiden (*) deſſelben Dichters.

Die Hauptverrichtung des Chors iſt, wie geſagt,
der Geſang zwiſchen den Handlungen, der allemal
moraliſchen Jnhalts iſt und dienet, entweder den
Affekt zu ſtaͤrken, oder gewiſſe Empfindungen uͤber
das, was in der Handlung vorkommt, auszudruken.
Der Chor konnte aus dem Trauerſpiel niemals weg-
bleiben, weil er ihm weſentlich war; ob es gleich,
wenn das Trauerſpiel, wie in den naͤchſtfolgen-
den Zeiten geſchehen iſt, blos als eine wichtige
Handlung angeſehen wird, ſeiner gar nicht bedarf,
und er deswegen aus den neuern Trauerſpielen
ganz wegbleibet. Ja er konnte dieſem erſten Ur-
ſprung zufolge, auch nicht einmal die Buͤhne ver-
laſſen, ſondern mußte nothwendig als die Haupt-
ſache immer zugegen ſeyn, weil die Handlung ei-
gentlich das epiſodiſche des Schauſpiels war.

Aus dieſem Geſichtspunkt muß man den Gebrauch
der Choͤre beurtheilen, und das unwahrſcheinliche,
das bisweilen darin iſt, ſeinem Urſprung, und nicht
dem Dichter zuſchreiben. Wenn es von der Will-
kuͤhr des Dichters abgehangen haͤtte, mit dem
Chor, ſo wie mit den uͤbrigen Perſonen zu verfah-
ren, ſo waͤre es ein unverzeihlicher Fehler, daß
Euripides in der Jphigenia in Aulis, eine Schaar
fremder und ganz unbekannter Frauensperſonen,
gleich zu Vertrauten der Clytemneſtra und der uͤbri-
gen Hauptperſonen gemacht hat. Weil aber der Chor
nothwendig zugegen ſeyn mußte, mithin ein Zeuge
aller Reden und Handlungen war, ſo mußten die
[Spaltenumbruch]

Cho
Dichter ihn als vollkommen verſchwiegen und un-
partheyiſch anſehen. Doch ſcheint es, daß ſchon
Sophokles verſucht habe, den Chor ganz abtreten
zu laſſen; denn in ſeinem Ajax theilet er ſich, als
ein Bote vom Teucer kommt, und die handelnden
Perſonen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen
Ajax zu ſuchen, in zwey Theile, und hilft den an-
dern ihn aufſuchen; ſo daß kurz nachher, im Anfang
des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Buͤhne
erſcheint. Man muß ſich verwundern, daß Euri-
pides
ſich dieſer Freyheit nicht bedient hat. Die
handelnden Perſonen entdeken in Gegenwart des
Chors ihre geheimſten Gedanken, eben ſo, wie wenn
ſie ganz allein waͤren; der Chor verraͤth ſie ſo we-
nig, als der Zuſchauer; er iſt der Vertraute beyder
Partheyen, auch wenn die Perſonen gegen einander
handeln. Weil er alſo nothwendig unpartheyiſch
ſeyn mußte, ſo nimmt er, wenn er ſich in die Hand-
lung einmiſcht, allemal die Parthey der Billigkeit,
doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frie-
den, er nimmt ſich der Unterdruͤkten an, er ſucht
die Gemuͤther zu beſaͤnftigen, miſcht ſeine Klagen
mit unter die Thraͤnen der Leidenden. Jndeſſen
bleibt eine ſolche Theilnehmung an der Handlung
meiſtentheils eine Nebenſache. Die Hauptſache iſt
der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Geſang
zwiſchen den Aufzuͤgen.

Anfaͤnglich beſtuhnd der Chor in dem griechiſchen
Trauerſpiel aus vielen Perſonen, die ſich bisweilen
auf funfzig erſtrekten. Auf Befehl der Obrigkeit
mußte Aeſchylus dieſe Zahl bis auf 15 herunter
ſetzen, nachdem man geſehen, daß ein ſo groſſer
Pomp, wie bey der Vorſtellung der Eumeniden ge-
ſchehen, zu ſtarke Wuͤrkung auf die Gemuͤther ge-
than. (*) Der Chor hatte einen Vorſteher, de[r](*) S.
Aeſchylus.

Coryphaͤus genennt wurde: wenn der Chor Antheil
an der Handlung nahm, ſo redete dieſer allein im
Namen aller andern, daher die handelnden Perſo-
nen den Chor immer in der einzeln Zahl anreden.
Bisweilen aber theilte ſich der Chor in zwey Truppe,
die beyde abwechſelnd ſangen.

Die Neuern haben die Choͤre im Trauerſpiel ab-
geſchaft, ſo wie ſie uͤberhaupt viel in der Pracht
deſſelben hinter den Alten zuruͤke bleiben. Jndeſ-
ſen iſt gewiß, daß ſie mit groſſem Vortheil koͤnnten
bey behalten werden, zumal da man ietzo von dem
Zwang frey waͤre, ihn beſtaͤndig auf der Buͤhne zu
behalten. Die heutigen Opern ſcheinen noch die

naͤchſte
Erſter Theil. C c
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0213" n="201"/><cb/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Cho</hi></fw><lb/>
einen Antheil, a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;ern gegen die handelnden Per&#x017F;o-<lb/>
nen ihre Ge&#x017F;innungen durch Rath, Vermahnung<lb/>
oder Tro&#x017F;t. Die Per&#x017F;onen des Chors &#x017F;ind biswei-<lb/>
len ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung<lb/>
vorgeht, wie in dem <hi rendition="#fr">Oedipus in Theben,</hi> da das<lb/>
ganze Volk, das die Prie&#x017F;ter an &#x017F;einer Spitze hat,<lb/>
den Chor ausmacht; bisweilen &#x017F;ind &#x017F;ie die Aelte&#x017F;ten<lb/>
aus dem Volke, oder die Ra&#x0364;the des Ko&#x0364;nigs, oder<lb/>
die Hausgeno&#x017F;&#x017F;en der Hauptper&#x017F;on, wie die Aufwa&#x0364;r-<lb/>
terinnen einer Ko&#x0364;nigin. Der Chor be&#x017F;teht aber auch<lb/>
bisweilen aus Per&#x017F;onen, die ganz zufa&#x0364;llig, als<lb/>
blo&#x017F;&#x017F;e Zu&#x017F;chauer zu der Handlung gekommen &#x017F;ind,<lb/>
wie in der Jphigenia in Aulis des Euripides, wo<lb/>
ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das<lb/>
Lager der Griechen zu &#x017F;ehen, auf den Schauplatz<lb/>
gefu&#x0364;hrt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es<lb/>
auch Cho&#x0364;re, die als Hauptper&#x017F;onen der Handlung<lb/>
er&#x017F;cheinen, wie die <hi rendition="#fr">Eumeniden</hi> des Ae&#x017F;chylus und<lb/><note place="left">(*) Jn der<lb/>
Tragedie<lb/>
#.</note>die <hi rendition="#fr">Danaiden</hi> (*) de&#x017F;&#x017F;elben Dichters.</p><lb/>
          <p>Die Hauptverrichtung des Chors i&#x017F;t, wie ge&#x017F;agt,<lb/>
der Ge&#x017F;ang zwi&#x017F;chen den Handlungen, der allemal<lb/>
morali&#x017F;chen Jnhalts i&#x017F;t und dienet, entweder den<lb/>
Affekt zu &#x017F;ta&#x0364;rken, oder gewi&#x017F;&#x017F;e Empfindungen u&#x0364;ber<lb/>
das, was in der Handlung vorkommt, auszudruken.<lb/>
Der Chor konnte aus dem Trauer&#x017F;piel niemals weg-<lb/>
bleiben, weil er ihm we&#x017F;entlich war; ob es gleich,<lb/>
wenn das Trauer&#x017F;piel, wie in den na&#x0364;ch&#x017F;tfolgen-<lb/>
den Zeiten ge&#x017F;chehen i&#x017F;t, blos als eine wichtige<lb/>
Handlung ange&#x017F;ehen wird, &#x017F;einer gar nicht bedarf,<lb/>
und er deswegen aus den neuern Trauer&#x017F;pielen<lb/>
ganz wegbleibet. Ja er konnte die&#x017F;em er&#x017F;ten Ur-<lb/>
&#x017F;prung zufolge, auch nicht einmal die Bu&#x0364;hne ver-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;en, &#x017F;ondern mußte nothwendig als die Haupt-<lb/>
&#x017F;ache immer zugegen &#x017F;eyn, weil die Handlung ei-<lb/>
gentlich das <hi rendition="#fr">epi&#x017F;odi&#x017F;che</hi> des Schau&#x017F;piels war.</p><lb/>
          <p>Aus die&#x017F;em Ge&#x017F;ichtspunkt muß man den Gebrauch<lb/>
der Cho&#x0364;re beurtheilen, und das unwahr&#x017F;cheinliche,<lb/>
das bisweilen darin i&#x017F;t, &#x017F;einem Ur&#x017F;prung, und nicht<lb/>
dem Dichter zu&#x017F;chreiben. Wenn es von der Will-<lb/>
ku&#x0364;hr des Dichters abgehangen ha&#x0364;tte, mit dem<lb/>
Chor, &#x017F;o wie mit den u&#x0364;brigen Per&#x017F;onen zu verfah-<lb/>
ren, &#x017F;o wa&#x0364;re es ein unverzeihlicher Fehler, daß<lb/>
Euripides in der Jphigenia in Aulis, eine Schaar<lb/>
fremder und ganz unbekannter Frauensper&#x017F;onen,<lb/>
gleich zu Vertrauten der Clytemne&#x017F;tra und der u&#x0364;bri-<lb/>
gen Hauptper&#x017F;onen gemacht hat. Weil aber der Chor<lb/>
nothwendig zugegen &#x017F;eyn mußte, mithin ein Zeuge<lb/>
aller Reden und Handlungen war, &#x017F;o mußten die<lb/><cb/>
<fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Cho</hi></fw><lb/>
Dichter ihn als vollkommen ver&#x017F;chwiegen und un-<lb/>
partheyi&#x017F;ch an&#x017F;ehen. Doch &#x017F;cheint es, daß &#x017F;chon<lb/><hi rendition="#fr">Sophokles</hi> ver&#x017F;ucht habe, den Chor ganz abtreten<lb/>
zu la&#x017F;&#x017F;en; denn in &#x017F;einem <hi rendition="#fr">Ajax</hi> theilet er &#x017F;ich, als<lb/>
ein Bote vom <hi rendition="#fr">Teucer</hi> kommt, und die handelnden<lb/>
Per&#x017F;onen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen<lb/><hi rendition="#fr">Ajax</hi> zu &#x017F;uchen, in zwey Theile, und hilft den an-<lb/>
dern ihn auf&#x017F;uchen; &#x017F;o daß kurz nachher, im Anfang<lb/>
des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Bu&#x0364;hne<lb/>
er&#x017F;cheint. Man muß &#x017F;ich verwundern, daß <hi rendition="#fr">Euri-<lb/>
pides</hi> &#x017F;ich die&#x017F;er Freyheit nicht bedient hat. Die<lb/>
handelnden Per&#x017F;onen entdeken in Gegenwart des<lb/>
Chors ihre geheim&#x017F;ten Gedanken, eben &#x017F;o, wie wenn<lb/>
&#x017F;ie ganz allein wa&#x0364;ren; der Chor verra&#x0364;th &#x017F;ie &#x017F;o we-<lb/>
nig, als der Zu&#x017F;chauer; er i&#x017F;t der Vertraute beyder<lb/>
Partheyen, auch wenn die Per&#x017F;onen gegen einander<lb/>
handeln. Weil er al&#x017F;o nothwendig unpartheyi&#x017F;ch<lb/>
&#x017F;eyn mußte, &#x017F;o nimmt er, wenn er &#x017F;ich in die Hand-<lb/>
lung einmi&#x017F;cht, allemal die Parthey der Billigkeit,<lb/>
doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frie-<lb/>
den, er nimmt &#x017F;ich der Unterdru&#x0364;kten an, er &#x017F;ucht<lb/>
die Gemu&#x0364;ther zu be&#x017F;a&#x0364;nftigen, mi&#x017F;cht &#x017F;eine Klagen<lb/>
mit unter die Thra&#x0364;nen der Leidenden. Jnde&#x017F;&#x017F;en<lb/>
bleibt eine &#x017F;olche Theilnehmung an der Handlung<lb/>
mei&#x017F;tentheils eine Neben&#x017F;ache. Die Haupt&#x017F;ache i&#x017F;t<lb/>
der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Ge&#x017F;ang<lb/>
zwi&#x017F;chen den Aufzu&#x0364;gen.</p><lb/>
          <p>Anfa&#x0364;nglich be&#x017F;tuhnd der Chor in dem griechi&#x017F;chen<lb/>
Trauer&#x017F;piel aus vielen Per&#x017F;onen, die &#x017F;ich bisweilen<lb/>
auf funfzig er&#x017F;trekten. Auf Befehl der Obrigkeit<lb/>
mußte Ae&#x017F;chylus die&#x017F;e Zahl bis auf 15 herunter<lb/>
&#x017F;etzen, nachdem man ge&#x017F;ehen, daß ein &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;er<lb/>
Pomp, wie bey der Vor&#x017F;tellung der Eumeniden ge-<lb/>
&#x017F;chehen, zu &#x017F;tarke Wu&#x0364;rkung auf die Gemu&#x0364;ther ge-<lb/>
than. (*) Der Chor hatte einen Vor&#x017F;teher, de<supplied>r</supplied><note place="right">(*) S.<lb/>
Ae&#x017F;chylus.</note><lb/><hi rendition="#fr">Corypha&#x0364;us</hi> genennt wurde: wenn der Chor Antheil<lb/>
an der Handlung nahm, &#x017F;o redete die&#x017F;er allein im<lb/>
Namen aller andern, daher die handelnden Per&#x017F;o-<lb/>
nen den Chor immer in der einzeln Zahl anreden.<lb/>
Bisweilen aber theilte &#x017F;ich der Chor in zwey Truppe,<lb/>
die beyde abwech&#x017F;elnd &#x017F;angen.</p><lb/>
          <p>Die Neuern haben die Cho&#x0364;re im Trauer&#x017F;piel ab-<lb/>
ge&#x017F;chaft, &#x017F;o wie &#x017F;ie u&#x0364;berhaupt viel in der Pracht<lb/>
de&#x017F;&#x017F;elben hinter den Alten zuru&#x0364;ke bleiben. Jnde&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en i&#x017F;t gewiß, daß &#x017F;ie mit gro&#x017F;&#x017F;em Vortheil ko&#x0364;nnten<lb/>
bey behalten werden, zumal da man ietzo von dem<lb/>
Zwang frey wa&#x0364;re, ihn be&#x017F;ta&#x0364;ndig auf der Bu&#x0364;hne zu<lb/>
behalten. Die heutigen Opern &#x017F;cheinen noch die<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#fr">Er&#x017F;ter Theil.</hi> C c</fw><fw place="bottom" type="catch">na&#x0364;ch&#x017F;te</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[201/0213] Cho Cho einen Antheil, aͤuſſern gegen die handelnden Perſo- nen ihre Geſinnungen durch Rath, Vermahnung oder Troſt. Die Perſonen des Chors ſind biswei- len ein Trup von dem Volke, bey dem die Handlung vorgeht, wie in dem Oedipus in Theben, da das ganze Volk, das die Prieſter an ſeiner Spitze hat, den Chor ausmacht; bisweilen ſind ſie die Aelteſten aus dem Volke, oder die Raͤthe des Koͤnigs, oder die Hausgenoſſen der Hauptperſon, wie die Aufwaͤr- terinnen einer Koͤnigin. Der Chor beſteht aber auch bisweilen aus Perſonen, die ganz zufaͤllig, als bloſſe Zuſchauer zu der Handlung gekommen ſind, wie in der Jphigenia in Aulis des Euripides, wo ein Trup Frauen, welche die Neugierde, das Lager der Griechen zu ſehen, auf den Schauplatz gefuͤhrt hat, den Chor ausmachen. Doch giebt es auch Choͤre, die als Hauptperſonen der Handlung erſcheinen, wie die Eumeniden des Aeſchylus und die Danaiden (*) deſſelben Dichters. (*) Jn der Tragedie #. Die Hauptverrichtung des Chors iſt, wie geſagt, der Geſang zwiſchen den Handlungen, der allemal moraliſchen Jnhalts iſt und dienet, entweder den Affekt zu ſtaͤrken, oder gewiſſe Empfindungen uͤber das, was in der Handlung vorkommt, auszudruken. Der Chor konnte aus dem Trauerſpiel niemals weg- bleiben, weil er ihm weſentlich war; ob es gleich, wenn das Trauerſpiel, wie in den naͤchſtfolgen- den Zeiten geſchehen iſt, blos als eine wichtige Handlung angeſehen wird, ſeiner gar nicht bedarf, und er deswegen aus den neuern Trauerſpielen ganz wegbleibet. Ja er konnte dieſem erſten Ur- ſprung zufolge, auch nicht einmal die Buͤhne ver- laſſen, ſondern mußte nothwendig als die Haupt- ſache immer zugegen ſeyn, weil die Handlung ei- gentlich das epiſodiſche des Schauſpiels war. Aus dieſem Geſichtspunkt muß man den Gebrauch der Choͤre beurtheilen, und das unwahrſcheinliche, das bisweilen darin iſt, ſeinem Urſprung, und nicht dem Dichter zuſchreiben. Wenn es von der Will- kuͤhr des Dichters abgehangen haͤtte, mit dem Chor, ſo wie mit den uͤbrigen Perſonen zu verfah- ren, ſo waͤre es ein unverzeihlicher Fehler, daß Euripides in der Jphigenia in Aulis, eine Schaar fremder und ganz unbekannter Frauensperſonen, gleich zu Vertrauten der Clytemneſtra und der uͤbri- gen Hauptperſonen gemacht hat. Weil aber der Chor nothwendig zugegen ſeyn mußte, mithin ein Zeuge aller Reden und Handlungen war, ſo mußten die Dichter ihn als vollkommen verſchwiegen und un- partheyiſch anſehen. Doch ſcheint es, daß ſchon Sophokles verſucht habe, den Chor ganz abtreten zu laſſen; denn in ſeinem Ajax theilet er ſich, als ein Bote vom Teucer kommt, und die handelnden Perſonen vermahnet, den aus dem Zelt gegangenen Ajax zu ſuchen, in zwey Theile, und hilft den an- dern ihn aufſuchen; ſo daß kurz nachher, im Anfang des vierten Aufzugs, Ajax ganz allein auf der Buͤhne erſcheint. Man muß ſich verwundern, daß Euri- pides ſich dieſer Freyheit nicht bedient hat. Die handelnden Perſonen entdeken in Gegenwart des Chors ihre geheimſten Gedanken, eben ſo, wie wenn ſie ganz allein waͤren; der Chor verraͤth ſie ſo we- nig, als der Zuſchauer; er iſt der Vertraute beyder Partheyen, auch wenn die Perſonen gegen einander handeln. Weil er alſo nothwendig unpartheyiſch ſeyn mußte, ſo nimmt er, wenn er ſich in die Hand- lung einmiſcht, allemal die Parthey der Billigkeit, doch ohne etwas zu verrathen. Er redet zum Frie- den, er nimmt ſich der Unterdruͤkten an, er ſucht die Gemuͤther zu beſaͤnftigen, miſcht ſeine Klagen mit unter die Thraͤnen der Leidenden. Jndeſſen bleibt eine ſolche Theilnehmung an der Handlung meiſtentheils eine Nebenſache. Die Hauptſache iſt der Pomp des Aufzuges, und der feyerliche Geſang zwiſchen den Aufzuͤgen. Anfaͤnglich beſtuhnd der Chor in dem griechiſchen Trauerſpiel aus vielen Perſonen, die ſich bisweilen auf funfzig erſtrekten. Auf Befehl der Obrigkeit mußte Aeſchylus dieſe Zahl bis auf 15 herunter ſetzen, nachdem man geſehen, daß ein ſo groſſer Pomp, wie bey der Vorſtellung der Eumeniden ge- ſchehen, zu ſtarke Wuͤrkung auf die Gemuͤther ge- than. (*) Der Chor hatte einen Vorſteher, der Coryphaͤus genennt wurde: wenn der Chor Antheil an der Handlung nahm, ſo redete dieſer allein im Namen aller andern, daher die handelnden Perſo- nen den Chor immer in der einzeln Zahl anreden. Bisweilen aber theilte ſich der Chor in zwey Truppe, die beyde abwechſelnd ſangen. (*) S. Aeſchylus. Die Neuern haben die Choͤre im Trauerſpiel ab- geſchaft, ſo wie ſie uͤberhaupt viel in der Pracht deſſelben hinter den Alten zuruͤke bleiben. Jndeſ- ſen iſt gewiß, daß ſie mit groſſem Vortheil koͤnnten bey behalten werden, zumal da man ietzo von dem Zwang frey waͤre, ihn beſtaͤndig auf der Buͤhne zu behalten. Die heutigen Opern ſcheinen noch die naͤchſte Erſter Theil. C c

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/213
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 201. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/213>, abgerufen am 20.04.2024.