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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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in dem Menschen möglich sind; man muß sehen kön-
nen, aus was für Grundsätzen, aus was für Ge-
müthskräften sie entstanden ist. Man findet in
der Lebensbeschreibung, die Plutarch vom Marcus
Antonius
gemacht hat, hin und wieder Züge von
Großmuth und Vernunft, die gar nicht aus dem
Charakter des Antonius zu folgen scheinen, so daß
man gar nicht weiß, wie sie bey einem solchen Men-
schen möglich gewesen sind. So wahr sie auch seyn
mögen, so wäre keinem Dichter zu rathen, sie so,
wie Plutarchus thut, anzuführen. Man müßte
nothwendig diesen Mann vorher von einer Seite
zeigen, woraus bey seinem schlechten Charakter, die
Möglichkeit solcher einzeln grossen Züge deutlich er-
kennt würde. Eben so müßte ein Dichter, der ei-
nen vollkommenen Charakter vorstellen wollte, die
Bestimmung der näheren, nicht blos metaphysischen,
Möglichkeit desselben nicht verabsäumen, sonst würde
er keinen Glauben finden, und dadurch würde der
Charakter uninteressant werden.

Man sollte denken, daß die Epopee und das Drama
blos deswegen ausgedacht worden, damit man Ge-
legenheit habe, die Charakter der Menschen in ein
völliges Licht zu setzen. Wenigstens scheinet es nicht
möglich, zu dieser Absicht etwas bequemeres zu er-
finden. Die Geschichtschreiber haben hiezu bey wei-
tem die Bequemlichkeit nicht, die die Dichter haben;
denn es schikt sich für sie nicht, ihren Lesern jeden
besondern Umstand der Geschichte so abzumahlen,
als ob sie alles mit Augen sähen, und jede Rede selbst
anhörten; dieses ist den Dichtern eigen. Vorzüglich
aber ist die Epopee zu völliger Entwiklung der Cha-
rakter dienlich; denn das Drama leidet die Mannig-
faltigkeit der Begebenheiten und Vorfälle nicht, die
bey ihr statt haben; die Personen des Drama wer-
den nicht so, wie in der Epopee

Per varios casus, per tot discrimina rerum

ans Ende der Handlung gebracht.

Daher sieht man in Drama nicht sowol den gan-
zen Charakter einer Person, als besondere Züge des-
selben, besondere Leidenschaften oder Gesinnungen
entwikelt. Der epische Dichter hingegen hat Ge-
legenheit uns seine Hauptpersonen völlig und nach
allen Theilen ihres Charakters bekannt zu machen.
Es giebt aber zwey Wege die Charakter zu bezeich-
nen. Der eine ist unmittelbar die würkliche Abbil-
dung derselben, so wie der Geschichtschreiber Sal-
lustius
es gethan hat; der andere ist mittelbar
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Cha
durch die Handlungen, Reden, Stellung, Gebehr-
den, so wie dieselben bey jeder Gelegenheit sich äus-
sern. Dieser Weg ist dem Dichter eigen und dem
ersten weit vorzuziehen. Der erste giebt uns eine
abstrakte Beschreibung von einer Sache, die wir
selbst nicht sehen; der andre aber stellt uns die Sa-
che selbst nach allen ihren besondern Bestimmun-
gen vor Augen, und dadurch empfinden wir würk-
lich, was wir auf die andre Art durch den Verstand
uns vorstellen. Wir lernen dadurch die Menschen
so kennen, als wenn wir würklich mit ihnen gelebt
hätten.

Es erhellet hieraus, daß der wichtigste Theil der
Kunst des epischen und des dramatischen Dichters
der ist, daß sie Begebenheiten, Vorfälle und Situa-
tionen erfinden, bey denen die handelnden Perso-
nen ihren Gemüthszustand, und jede Triebfeder
ihrer Seelen entwikeln.

Also ist auch nur dem epischen Dichter vergönnet,
den ganzen Charakter der Personen zu entfalten.
Man ist durchgehends darüber einig, daß in die-
sem Theile der Kunst dem Homer noch niemand
gleich gekommen ist. Es ist auch zu vermuthen,
daß kein Dichter neuerer Zeiten, wenn er auch dem
Homer an Genie gleich wäre, hierin eben so glück-
lich, wie er, seyn könnte. Zu den Zeiten des Va-
ters der Dichter handelten die Menschen noch freyer,
und äusserten jeden Gedanken und jede Empfindung
ungehinderter, als es gegenwärtig geschieht. Wir
fühlen nicht nur mancherley Arten von Banden,
die eine völlige und ganz freye Entwiklung der
Triebfeder des Geistes hemmen, wir liegen auch
noch unter dem Druk der Mode und bilden uns
ein, daß wir so handeln, so reden, uns so stellen
müssen, wie gewisse andre Menschen, die gleichsam
den Ton angeben, nach dem sich alle andre richten
müssen. Man sieht überaus wenig freye Menschen,
die blos nach ihren eigenen Empfindungen handeln,
und sich unterstehen, keine andre Richtschnur, als
ihre Einsichten und ihre Gefühl anzunehmen. Bey
einem von allen Seiten her so sehr eingeschränkten
Wesen, ist es höchst schweer den natürlichen Men-
schen kennen zu lernen und zu sehen, wie weit seine
Kräfte reichen.

Diese Schwierigkeit müssen besonders auch die
Mahler und Bildhauer empfinden, die ebenfalls
nöthig haben Charakter zu bezeichnen. Es wird
ihnen ungemein schweer die Natur zu beobachten,

die

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Cha
in dem Menſchen moͤglich ſind; man muß ſehen koͤn-
nen, aus was fuͤr Grundſaͤtzen, aus was fuͤr Ge-
muͤthskraͤften ſie entſtanden iſt. Man findet in
der Lebensbeſchreibung, die Plutarch vom Marcus
Antonius
gemacht hat, hin und wieder Zuͤge von
Großmuth und Vernunft, die gar nicht aus dem
Charakter des Antonius zu folgen ſcheinen, ſo daß
man gar nicht weiß, wie ſie bey einem ſolchen Men-
ſchen moͤglich geweſen ſind. So wahr ſie auch ſeyn
moͤgen, ſo waͤre keinem Dichter zu rathen, ſie ſo,
wie Plutarchus thut, anzufuͤhren. Man muͤßte
nothwendig dieſen Mann vorher von einer Seite
zeigen, woraus bey ſeinem ſchlechten Charakter, die
Moͤglichkeit ſolcher einzeln groſſen Zuͤge deutlich er-
kennt wuͤrde. Eben ſo muͤßte ein Dichter, der ei-
nen vollkommenen Charakter vorſtellen wollte, die
Beſtimmung der naͤheren, nicht blos metaphyſiſchen,
Moͤglichkeit deſſelben nicht verabſaͤumen, ſonſt wuͤrde
er keinen Glauben finden, und dadurch wuͤrde der
Charakter unintereſſant werden.

Man ſollte denken, daß die Epopee und das Drama
blos deswegen ausgedacht worden, damit man Ge-
legenheit habe, die Charakter der Menſchen in ein
voͤlliges Licht zu ſetzen. Wenigſtens ſcheinet es nicht
moͤglich, zu dieſer Abſicht etwas bequemeres zu er-
finden. Die Geſchichtſchreiber haben hiezu bey wei-
tem die Bequemlichkeit nicht, die die Dichter haben;
denn es ſchikt ſich fuͤr ſie nicht, ihren Leſern jeden
beſondern Umſtand der Geſchichte ſo abzumahlen,
als ob ſie alles mit Augen ſaͤhen, und jede Rede ſelbſt
anhoͤrten; dieſes iſt den Dichtern eigen. Vorzuͤglich
aber iſt die Epopee zu voͤlliger Entwiklung der Cha-
rakter dienlich; denn das Drama leidet die Mannig-
faltigkeit der Begebenheiten und Vorfaͤlle nicht, die
bey ihr ſtatt haben; die Perſonen des Drama wer-
den nicht ſo, wie in der Epopee

Per varios caſus, per tot diſcrimina rerum

ans Ende der Handlung gebracht.

Daher ſieht man in Drama nicht ſowol den gan-
zen Charakter einer Perſon, als beſondere Zuͤge deſ-
ſelben, beſondere Leidenſchaften oder Geſinnungen
entwikelt. Der epiſche Dichter hingegen hat Ge-
legenheit uns ſeine Hauptperſonen voͤllig und nach
allen Theilen ihres Charakters bekannt zu machen.
Es giebt aber zwey Wege die Charakter zu bezeich-
nen. Der eine iſt unmittelbar die wuͤrkliche Abbil-
dung derſelben, ſo wie der Geſchichtſchreiber Sal-
luſtius
es gethan hat; der andere iſt mittelbar
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Cha
durch die Handlungen, Reden, Stellung, Gebehr-
den, ſo wie dieſelben bey jeder Gelegenheit ſich aͤuſ-
ſern. Dieſer Weg iſt dem Dichter eigen und dem
erſten weit vorzuziehen. Der erſte giebt uns eine
abſtrakte Beſchreibung von einer Sache, die wir
ſelbſt nicht ſehen; der andre aber ſtellt uns die Sa-
che ſelbſt nach allen ihren beſondern Beſtimmun-
gen vor Augen, und dadurch empfinden wir wuͤrk-
lich, was wir auf die andre Art durch den Verſtand
uns vorſtellen. Wir lernen dadurch die Menſchen
ſo kennen, als wenn wir wuͤrklich mit ihnen gelebt
haͤtten.

Es erhellet hieraus, daß der wichtigſte Theil der
Kunſt des epiſchen und des dramatiſchen Dichters
der iſt, daß ſie Begebenheiten, Vorfaͤlle und Situa-
tionen erfinden, bey denen die handelnden Perſo-
nen ihren Gemuͤthszuſtand, und jede Triebfeder
ihrer Seelen entwikeln.

Alſo iſt auch nur dem epiſchen Dichter vergoͤnnet,
den ganzen Charakter der Perſonen zu entfalten.
Man iſt durchgehends daruͤber einig, daß in die-
ſem Theile der Kunſt dem Homer noch niemand
gleich gekommen iſt. Es iſt auch zu vermuthen,
daß kein Dichter neuerer Zeiten, wenn er auch dem
Homer an Genie gleich waͤre, hierin eben ſo gluͤck-
lich, wie er, ſeyn koͤnnte. Zu den Zeiten des Va-
ters der Dichter handelten die Menſchen noch freyer,
und aͤuſſerten jeden Gedanken und jede Empfindung
ungehinderter, als es gegenwaͤrtig geſchieht. Wir
fuͤhlen nicht nur mancherley Arten von Banden,
die eine voͤllige und ganz freye Entwiklung der
Triebfeder des Geiſtes hemmen, wir liegen auch
noch unter dem Druk der Mode und bilden uns
ein, daß wir ſo handeln, ſo reden, uns ſo ſtellen
muͤſſen, wie gewiſſe andre Menſchen, die gleichſam
den Ton angeben, nach dem ſich alle andre richten
muͤſſen. Man ſieht uͤberaus wenig freye Menſchen,
die blos nach ihren eigenen Empfindungen handeln,
und ſich unterſtehen, keine andre Richtſchnur, als
ihre Einſichten und ihre Gefuͤhl anzunehmen. Bey
einem von allen Seiten her ſo ſehr eingeſchraͤnkten
Weſen, iſt es hoͤchſt ſchweer den natuͤrlichen Men-
ſchen kennen zu lernen und zu ſehen, wie weit ſeine
Kraͤfte reichen.

Dieſe Schwierigkeit muͤſſen beſonders auch die
Mahler und Bildhauer empfinden, die ebenfalls
noͤthig haben Charakter zu bezeichnen. Es wird
ihnen ungemein ſchweer die Natur zu beobachten,

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 199. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/211>, abgerufen am 23.11.2024.