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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Cha
gensatz oder Contrast ausmachen; denn dadurch wer-
den sie desto lebhafter bezeichnet. Wenn ein Mann
von geradem, offenherzigen und freyen Wesen, ne-
ben einen zurückhaltenden, ein verwegener und hitzi-
ger, neben einem vorsichtigen und bedächtigen Mann
erscheinet, so werden unstreitig alle Aeusserungen
des einen, durch das, was man von dem andern
sieht, besser bemerkt werden.

Eine besonders gute Würkung kann dadurch er-
halten werden, daß unter den handelnden Personen
solche sind, die unser Urtheil über das Betragen der
Hauptpersonen unterstützen, oder lenken. Dieses
geschieht z. B. wenn bey einer ganz wichtigen Lage
der Sachen, wo die handelnden Personen alle in Lei-
denschaften gerathen, auch solche eingeführt werden,
die bey etwas kaltem Geblüte bleiben, und alles was
vorgeht, mit grosser Richtigkeit und scharfer Beur-
theilungskraft einsehen. Denn niemal würken
starke und recht entscheidende Urtheile der Vernunft
mehr auf uns, als wenn wir sie neben hitziger Be-
wundrung oder lebhafter Verabscheuung sehen.
Wenn wir in Shakesspears Richard jederman in
der heftigsten Verabscheuung der wüthenden Bos-
heit dieses Tyrannen sehen, so fehlet es an einem
gelassenen Menschen, der durch nachdrükliche Aeus-
serungen überlegter Urtheile, den Empfindungen der
andern, noch mehr Kraft auf uns mittheilte.

Jnzwischen muß das, was hier von dem Gegen-
satz der Charakter, und besonders von dem Gegen-
satz der Leidenschaft und der Vernunft angemerkt
wird, nicht so verstanden werden, daß jeder Cha-
rakter beständig einen entgegengesetzten, so wie der
Körper einen Schatten, neben sich haben soll. Die-
ses würde zu gekünstelt und zu gezwungen seyn.
Nicht jeder Charakter darf einen entgegengesetzten
neben sich haben, und wo man Personen von ent-
gegengesetztem Charakter einführt, dürfen sie eben
nicht unzertrennlich beysammen seyn. Ein Dichter
von gesundem Urtheil, wird die Contraste so zu be-
handeln wissen, daß weder Zwang noch Kunst dabey
zu merken sind, und daß nur die wichtigsten Ein-
drüke, die man von den Charakteren zu erwarten
hat, in der größten Stärke und im hellesten Licht
erscheinen.

Einer der scharfsinnigsten Kunstrichter unter den
(*) Dide-
rot. de la
poesie dra-
matique.
Neuern (*) will, man soll im Drama den Contrast
nicht in den Charakteren unter sich, sondern in dem,
entgegengesetzten der Charakter und der Umstände,
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Cha
in welche die Personen versetzt werden, suchen. Er
sagt ungemein viel Gutes und Gründliches von der
Unschiklichkeit der gegen einander gesetzten Charakter.
Jm Grund aber scheinen seine Anmerkungen nur den
Mißbrauch und das übertriebene in dieser Sache, zu
widerrathen, worauf auch unsre vorhergehende An-
merkung abzielt. Freylich muß der Dichter die Ent-
wiklung und den Eindruk der Charakter dadurch zu
erhalten suchen, daß er dieselben in mancherley und
in einander entgegenstehende Umstände bringt; auch
muß er sich hüten, die Aufmerksamkeit des Zu-
schauers auf einen Hauptcharakter, durch einen eben
so interessanten ihm entgegengesetzten, zu schwächen.
Allein dieses hindert ihn keinesweges, einen Haupt-
charakter durch einen ihm entgegengesetzten, in ein
helleres Licht zu setzen, wenn er nur Verstand ge-
nug hat, dieses auf eine gute Art zu thun.

Einige Kunstrichter haben vollkommen gute Cha-
rakter, sowol für das Drama, als für die Epopee,
als etwas ungereimtes gänzlich verworfen. (*)(*) Shaff-
tesbury's
characteri-
sticks Tom.
III.
S. 260.
u. s. f.
Briefe über
die neueste
Litteratur
VII. Theil
S. 117. f. f.

Wenn man eine solche Vollkommenheit versteht,
die kein Mensch erreichen kann, und die doch einem
Menschen zugeschrieben wird, so hat man vollkom-
men Recht, sie zu verbieten; denn das Gedicht
muß nichts unmögliches auch nichts unwahrschein-
liches enthalten. Wollte man aber auch nicht haben,
daß die höchste menschliche Vollkommenheit, so wie
sie zu erreichen möglich ist, einer handelnden Per-
son sollte zugeschrieben werden, so würde man schwer-
lich einen guten Grund für ein solches Verbot anfüh-
ren können. Die Furcht, daß ein solcher Charak-
ter nicht interessant genug sey, weil die Leidenschaf-
ten dabey zu wenig ins Spiel kommen, ist nicht ge-
gründet. Man stelle sich vor, daß ein Dichter den
Tod des Sokrates zum Jnhalt eines Drama nähme.
Um bey der genauen historischen Wahrheit zu blei-
ben, könnte er dem Sokrates bey dieser Handlung
keine menschliche Schwachheit beylegen; denn sein
Betragen war in der That dabey vollkommen. Wie
wenig aber diese Vollkommenheit der Rührung schade,
sieht man aus der Art des Drama, das Plato und
Xenophon davon gemacht haben. Kein Mensch von
Empfindung kann sie ohne die höchste Rührung lesen.
Es ist also nicht abzusehen, wie man vorgeben könne,
vollkommen tugendhafte Charakter seyen nicht in-
teressant genug. Freylich muß man nicht solche Cha-
rakter willkührlich zusammen setzen; die Vollkom-
menheit muß die Würkung solcher Ursachen seyn, die

in

[Spaltenumbruch]

Cha
genſatz oder Contraſt ausmachen; denn dadurch wer-
den ſie deſto lebhafter bezeichnet. Wenn ein Mann
von geradem, offenherzigen und freyen Weſen, ne-
ben einen zuruͤckhaltenden, ein verwegener und hitzi-
ger, neben einem vorſichtigen und bedaͤchtigen Mann
erſcheinet, ſo werden unſtreitig alle Aeuſſerungen
des einen, durch das, was man von dem andern
ſieht, beſſer bemerkt werden.

Eine beſonders gute Wuͤrkung kann dadurch er-
halten werden, daß unter den handelnden Perſonen
ſolche ſind, die unſer Urtheil uͤber das Betragen der
Hauptperſonen unterſtuͤtzen, oder lenken. Dieſes
geſchieht z. B. wenn bey einer ganz wichtigen Lage
der Sachen, wo die handelnden Perſonen alle in Lei-
denſchaften gerathen, auch ſolche eingefuͤhrt werden,
die bey etwas kaltem Gebluͤte bleiben, und alles was
vorgeht, mit groſſer Richtigkeit und ſcharfer Beur-
theilungskraft einſehen. Denn niemal wuͤrken
ſtarke und recht entſcheidende Urtheile der Vernunft
mehr auf uns, als wenn wir ſie neben hitziger Be-
wundrung oder lebhafter Verabſcheuung ſehen.
Wenn wir in Shakesſpears Richard jederman in
der heftigſten Verabſcheuung der wuͤthenden Bos-
heit dieſes Tyrannen ſehen, ſo fehlet es an einem
gelaſſenen Menſchen, der durch nachdruͤkliche Aeuſ-
ſerungen uͤberlegter Urtheile, den Empfindungen der
andern, noch mehr Kraft auf uns mittheilte.

Jnzwiſchen muß das, was hier von dem Gegen-
ſatz der Charakter, und beſonders von dem Gegen-
ſatz der Leidenſchaft und der Vernunft angemerkt
wird, nicht ſo verſtanden werden, daß jeder Cha-
rakter beſtaͤndig einen entgegengeſetzten, ſo wie der
Koͤrper einen Schatten, neben ſich haben ſoll. Die-
ſes wuͤrde zu gekuͤnſtelt und zu gezwungen ſeyn.
Nicht jeder Charakter darf einen entgegengeſetzten
neben ſich haben, und wo man Perſonen von ent-
gegengeſetztem Charakter einfuͤhrt, duͤrfen ſie eben
nicht unzertrennlich beyſammen ſeyn. Ein Dichter
von geſundem Urtheil, wird die Contraſte ſo zu be-
handeln wiſſen, daß weder Zwang noch Kunſt dabey
zu merken ſind, und daß nur die wichtigſten Ein-
druͤke, die man von den Charakteren zu erwarten
hat, in der groͤßten Staͤrke und im helleſten Licht
erſcheinen.

Einer der ſcharfſinnigſten Kunſtrichter unter den
(*) Dide-
rot. de la
poeſie dra-
matique.
Neuern (*) will, man ſoll im Drama den Contraſt
nicht in den Charakteren unter ſich, ſondern in dem,
entgegengeſetzten der Charakter und der Umſtaͤnde,
[Spaltenumbruch]

Cha
in welche die Perſonen verſetzt werden, ſuchen. Er
ſagt ungemein viel Gutes und Gruͤndliches von der
Unſchiklichkeit der gegen einander geſetzten Charakter.
Jm Grund aber ſcheinen ſeine Anmerkungen nur den
Mißbrauch und das uͤbertriebene in dieſer Sache, zu
widerrathen, worauf auch unſre vorhergehende An-
merkung abzielt. Freylich muß der Dichter die Ent-
wiklung und den Eindruk der Charakter dadurch zu
erhalten ſuchen, daß er dieſelben in mancherley und
in einander entgegenſtehende Umſtaͤnde bringt; auch
muß er ſich huͤten, die Aufmerkſamkeit des Zu-
ſchauers auf einen Hauptcharakter, durch einen eben
ſo intereſſanten ihm entgegengeſetzten, zu ſchwaͤchen.
Allein dieſes hindert ihn keinesweges, einen Haupt-
charakter durch einen ihm entgegengeſetzten, in ein
helleres Licht zu ſetzen, wenn er nur Verſtand ge-
nug hat, dieſes auf eine gute Art zu thun.

Einige Kunſtrichter haben vollkommen gute Cha-
rakter, ſowol fuͤr das Drama, als fuͤr die Epopee,
als etwas ungereimtes gaͤnzlich verworfen. (*)(*) Shaff-
tesbury’s
characteri-
ſticks Tom.
III.
S. 260.
u. ſ. f.
Briefe uͤber
die neueſte
Litteratur
VII. Theil
S. 117. f. f.

Wenn man eine ſolche Vollkommenheit verſteht,
die kein Menſch erreichen kann, und die doch einem
Menſchen zugeſchrieben wird, ſo hat man vollkom-
men Recht, ſie zu verbieten; denn das Gedicht
muß nichts unmoͤgliches auch nichts unwahrſchein-
liches enthalten. Wollte man aber auch nicht haben,
daß die hoͤchſte menſchliche Vollkommenheit, ſo wie
ſie zu erreichen moͤglich iſt, einer handelnden Per-
ſon ſollte zugeſchrieben werden, ſo wuͤrde man ſchwer-
lich einen guten Grund fuͤr ein ſolches Verbot anfuͤh-
ren koͤnnen. Die Furcht, daß ein ſolcher Charak-
ter nicht intereſſant genug ſey, weil die Leidenſchaf-
ten dabey zu wenig ins Spiel kommen, iſt nicht ge-
gruͤndet. Man ſtelle ſich vor, daß ein Dichter den
Tod des Sokrates zum Jnhalt eines Drama naͤhme.
Um bey der genauen hiſtoriſchen Wahrheit zu blei-
ben, koͤnnte er dem Sokrates bey dieſer Handlung
keine menſchliche Schwachheit beylegen; denn ſein
Betragen war in der That dabey vollkommen. Wie
wenig aber dieſe Vollkommenheit der Ruͤhrung ſchade,
ſieht man aus der Art des Drama, das Plato und
Xenophon davon gemacht haben. Kein Menſch von
Empfindung kann ſie ohne die hoͤchſte Ruͤhrung leſen.
Es iſt alſo nicht abzuſehen, wie man vorgeben koͤnne,
vollkommen tugendhafte Charakter ſeyen nicht in-
tereſſant genug. Freylich muß man nicht ſolche Cha-
rakter willkuͤhrlich zuſammen ſetzen; die Vollkom-
menheit muß die Wuͤrkung ſolcher Urſachen ſeyn, die

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[198/0210] Cha Cha genſatz oder Contraſt ausmachen; denn dadurch wer- den ſie deſto lebhafter bezeichnet. Wenn ein Mann von geradem, offenherzigen und freyen Weſen, ne- ben einen zuruͤckhaltenden, ein verwegener und hitzi- ger, neben einem vorſichtigen und bedaͤchtigen Mann erſcheinet, ſo werden unſtreitig alle Aeuſſerungen des einen, durch das, was man von dem andern ſieht, beſſer bemerkt werden. Eine beſonders gute Wuͤrkung kann dadurch er- halten werden, daß unter den handelnden Perſonen ſolche ſind, die unſer Urtheil uͤber das Betragen der Hauptperſonen unterſtuͤtzen, oder lenken. Dieſes geſchieht z. B. wenn bey einer ganz wichtigen Lage der Sachen, wo die handelnden Perſonen alle in Lei- denſchaften gerathen, auch ſolche eingefuͤhrt werden, die bey etwas kaltem Gebluͤte bleiben, und alles was vorgeht, mit groſſer Richtigkeit und ſcharfer Beur- theilungskraft einſehen. Denn niemal wuͤrken ſtarke und recht entſcheidende Urtheile der Vernunft mehr auf uns, als wenn wir ſie neben hitziger Be- wundrung oder lebhafter Verabſcheuung ſehen. Wenn wir in Shakesſpears Richard jederman in der heftigſten Verabſcheuung der wuͤthenden Bos- heit dieſes Tyrannen ſehen, ſo fehlet es an einem gelaſſenen Menſchen, der durch nachdruͤkliche Aeuſ- ſerungen uͤberlegter Urtheile, den Empfindungen der andern, noch mehr Kraft auf uns mittheilte. Jnzwiſchen muß das, was hier von dem Gegen- ſatz der Charakter, und beſonders von dem Gegen- ſatz der Leidenſchaft und der Vernunft angemerkt wird, nicht ſo verſtanden werden, daß jeder Cha- rakter beſtaͤndig einen entgegengeſetzten, ſo wie der Koͤrper einen Schatten, neben ſich haben ſoll. Die- ſes wuͤrde zu gekuͤnſtelt und zu gezwungen ſeyn. Nicht jeder Charakter darf einen entgegengeſetzten neben ſich haben, und wo man Perſonen von ent- gegengeſetztem Charakter einfuͤhrt, duͤrfen ſie eben nicht unzertrennlich beyſammen ſeyn. Ein Dichter von geſundem Urtheil, wird die Contraſte ſo zu be- handeln wiſſen, daß weder Zwang noch Kunſt dabey zu merken ſind, und daß nur die wichtigſten Ein- druͤke, die man von den Charakteren zu erwarten hat, in der groͤßten Staͤrke und im helleſten Licht erſcheinen. Einer der ſcharfſinnigſten Kunſtrichter unter den Neuern (*) will, man ſoll im Drama den Contraſt nicht in den Charakteren unter ſich, ſondern in dem, entgegengeſetzten der Charakter und der Umſtaͤnde, in welche die Perſonen verſetzt werden, ſuchen. Er ſagt ungemein viel Gutes und Gruͤndliches von der Unſchiklichkeit der gegen einander geſetzten Charakter. Jm Grund aber ſcheinen ſeine Anmerkungen nur den Mißbrauch und das uͤbertriebene in dieſer Sache, zu widerrathen, worauf auch unſre vorhergehende An- merkung abzielt. Freylich muß der Dichter die Ent- wiklung und den Eindruk der Charakter dadurch zu erhalten ſuchen, daß er dieſelben in mancherley und in einander entgegenſtehende Umſtaͤnde bringt; auch muß er ſich huͤten, die Aufmerkſamkeit des Zu- ſchauers auf einen Hauptcharakter, durch einen eben ſo intereſſanten ihm entgegengeſetzten, zu ſchwaͤchen. Allein dieſes hindert ihn keinesweges, einen Haupt- charakter durch einen ihm entgegengeſetzten, in ein helleres Licht zu ſetzen, wenn er nur Verſtand ge- nug hat, dieſes auf eine gute Art zu thun. (*) Dide- rot. de la poeſie dra- matique. Einige Kunſtrichter haben vollkommen gute Cha- rakter, ſowol fuͤr das Drama, als fuͤr die Epopee, als etwas ungereimtes gaͤnzlich verworfen. (*) Wenn man eine ſolche Vollkommenheit verſteht, die kein Menſch erreichen kann, und die doch einem Menſchen zugeſchrieben wird, ſo hat man vollkom- men Recht, ſie zu verbieten; denn das Gedicht muß nichts unmoͤgliches auch nichts unwahrſchein- liches enthalten. Wollte man aber auch nicht haben, daß die hoͤchſte menſchliche Vollkommenheit, ſo wie ſie zu erreichen moͤglich iſt, einer handelnden Per- ſon ſollte zugeſchrieben werden, ſo wuͤrde man ſchwer- lich einen guten Grund fuͤr ein ſolches Verbot anfuͤh- ren koͤnnen. Die Furcht, daß ein ſolcher Charak- ter nicht intereſſant genug ſey, weil die Leidenſchaf- ten dabey zu wenig ins Spiel kommen, iſt nicht ge- gruͤndet. Man ſtelle ſich vor, daß ein Dichter den Tod des Sokrates zum Jnhalt eines Drama naͤhme. Um bey der genauen hiſtoriſchen Wahrheit zu blei- ben, koͤnnte er dem Sokrates bey dieſer Handlung keine menſchliche Schwachheit beylegen; denn ſein Betragen war in der That dabey vollkommen. Wie wenig aber dieſe Vollkommenheit der Ruͤhrung ſchade, ſieht man aus der Art des Drama, das Plato und Xenophon davon gemacht haben. Kein Menſch von Empfindung kann ſie ohne die hoͤchſte Ruͤhrung leſen. Es iſt alſo nicht abzuſehen, wie man vorgeben koͤnne, vollkommen tugendhafte Charakter ſeyen nicht in- tereſſant genug. Freylich muß man nicht ſolche Cha- rakter willkuͤhrlich zuſammen ſetzen; die Vollkom- menheit muß die Wuͤrkung ſolcher Urſachen ſeyn, die in (*) Shaff- tesbury’s characteri- ſticks Tom. III. S. 260. u. ſ. f. Briefe uͤber die neueſte Litteratur VII. Theil S. 117. f. f.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 198. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/210>, abgerufen am 23.11.2024.