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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Abs
dem Takt, der Abschnit desselben mit den Zeiten
des Takts, genau übereinkommen. Wie aber die
ungebundene Rede weniger an einen bestimmten
Wohlklang gebunden ist, als die Verse, so sind
es diese vielweniger, als die Musik. Daher sie
zwar ihre abgemessene Takte, aber nicht eben ihre
gleichen Zeiten deßelben haben. Jn dem Takt sind
die Zeiten überall durch das ganze Stück darinn er
herrscht, vollkommen gleich, in dem Vers aber lei-
det der Abschnit eine Veränderung. Hiedurch
ist also das Wesen und der Ursprung des Abschnits
bestimmt.

Wer nicht auf die Natur der Musik, in welcher
der wahre Ursprung des Verses und des Abschnits
gegründet ist, zurück sehen will, der kann sich
seinen Ursprung auch so vorstellen. Wenn wir
Verse lesen, so müssen wir der Stimme außer
den Wendungen, die ihr schon in der ungebunde-
nen Rede zukommen, noch eine andre geben, die
dem Gange des Verses eigen ist. Jn kurzen Vers-
arten ist das Metrum hiezu hinlänglich, zumal,
da dergleichen Verse insgemein durch ihre Ungleich-
heit eine angenehme Abwechselung machen. Län-
gere Verse aber, zumal solche, die einerley Füße
haben, wie unsre Alexandriner, erfodern mehr Ab-
wechselung des Tons, der sich erst allmählig heben
und denn wieder sinken muß, so wie im Fortschrei-
ten der Fuß sich hebt und wieder sinkt.

Mit gleich starkem Athem ist es ohnedem nicht
möglich einen ganzen Hexameter auszusprechen.
Dieses, mit dem dunkeln Gefühl, daß ein solcher
Vers zu lang sey, um durchaus mit einerley
Stimme vorgetragen zu werden, macht, daß
wir jeder Hälfte ihre besondere Schattirung der
Stimme geben, wenn uns nur der Dichter die
Gelegenheit dazu nicht gänzlich benommen hat.
Sobald wir den Vers nicht mehr mit Wohlklang
lesen, sondern Scandiren, so verliert sich der
Abschnit ganz.

Allein da der Vers ein einziges unzertrennliches
Glied ist, dessen Theile nicht von einander abgelöst
sind, so muß der Abschnit so seyn, daß man bey
der kleinen Ruhe, nach dem ersten Theil desselben,
fühlt, es gehöre noch ein andrer Theil dazu. Die-
ses wird offenbar dadurch erhalten, daß der Ab-
schnit mitten in einen Fuß fällt; denn dadurch
werden wir gehindert zu lange auf dem Ruhepunkt
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Abs
zu verweilen, und das Ohr fühlt, daß noch etwas
folgen müße. Jn dem Vers:

Du bringst früh oder späth -- ein jedes Vornehmen zu Ende.
kann man sich nach späth einen Augenblick ver-
weilen, um der Stimme zur andern Hälfte des
Verses eine neue Modification zu geben; aber man
fühlt bey dem Verweilen, da der dritte Fuß noch
nicht ganz ausgesprochen ist, daß man noch nicht
zum Ende des Taktes sey. Es ist daher eine Unvoll-
kommenheit des Abschnitts, wenn derselbe nicht
nur einen Fuß, sondern sogar einen völligen Sinn
endiget; wie in dem halben Vers: Die Seele
macht ihr Glück.
Denn da könnte sich das Ge-
fühl des Fortfahrens verlieren, und würde sich in
der That verliehren, wenn wir nicht aus Liebe zum
Wohlklang, ohne es zu wissen, diesen jambischen
Vers, als einen trochäischen lesen würden, dem
eine kurze Sylbe vorgesetzt ist.

Die | Seele | macht ihr | Glück; ihr | sind die | äussern | Sachen.
Auf diese Weise retten wir die völlige Trennung
des Verses in zwey Verse. Man kann es also zur
Regel machen, daß der Abschnit nicht an das Ende,
sondern in die Mitte eines Fusses falle.

Da er auch nothwendig ein Verweilen verur-
sachet, so ist ferner natürlich, daß er nach einer
langen Sylbe stehe, weil sich diese zum Verweilen
am besten schicket. Dieses nennt man| einen
männlichen Abschnit. Fällt er nach einer kurzen
Sylbe, wie in diesen Versen:

Wie zärtlich klagt der Vogel, und ladet durch den Hayn,
Den kaum der Lenz verjüngert, sein künftig Weibchen ein!

so scheint es weniger natürlich, und würde beynahe
ganz unmöglich fallen, wenn nicht der Dichter die
Ruhe mit Gewalt hervorbrächte, indem er durch
Einschiebung einer, in sein Metrum eigentlich nicht
gehörigen, Sylbe, den Fluß des Verses unterbricht.
Dadurch aber verfällt er in den andern Abweg,
und macht in der That aus einem Vers zwey.

Es scheint aber, als wenn die Dauer oder der
Nachdruck einer langen Sylbe noch nicht einmal
hinlänglich zum Abschnit wäre, und daß er am
Ende eines ganzen Wortes müße genommen wer-
den: finitis partibus orationis fiunt, sagt Diome-
des von den Abschniten. Daher kommt es, daß
der Abschnit in den drey letzten, der oben aus der
Noachide angezogenen Versen ziemlich zweydeutig
wird. Der Grammatiker Diomedes sagt, daß die

Grie-

[Spaltenumbruch]

Abſ
dem Takt, der Abſchnit deſſelben mit den Zeiten
des Takts, genau uͤbereinkommen. Wie aber die
ungebundene Rede weniger an einen beſtimmten
Wohlklang gebunden iſt, als die Verſe, ſo ſind
es dieſe vielweniger, als die Muſik. Daher ſie
zwar ihre abgemeſſene Takte, aber nicht eben ihre
gleichen Zeiten deßelben haben. Jn dem Takt ſind
die Zeiten uͤberall durch das ganze Stuͤck darinn er
herrſcht, vollkommen gleich, in dem Vers aber lei-
det der Abſchnit eine Veraͤnderung. Hiedurch
iſt alſo das Weſen und der Urſprung des Abſchnits
beſtimmt.

Wer nicht auf die Natur der Muſik, in welcher
der wahre Urſprung des Verſes und des Abſchnits
gegruͤndet iſt, zuruͤck ſehen will, der kann ſich
ſeinen Urſprung auch ſo vorſtellen. Wenn wir
Verſe leſen, ſo muͤſſen wir der Stimme außer
den Wendungen, die ihr ſchon in der ungebunde-
nen Rede zukommen, noch eine andre geben, die
dem Gange des Verſes eigen iſt. Jn kurzen Vers-
arten iſt das Metrum hiezu hinlaͤnglich, zumal,
da dergleichen Verſe insgemein durch ihre Ungleich-
heit eine angenehme Abwechſelung machen. Laͤn-
gere Verſe aber, zumal ſolche, die einerley Fuͤße
haben, wie unſre Alexandriner, erfodern mehr Ab-
wechſelung des Tons, der ſich erſt allmaͤhlig heben
und denn wieder ſinken muß, ſo wie im Fortſchrei-
ten der Fuß ſich hebt und wieder ſinkt.

Mit gleich ſtarkem Athem iſt es ohnedem nicht
moͤglich einen ganzen Hexameter auszuſprechen.
Dieſes, mit dem dunkeln Gefuͤhl, daß ein ſolcher
Vers zu lang ſey, um durchaus mit einerley
Stimme vorgetragen zu werden, macht, daß
wir jeder Haͤlfte ihre beſondere Schattirung der
Stimme geben, wenn uns nur der Dichter die
Gelegenheit dazu nicht gaͤnzlich benommen hat.
Sobald wir den Vers nicht mehr mit Wohlklang
leſen, ſondern Scandiren, ſo verliert ſich der
Abſchnit ganz.

Allein da der Vers ein einziges unzertrennliches
Glied iſt, deſſen Theile nicht von einander abgeloͤſt
ſind, ſo muß der Abſchnit ſo ſeyn, daß man bey
der kleinen Ruhe, nach dem erſten Theil deſſelben,
fuͤhlt, es gehoͤre noch ein andrer Theil dazu. Die-
ſes wird offenbar dadurch erhalten, daß der Ab-
ſchnit mitten in einen Fuß faͤllt; denn dadurch
werden wir gehindert zu lange auf dem Ruhepunkt
[Spaltenumbruch]

Abſ
zu verweilen, und das Ohr fuͤhlt, daß noch etwas
folgen muͤße. Jn dem Vers:

Du bringſt fruͤh oder ſpaͤth — ein jedes Vornehmen zu Ende.
kann man ſich nach ſpaͤth einen Augenblick ver-
weilen, um der Stimme zur andern Haͤlfte des
Verſes eine neue Modification zu geben; aber man
fuͤhlt bey dem Verweilen, da der dritte Fuß noch
nicht ganz ausgeſprochen iſt, daß man noch nicht
zum Ende des Taktes ſey. Es iſt daher eine Unvoll-
kommenheit des Abſchnitts, wenn derſelbe nicht
nur einen Fuß, ſondern ſogar einen voͤlligen Sinn
endiget; wie in dem halben Vers: Die Seele
macht ihr Gluͤck.
Denn da koͤnnte ſich das Ge-
fuͤhl des Fortfahrens verlieren, und wuͤrde ſich in
der That verliehren, wenn wir nicht aus Liebe zum
Wohlklang, ohne es zu wiſſen, dieſen jambiſchen
Vers, als einen trochaͤiſchen leſen wuͤrden, dem
eine kurze Sylbe vorgeſetzt iſt.

Die | Seele | macht ihr | Gluͤck; ihr | ſind die | aͤuſſern | Sachen.
Auf dieſe Weiſe retten wir die voͤllige Trennung
des Verſes in zwey Verſe. Man kann es alſo zur
Regel machen, daß der Abſchnit nicht an das Ende,
ſondern in die Mitte eines Fuſſes falle.

Da er auch nothwendig ein Verweilen verur-
ſachet, ſo iſt ferner natuͤrlich, daß er nach einer
langen Sylbe ſtehe, weil ſich dieſe zum Verweilen
am beſten ſchicket. Dieſes nennt man| einen
maͤnnlichen Abſchnit. Faͤllt er nach einer kurzen
Sylbe, wie in dieſen Verſen:

Wie zaͤrtlich klagt der Vogel, und ladet durch den Hayn,
Den kaum der Lenz verjuͤngert, ſein kuͤnftig Weibchen ein!

ſo ſcheint es weniger natuͤrlich, und wuͤrde beynahe
ganz unmoͤglich fallen, wenn nicht der Dichter die
Ruhe mit Gewalt hervorbraͤchte, indem er durch
Einſchiebung einer, in ſein Metrum eigentlich nicht
gehoͤrigen, Sylbe, den Fluß des Verſes unterbricht.
Dadurch aber verfaͤllt er in den andern Abweg,
und macht in der That aus einem Vers zwey.

Es ſcheint aber, als wenn die Dauer oder der
Nachdruck einer langen Sylbe noch nicht einmal
hinlaͤnglich zum Abſchnit waͤre, und daß er am
Ende eines ganzen Wortes muͤße genommen wer-
den: finitis partibus orationis fiunt, ſagt Diome-
des von den Abſchniten. Daher kommt es, daß
der Abſchnit in den drey letzten, der oben aus der
Noachide angezogenen Verſen ziemlich zweydeutig
wird. Der Grammatiker Diomedes ſagt, daß die

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[6/0018] Abſ Abſ dem Takt, der Abſchnit deſſelben mit den Zeiten des Takts, genau uͤbereinkommen. Wie aber die ungebundene Rede weniger an einen beſtimmten Wohlklang gebunden iſt, als die Verſe, ſo ſind es dieſe vielweniger, als die Muſik. Daher ſie zwar ihre abgemeſſene Takte, aber nicht eben ihre gleichen Zeiten deßelben haben. Jn dem Takt ſind die Zeiten uͤberall durch das ganze Stuͤck darinn er herrſcht, vollkommen gleich, in dem Vers aber lei- det der Abſchnit eine Veraͤnderung. Hiedurch iſt alſo das Weſen und der Urſprung des Abſchnits beſtimmt. Wer nicht auf die Natur der Muſik, in welcher der wahre Urſprung des Verſes und des Abſchnits gegruͤndet iſt, zuruͤck ſehen will, der kann ſich ſeinen Urſprung auch ſo vorſtellen. Wenn wir Verſe leſen, ſo muͤſſen wir der Stimme außer den Wendungen, die ihr ſchon in der ungebunde- nen Rede zukommen, noch eine andre geben, die dem Gange des Verſes eigen iſt. Jn kurzen Vers- arten iſt das Metrum hiezu hinlaͤnglich, zumal, da dergleichen Verſe insgemein durch ihre Ungleich- heit eine angenehme Abwechſelung machen. Laͤn- gere Verſe aber, zumal ſolche, die einerley Fuͤße haben, wie unſre Alexandriner, erfodern mehr Ab- wechſelung des Tons, der ſich erſt allmaͤhlig heben und denn wieder ſinken muß, ſo wie im Fortſchrei- ten der Fuß ſich hebt und wieder ſinkt. Mit gleich ſtarkem Athem iſt es ohnedem nicht moͤglich einen ganzen Hexameter auszuſprechen. Dieſes, mit dem dunkeln Gefuͤhl, daß ein ſolcher Vers zu lang ſey, um durchaus mit einerley Stimme vorgetragen zu werden, macht, daß wir jeder Haͤlfte ihre beſondere Schattirung der Stimme geben, wenn uns nur der Dichter die Gelegenheit dazu nicht gaͤnzlich benommen hat. Sobald wir den Vers nicht mehr mit Wohlklang leſen, ſondern Scandiren, ſo verliert ſich der Abſchnit ganz. Allein da der Vers ein einziges unzertrennliches Glied iſt, deſſen Theile nicht von einander abgeloͤſt ſind, ſo muß der Abſchnit ſo ſeyn, daß man bey der kleinen Ruhe, nach dem erſten Theil deſſelben, fuͤhlt, es gehoͤre noch ein andrer Theil dazu. Die- ſes wird offenbar dadurch erhalten, daß der Ab- ſchnit mitten in einen Fuß faͤllt; denn dadurch werden wir gehindert zu lange auf dem Ruhepunkt zu verweilen, und das Ohr fuͤhlt, daß noch etwas folgen muͤße. Jn dem Vers: Du bringſt fruͤh oder ſpaͤth — ein jedes Vornehmen zu Ende. kann man ſich nach ſpaͤth einen Augenblick ver- weilen, um der Stimme zur andern Haͤlfte des Verſes eine neue Modification zu geben; aber man fuͤhlt bey dem Verweilen, da der dritte Fuß noch nicht ganz ausgeſprochen iſt, daß man noch nicht zum Ende des Taktes ſey. Es iſt daher eine Unvoll- kommenheit des Abſchnitts, wenn derſelbe nicht nur einen Fuß, ſondern ſogar einen voͤlligen Sinn endiget; wie in dem halben Vers: Die Seele macht ihr Gluͤck. Denn da koͤnnte ſich das Ge- fuͤhl des Fortfahrens verlieren, und wuͤrde ſich in der That verliehren, wenn wir nicht aus Liebe zum Wohlklang, ohne es zu wiſſen, dieſen jambiſchen Vers, als einen trochaͤiſchen leſen wuͤrden, dem eine kurze Sylbe vorgeſetzt iſt. Die | Seele | macht ihr | Gluͤck; ihr | ſind die | aͤuſſern | Sachen. Auf dieſe Weiſe retten wir die voͤllige Trennung des Verſes in zwey Verſe. Man kann es alſo zur Regel machen, daß der Abſchnit nicht an das Ende, ſondern in die Mitte eines Fuſſes falle. Da er auch nothwendig ein Verweilen verur- ſachet, ſo iſt ferner natuͤrlich, daß er nach einer langen Sylbe ſtehe, weil ſich dieſe zum Verweilen am beſten ſchicket. Dieſes nennt man| einen maͤnnlichen Abſchnit. Faͤllt er nach einer kurzen Sylbe, wie in dieſen Verſen: Wie zaͤrtlich klagt der Vogel, und ladet durch den Hayn, Den kaum der Lenz verjuͤngert, ſein kuͤnftig Weibchen ein! ſo ſcheint es weniger natuͤrlich, und wuͤrde beynahe ganz unmoͤglich fallen, wenn nicht der Dichter die Ruhe mit Gewalt hervorbraͤchte, indem er durch Einſchiebung einer, in ſein Metrum eigentlich nicht gehoͤrigen, Sylbe, den Fluß des Verſes unterbricht. Dadurch aber verfaͤllt er in den andern Abweg, und macht in der That aus einem Vers zwey. Es ſcheint aber, als wenn die Dauer oder der Nachdruck einer langen Sylbe noch nicht einmal hinlaͤnglich zum Abſchnit waͤre, und daß er am Ende eines ganzen Wortes muͤße genommen wer- den: finitis partibus orationis fiunt, ſagt Diome- des von den Abſchniten. Daher kommt es, daß der Abſchnit in den drey letzten, der oben aus der Noachide angezogenen Verſen ziemlich zweydeutig wird. Der Grammatiker Diomedes ſagt, daß die Grie-

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 6. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/18>, abgerufen am 18.04.2024.