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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Bew
Ueberzeugung folgen soll. Daher entstehen also bey
dieser Beweisart die fünf Theile der Abhandlung,
deren Nothwendigkeit Cicero gegen einige Lehrer der
(*) De In-
vent. L.
1.
Redner behauptet. (*) Der erste Theil enthält den
deutlichen Vortrag des Obersatzes. Der zweyte
Theil enthält die vollkommene Bestätigung dieses
Satzes. Wenn diese so vollendet ist, daß kein Zwei-
fel übrig bleiben kann, so folget der Untersatz, als
der dritte Theil; hierauf dessen Bestätigung, die den
vierten Theil ausmacht, und endlich der Schluß,
als der fünfte Theil. Der zweyte und vierte Theil
sind die wichtigsten; deswegen auch die Redner alle-
mal den größten Fleiß auf dieselben wenden.

Diese Beweisart behandelt der Redner anders als
der Philosoph, indem er die Begriffe nie bis auf
ihre einfachesten Theile entwikelt. Er bleibt bey
blos klaren Begriffen stehen, wenn er sie nur dem
anschauenden Erkenntniß fühlbar genug machen kann.
Hauptsächlich aber unterscheidet er sich durch die Er-
weiterung seiner Sätze und durch die Art, die Be-
griffe festzusetzen. Der Philosoph begnügt sich, je-
den der drey Sätze seiner Vernunftschlüsse kurz und
bestimmt durch das Subjekt und das Prädicat aus-
zudruken. Der Redner drukt den Satz auf mehrere
Arten, durch Umschreibung und durch Erweiterung
aus; er wiederholt ihn mit andern Worten und in
andern Wendungen; er sucht ihn nicht nur dem Ver-
stand, sondern so viel möglich auch der Einbildungs-
kraft und dem Gefühl einzuprägen. Jn Entwik-
lung der Begriffe bleibt der Redner bey dem Zu-
sammengesetzten stehen, wo der Philosoph alles, bis
auf das Einfache, zergliedert: eine Beschreibung,
ein Gemähld, ein Beyspiel, oder ein Bild dienet ihm
statt einer Erklärung, wenn nur der Begriff da-
durch einen grossen Grad der Klarheit bekommt.
Der Philosoph begnüget sich mit einem Beweisgrund
zur Bestätigung eines Satzes, er scheinet gegen seine
Zuhörer ganz gleichgültig zu seyn; der Redner führt
mehrere an, um das ganze Gemüth von der Wahr-
heit der Sache einzunehmen; ihm ist daran gelegen,
daß seine Zuhörer so lange bey jeder Sache verwei-
len, bis sie sich mit aller möglichen Kraft dem Ge-
müthe eingeprägt hat. Er läßt kein Mittel unver-
sucht, der Wahrheit neue Kraft zu geben, und fü-
get einen pathetischen Beweis hinzu. Dieser besteht
darin, daß in dem Zuhörer solche Leidenschaften erwekt
werden, die für den Schluß sprechen; Mitlei-
den mit dem Beklagten, Zorn gegen den Ankläger etc.
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Bew
So macht er aus einem Vernunftschluß, den der
Philosoph in einem Athem vorbringt, eine lange
Rede, in welcher wechselsweise Verstand, Einbil-
dungskraft und Empfindung für die Wahrheit der
Sachen intereßirt werden.

Beweisgründe.

Zugestandene oder offenbare Wahrheiten, aus wel-
chen der Beweis andrer, in Zweifel gezogenen, Wahr-
heiten hergeleitet oder wahrscheinlich gemacht wird.
Wenn in einer Klagsache jemand eines Diebstals be-
schuldiget wird, und der Ankläger die Wahrheit der
Beschuldigung damit erweisen will, daß der Be-
klagte seit der Zeit des geschehenen Diebstals reich
ist, da er sonst arm gewesen, so ist diese schnelle
Veränderung der Armuth in Reichthum der Grund
des Beweises. Die Erfindung der Beweisgründe
ist ein wichtiger Theil der Beredsamkeit: deswegen
haben auch die alten Lehrer der Redner, besonders
Aristoteles und Cicero weitläuftig von dieser Sache
geschrieben.

Die Erfindung der Beweisgründe wird dadurch
sehr erleichtert, daß man dem Redner die Quellen
anzeiget, aus welchen in verschiedenen Fällen die Be-
weisgründe zu schöpfen sind.

Es giebt überhaupt zwey Wege, eine Sache zu
erweisen; die Erfahrung, und die Vernunftschlüsse.
Beweise durch Vernunftschlüsse nennten die Alten
überlegte, durch Kunst geführte Beweise, da sie die,
welche aus der Erfahrung genommen werden, un-
künstliche
hiessen. Diese sind Zeugnisse, Documente
und Schriften. Die Quellen der andern sind mannig-
faltig, und bedürfen einer nähern Erforschung.

Es giebt ebenfalls zwey Hauptwege, eine Sache
vernunftmäßig zu beweisen, ein gerader, der ohne
alle Umschweife zum Zwek führet, und ein Umweg,
welcher vorher auf andere Wahrheiten leitet, von
denen hernach ein gerader Weg zu derjenigen hin-
führt, die zu erweisen ist. Man betritt den gera-
den Weg, wann man den Beweis unmittelbar aus
der Natur der Sache, wovon die Rede ist, herlei-
tet, und man nimmt den Umweg, wenn man etwas,
das ausser der Hauptsache liegt, zum Grunde des
Beweises legt, und hernach hieraus durch natür-
liche Verbindung zur Hauptsache kommt. Jn Fra-
gen, die gewisse Vorfälle, oder geschehene Sachen
betreffen, kann man oft aus genauer Betrachtung
der vorgegebenen Sache und ihrer Umstände zei-

gen,

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Bew
Ueberzeugung folgen ſoll. Daher entſtehen alſo bey
dieſer Beweisart die fuͤnf Theile der Abhandlung,
deren Nothwendigkeit Cicero gegen einige Lehrer der
(*) De In-
vent. L.
1.
Redner behauptet. (*) Der erſte Theil enthaͤlt den
deutlichen Vortrag des Oberſatzes. Der zweyte
Theil enthaͤlt die vollkommene Beſtaͤtigung dieſes
Satzes. Wenn dieſe ſo vollendet iſt, daß kein Zwei-
fel uͤbrig bleiben kann, ſo folget der Unterſatz, als
der dritte Theil; hierauf deſſen Beſtaͤtigung, die den
vierten Theil ausmacht, und endlich der Schluß,
als der fuͤnfte Theil. Der zweyte und vierte Theil
ſind die wichtigſten; deswegen auch die Redner alle-
mal den groͤßten Fleiß auf dieſelben wenden.

Dieſe Beweisart behandelt der Redner anders als
der Philoſoph, indem er die Begriffe nie bis auf
ihre einfacheſten Theile entwikelt. Er bleibt bey
blos klaren Begriffen ſtehen, wenn er ſie nur dem
anſchauenden Erkenntniß fuͤhlbar genug machen kann.
Hauptſaͤchlich aber unterſcheidet er ſich durch die Er-
weiterung ſeiner Saͤtze und durch die Art, die Be-
griffe feſtzuſetzen. Der Philoſoph begnuͤgt ſich, je-
den der drey Saͤtze ſeiner Vernunftſchluͤſſe kurz und
beſtimmt durch das Subjekt und das Praͤdicat aus-
zudruken. Der Redner drukt den Satz auf mehrere
Arten, durch Umſchreibung und durch Erweiterung
aus; er wiederholt ihn mit andern Worten und in
andern Wendungen; er ſucht ihn nicht nur dem Ver-
ſtand, ſondern ſo viel moͤglich auch der Einbildungs-
kraft und dem Gefuͤhl einzupraͤgen. Jn Entwik-
lung der Begriffe bleibt der Redner bey dem Zu-
ſammengeſetzten ſtehen, wo der Philoſoph alles, bis
auf das Einfache, zergliedert: eine Beſchreibung,
ein Gemaͤhld, ein Beyſpiel, oder ein Bild dienet ihm
ſtatt einer Erklaͤrung, wenn nur der Begriff da-
durch einen groſſen Grad der Klarheit bekommt.
Der Philoſoph begnuͤget ſich mit einem Beweisgrund
zur Beſtaͤtigung eines Satzes, er ſcheinet gegen ſeine
Zuhoͤrer ganz gleichguͤltig zu ſeyn; der Redner fuͤhrt
mehrere an, um das ganze Gemuͤth von der Wahr-
heit der Sache einzunehmen; ihm iſt daran gelegen,
daß ſeine Zuhoͤrer ſo lange bey jeder Sache verwei-
len, bis ſie ſich mit aller moͤglichen Kraft dem Ge-
muͤthe eingepraͤgt hat. Er laͤßt kein Mittel unver-
ſucht, der Wahrheit neue Kraft zu geben, und fuͤ-
get einen pathetiſchen Beweis hinzu. Dieſer beſteht
darin, daß in dem Zuhoͤrer ſolche Leidenſchaften erwekt
werden, die fuͤr den Schluß ſprechen; Mitlei-
den mit dem Beklagten, Zorn gegen den Anklaͤger ꝛc.
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Bew
So macht er aus einem Vernunftſchluß, den der
Philoſoph in einem Athem vorbringt, eine lange
Rede, in welcher wechſelsweiſe Verſtand, Einbil-
dungskraft und Empfindung fuͤr die Wahrheit der
Sachen intereßirt werden.

Beweisgruͤnde.

Zugeſtandene oder offenbare Wahrheiten, aus wel-
chen der Beweis andrer, in Zweifel gezogenen, Wahr-
heiten hergeleitet oder wahrſcheinlich gemacht wird.
Wenn in einer Klagſache jemand eines Diebſtals be-
ſchuldiget wird, und der Anklaͤger die Wahrheit der
Beſchuldigung damit erweiſen will, daß der Be-
klagte ſeit der Zeit des geſchehenen Diebſtals reich
iſt, da er ſonſt arm geweſen, ſo iſt dieſe ſchnelle
Veraͤnderung der Armuth in Reichthum der Grund
des Beweiſes. Die Erfindung der Beweisgruͤnde
iſt ein wichtiger Theil der Beredſamkeit: deswegen
haben auch die alten Lehrer der Redner, beſonders
Ariſtoteles und Cicero weitlaͤuftig von dieſer Sache
geſchrieben.

Die Erfindung der Beweisgruͤnde wird dadurch
ſehr erleichtert, daß man dem Redner die Quellen
anzeiget, aus welchen in verſchiedenen Faͤllen die Be-
weisgruͤnde zu ſchoͤpfen ſind.

Es giebt uͤberhaupt zwey Wege, eine Sache zu
erweiſen; die Erfahrung, und die Vernunftſchluͤſſe.
Beweiſe durch Vernunftſchluͤſſe nennten die Alten
uͤberlegte, durch Kunſt gefuͤhrte Beweiſe, da ſie die,
welche aus der Erfahrung genommen werden, un-
kuͤnſtliche
hieſſen. Dieſe ſind Zeugniſſe, Documente
und Schriften. Die Quellen der andern ſind mannig-
faltig, und beduͤrfen einer naͤhern Erforſchung.

Es giebt ebenfalls zwey Hauptwege, eine Sache
vernunftmaͤßig zu beweiſen, ein gerader, der ohne
alle Umſchweife zum Zwek fuͤhret, und ein Umweg,
welcher vorher auf andere Wahrheiten leitet, von
denen hernach ein gerader Weg zu derjenigen hin-
fuͤhrt, die zu erweiſen iſt. Man betritt den gera-
den Weg, wann man den Beweis unmittelbar aus
der Natur der Sache, wovon die Rede iſt, herlei-
tet, und man nimmt den Umweg, wenn man etwas,
das auſſer der Hauptſache liegt, zum Grunde des
Beweiſes legt, und hernach hieraus durch natuͤr-
liche Verbindung zur Hauptſache kommt. Jn Fra-
gen, die gewiſſe Vorfaͤlle, oder geſchehene Sachen
betreffen, kann man oft aus genauer Betrachtung
der vorgegebenen Sache und ihrer Umſtaͤnde zei-

gen,
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[162/0174] Bew Bew Ueberzeugung folgen ſoll. Daher entſtehen alſo bey dieſer Beweisart die fuͤnf Theile der Abhandlung, deren Nothwendigkeit Cicero gegen einige Lehrer der Redner behauptet. (*) Der erſte Theil enthaͤlt den deutlichen Vortrag des Oberſatzes. Der zweyte Theil enthaͤlt die vollkommene Beſtaͤtigung dieſes Satzes. Wenn dieſe ſo vollendet iſt, daß kein Zwei- fel uͤbrig bleiben kann, ſo folget der Unterſatz, als der dritte Theil; hierauf deſſen Beſtaͤtigung, die den vierten Theil ausmacht, und endlich der Schluß, als der fuͤnfte Theil. Der zweyte und vierte Theil ſind die wichtigſten; deswegen auch die Redner alle- mal den groͤßten Fleiß auf dieſelben wenden. (*) De In- vent. L. 1. Dieſe Beweisart behandelt der Redner anders als der Philoſoph, indem er die Begriffe nie bis auf ihre einfacheſten Theile entwikelt. Er bleibt bey blos klaren Begriffen ſtehen, wenn er ſie nur dem anſchauenden Erkenntniß fuͤhlbar genug machen kann. Hauptſaͤchlich aber unterſcheidet er ſich durch die Er- weiterung ſeiner Saͤtze und durch die Art, die Be- griffe feſtzuſetzen. Der Philoſoph begnuͤgt ſich, je- den der drey Saͤtze ſeiner Vernunftſchluͤſſe kurz und beſtimmt durch das Subjekt und das Praͤdicat aus- zudruken. Der Redner drukt den Satz auf mehrere Arten, durch Umſchreibung und durch Erweiterung aus; er wiederholt ihn mit andern Worten und in andern Wendungen; er ſucht ihn nicht nur dem Ver- ſtand, ſondern ſo viel moͤglich auch der Einbildungs- kraft und dem Gefuͤhl einzupraͤgen. Jn Entwik- lung der Begriffe bleibt der Redner bey dem Zu- ſammengeſetzten ſtehen, wo der Philoſoph alles, bis auf das Einfache, zergliedert: eine Beſchreibung, ein Gemaͤhld, ein Beyſpiel, oder ein Bild dienet ihm ſtatt einer Erklaͤrung, wenn nur der Begriff da- durch einen groſſen Grad der Klarheit bekommt. Der Philoſoph begnuͤget ſich mit einem Beweisgrund zur Beſtaͤtigung eines Satzes, er ſcheinet gegen ſeine Zuhoͤrer ganz gleichguͤltig zu ſeyn; der Redner fuͤhrt mehrere an, um das ganze Gemuͤth von der Wahr- heit der Sache einzunehmen; ihm iſt daran gelegen, daß ſeine Zuhoͤrer ſo lange bey jeder Sache verwei- len, bis ſie ſich mit aller moͤglichen Kraft dem Ge- muͤthe eingepraͤgt hat. Er laͤßt kein Mittel unver- ſucht, der Wahrheit neue Kraft zu geben, und fuͤ- get einen pathetiſchen Beweis hinzu. Dieſer beſteht darin, daß in dem Zuhoͤrer ſolche Leidenſchaften erwekt werden, die fuͤr den Schluß ſprechen; Mitlei- den mit dem Beklagten, Zorn gegen den Anklaͤger ꝛc. So macht er aus einem Vernunftſchluß, den der Philoſoph in einem Athem vorbringt, eine lange Rede, in welcher wechſelsweiſe Verſtand, Einbil- dungskraft und Empfindung fuͤr die Wahrheit der Sachen intereßirt werden. Beweisgruͤnde. Zugeſtandene oder offenbare Wahrheiten, aus wel- chen der Beweis andrer, in Zweifel gezogenen, Wahr- heiten hergeleitet oder wahrſcheinlich gemacht wird. Wenn in einer Klagſache jemand eines Diebſtals be- ſchuldiget wird, und der Anklaͤger die Wahrheit der Beſchuldigung damit erweiſen will, daß der Be- klagte ſeit der Zeit des geſchehenen Diebſtals reich iſt, da er ſonſt arm geweſen, ſo iſt dieſe ſchnelle Veraͤnderung der Armuth in Reichthum der Grund des Beweiſes. Die Erfindung der Beweisgruͤnde iſt ein wichtiger Theil der Beredſamkeit: deswegen haben auch die alten Lehrer der Redner, beſonders Ariſtoteles und Cicero weitlaͤuftig von dieſer Sache geſchrieben. Die Erfindung der Beweisgruͤnde wird dadurch ſehr erleichtert, daß man dem Redner die Quellen anzeiget, aus welchen in verſchiedenen Faͤllen die Be- weisgruͤnde zu ſchoͤpfen ſind. Es giebt uͤberhaupt zwey Wege, eine Sache zu erweiſen; die Erfahrung, und die Vernunftſchluͤſſe. Beweiſe durch Vernunftſchluͤſſe nennten die Alten uͤberlegte, durch Kunſt gefuͤhrte Beweiſe, da ſie die, welche aus der Erfahrung genommen werden, un- kuͤnſtliche hieſſen. Dieſe ſind Zeugniſſe, Documente und Schriften. Die Quellen der andern ſind mannig- faltig, und beduͤrfen einer naͤhern Erforſchung. Es giebt ebenfalls zwey Hauptwege, eine Sache vernunftmaͤßig zu beweiſen, ein gerader, der ohne alle Umſchweife zum Zwek fuͤhret, und ein Umweg, welcher vorher auf andere Wahrheiten leitet, von denen hernach ein gerader Weg zu derjenigen hin- fuͤhrt, die zu erweiſen iſt. Man betritt den gera- den Weg, wann man den Beweis unmittelbar aus der Natur der Sache, wovon die Rede iſt, herlei- tet, und man nimmt den Umweg, wenn man etwas, das auſſer der Hauptſache liegt, zum Grunde des Beweiſes legt, und hernach hieraus durch natuͤr- liche Verbindung zur Hauptſache kommt. Jn Fra- gen, die gewiſſe Vorfaͤlle, oder geſchehene Sachen betreffen, kann man oft aus genauer Betrachtung der vorgegebenen Sache und ihrer Umſtaͤnde zei- gen,

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 162. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/174>, abgerufen am 28.03.2024.