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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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Ber
ten. Aber welcher Gesetzgeber hat nicht nöthig,
bisweilen durch Schriften mit seinem Volke zu re-
den? Wo ist ein gesittetes Volk, bey dem nicht we-
nigstens in sittlichen Angelegenheiten öffentliche Red-
ner aus Beruf auftreten, oder öffentliche Schrift-
steller ohne Beruf erscheinen? Dem Gesetzgeber, der
nicht ein Tyrann ist, muß daran gelegen seyn, daß
sein Volk von der Nothwendigkeit und dem Nutzen
seiner Verordnungen, seiner Befehle, seiner Veran-
staltungen, seiner Foderungen überzeuget werde.
Auch die unumschränkteste Gewalt kann durch Er-
wekung der Furcht nicht allemal zu ihrem Zwek
kommen, der in vielen Fällen nur durch den freyen
Willen des Volks erreicht wird. Dieser kann blos
durch Ueberredung erhalten werden. Dem Regen-
ten aber, der nach dem glänzenden Ruhm, ein Va-
ter und Wolthäter der Völker zu seyn, strebt, ist auch
daran gelegen, daß alle öffentliche, berufene und un-
berufene Lehrer des Volks, von der wahren Bered-
samkeit unterstützt werden. Nur alsdenn können
sie den vortheilhaftesten Einfluß auf den Charakter
des ganzen Volks haben. Eigentlich sind sie es
nur, durch die die Vernunft ausgebreitet, die Finster-
niß der Unwissenheit vertrieben, der Unflat des
Aberglaubens vertilget, und das sittliche Gefühl von
jedem guten in den Gemüthern rege gemacht wird.

Daß man die Beredsamkeit von den meisten
Gerichtshöfen abgewiesen hat, dagegen läßt sich mit
Recht nichts einwenden. Richter müssen erleuchtete
und einsichtsvolle Personen seyn, die nicht handeln,
sondern nur einsehen müssen, wo die Wahrheit und
das Recht liegt: dazu haben sie keines Redners
Hülfe nöthig. Nur wo ein ganzes Volk, und ein
Volk von nicht großer Einsicht, urtheilen, oder zu
einem einstimmigen Zwek handeln soll, da muß
es Männer haben, die an seiner Statt unter-
suchen, abwiegen, und die überwiegenden Gründe
ihm vorlegen.

Vermuthlich ist auch der Mißbrauch, der sehr oft
von der Beredsamkeit gemacht worden, die Haupt-
ursache, daß verschiedene Gesezgeber sie aus den
Gerichtshöfen verbannt haben: denn je größer
ihre Kraft ist, je schädlicher wird ihr Mißbrauch:
und wie das kräftigste Arzneymittel in den Händen
eines Unwissenden zum Gift wird, so wird die Be-
redsamkeit in den Händen eines boshaften zum
Werkzeug der Ungerechtigkeit und der Unterdrü-
kung. Ohne Zweifel war es die Besorgung des
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Ber
Mißbrauchs, der den Gesezgeber in Creta bewo-
gen hat, sie als eine Verführerin des Volks aus
seinem Staate zu verbannen. (*) Diese Vorsicht aber(*) S.
Sextus
Emp. ad.
verl. Ma-
them. L. II.

war zu weit getrieben: es giebt Mittel den Miß-
brauch zu verhindern, oder wenigstens ihn sehr
einzuschränken.

Der Ursprung dieser Kunst muß in den ersten
Zeiten des gefellschaftlichen Lebens gesucht werden.
So bald unter einem Volke die Sprache in etwas
gebildet ist, so entsteht aus großen gesellschaftlichen
Angelegenheiten das Bestreben, in dem die Be-
redsamkeit ihren Ursprung hat. Ein Patriot sucht
die Gedanken des Volks nach seiner Einsicht zu len-
ken. Man kann also die Erfindung dieser Kunst
keiner besondern Zeit und keinem Volke besonders
zuschreiben. Sie ist eine Frucht der Natur, jedem
Boden einheimisch; nur nimmt sie etwas von dem
Charakter des Himmelsstrichs, unter dem sie her-
vorkommt, an. Welche Völker aber die Gabe zu
reden in eine förmliche Kunst verwandelt haben,
können wir nicht sagen. Vielleicht haben die asia-
tischen Griechen dieses gethan. Wenn es wahr ist,
was man von den Verordnungen des Thales in
Creta, und des Lykurgus in Sparta sagt, (*) so(*)Sextut
l. c.

scheint die Beredsamkeit schon zu ihren Zeiten eine
förmliche Kunst gewesen zu seyn, deren Regeln ge-
lehrt worden sind. Daß aber schon vor dieser
Zeit die Kunst zu reden geblüht habe, beweißt
Homer, der vollkommenste Redner. Die Reden,
die er seinen Helden in den Mund legt, sind nach
Maaßgebung der Personen und der Umstände voll-
kommen. Ob aber schon zu seiner Zeit Schulen
der Beredsamkeit, oder besondre Lehrer derselben
gewesen seyen, läßt sich nicht sagen. Den Philo-
sophen Bias stellt Diogenes Laertius als einen
großen gerichtlichen Redner vor; woraus sich we-
nigstens abnehmen läßt, daß die öffentliche Bered-
samkeit nicht erst, wie einige vorgeben, zu den
Zeoten des Perikles in Flor gekommen. Sie scheint
vielmehr zu den Zeiten dieses Staatsmannes in
Athen ihren höchsten Gipfel erreicht zu haben.
Man sagt von ihm, daß er das Volk zu allem, was
er sich vorgesezt hatte, habe bereden können. Ein
sehr naives Zeugniß davon liegt in einer Antwort,
die Thucidides dem spartanischen König Archida-
mus
auf die Frage gegeben; wer von ihnen beyden,
Perikles oder Thucidides stärker im Ringen sey;
"das ist schweer zu sagen; (war die Antwort.)

denn
T 3

[Spaltenumbruch]

Ber
ten. Aber welcher Geſetzgeber hat nicht noͤthig,
bisweilen durch Schriften mit ſeinem Volke zu re-
den? Wo iſt ein geſittetes Volk, bey dem nicht we-
nigſtens in ſittlichen Angelegenheiten oͤffentliche Red-
ner aus Beruf auftreten, oder oͤffentliche Schrift-
ſteller ohne Beruf erſcheinen? Dem Geſetzgeber, der
nicht ein Tyrann iſt, muß daran gelegen ſeyn, daß
ſein Volk von der Nothwendigkeit und dem Nutzen
ſeiner Verordnungen, ſeiner Befehle, ſeiner Veran-
ſtaltungen, ſeiner Foderungen uͤberzeuget werde.
Auch die unumſchraͤnkteſte Gewalt kann durch Er-
wekung der Furcht nicht allemal zu ihrem Zwek
kommen, der in vielen Faͤllen nur durch den freyen
Willen des Volks erreicht wird. Dieſer kann blos
durch Ueberredung erhalten werden. Dem Regen-
ten aber, der nach dem glaͤnzenden Ruhm, ein Va-
ter und Wolthaͤter der Voͤlker zu ſeyn, ſtrebt, iſt auch
daran gelegen, daß alle oͤffentliche, berufene und un-
berufene Lehrer des Volks, von der wahren Bered-
ſamkeit unterſtuͤtzt werden. Nur alsdenn koͤnnen
ſie den vortheilhafteſten Einfluß auf den Charakter
des ganzen Volks haben. Eigentlich ſind ſie es
nur, durch die die Vernunft ausgebreitet, die Finſter-
niß der Unwiſſenheit vertrieben, der Unflat des
Aberglaubens vertilget, und das ſittliche Gefuͤhl von
jedem guten in den Gemuͤthern rege gemacht wird.

Daß man die Beredſamkeit von den meiſten
Gerichtshoͤfen abgewieſen hat, dagegen laͤßt ſich mit
Recht nichts einwenden. Richter muͤſſen erleuchtete
und einſichtsvolle Perſonen ſeyn, die nicht handeln,
ſondern nur einſehen muͤſſen, wo die Wahrheit und
das Recht liegt: dazu haben ſie keines Redners
Huͤlfe noͤthig. Nur wo ein ganzes Volk, und ein
Volk von nicht großer Einſicht, urtheilen, oder zu
einem einſtimmigen Zwek handeln ſoll, da muß
es Maͤnner haben, die an ſeiner Statt unter-
ſuchen, abwiegen, und die uͤberwiegenden Gruͤnde
ihm vorlegen.

Vermuthlich iſt auch der Mißbrauch, der ſehr oft
von der Beredſamkeit gemacht worden, die Haupt-
urſache, daß verſchiedene Geſezgeber ſie aus den
Gerichtshoͤfen verbannt haben: denn je groͤßer
ihre Kraft iſt, je ſchaͤdlicher wird ihr Mißbrauch:
und wie das kraͤftigſte Arzneymittel in den Haͤnden
eines Unwiſſenden zum Gift wird, ſo wird die Be-
redſamkeit in den Haͤnden eines boshaften zum
Werkzeug der Ungerechtigkeit und der Unterdruͤ-
kung. Ohne Zweifel war es die Beſorgung des
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Ber
Mißbrauchs, der den Geſezgeber in Creta bewo-
gen hat, ſie als eine Verfuͤhrerin des Volks aus
ſeinem Staate zu verbannen. (*) Dieſe Vorſicht aber(*) S.
Sextus
Emp. ad.
verl. Ma-
them. L. II.

war zu weit getrieben: es giebt Mittel den Miß-
brauch zu verhindern, oder wenigſtens ihn ſehr
einzuſchraͤnken.

Der Urſprung dieſer Kunſt muß in den erſten
Zeiten des gefellſchaftlichen Lebens geſucht werden.
So bald unter einem Volke die Sprache in etwas
gebildet iſt, ſo entſteht aus großen geſellſchaftlichen
Angelegenheiten das Beſtreben, in dem die Be-
redſamkeit ihren Urſprung hat. Ein Patriot ſucht
die Gedanken des Volks nach ſeiner Einſicht zu len-
ken. Man kann alſo die Erfindung dieſer Kunſt
keiner beſondern Zeit und keinem Volke beſonders
zuſchreiben. Sie iſt eine Frucht der Natur, jedem
Boden einheimiſch; nur nimmt ſie etwas von dem
Charakter des Himmelsſtrichs, unter dem ſie her-
vorkommt, an. Welche Voͤlker aber die Gabe zu
reden in eine foͤrmliche Kunſt verwandelt haben,
koͤnnen wir nicht ſagen. Vielleicht haben die aſia-
tiſchen Griechen dieſes gethan. Wenn es wahr iſt,
was man von den Verordnungen des Thales in
Creta, und des Lykurgus in Sparta ſagt, (*) ſo(*)Sextut
l. c.

ſcheint die Beredſamkeit ſchon zu ihren Zeiten eine
foͤrmliche Kunſt geweſen zu ſeyn, deren Regeln ge-
lehrt worden ſind. Daß aber ſchon vor dieſer
Zeit die Kunſt zu reden gebluͤht habe, beweißt
Homer, der vollkommenſte Redner. Die Reden,
die er ſeinen Helden in den Mund legt, ſind nach
Maaßgebung der Perſonen und der Umſtaͤnde voll-
kommen. Ob aber ſchon zu ſeiner Zeit Schulen
der Beredſamkeit, oder beſondre Lehrer derſelben
geweſen ſeyen, laͤßt ſich nicht ſagen. Den Philo-
ſophen Bias ſtellt Diogenes Laertius als einen
großen gerichtlichen Redner vor; woraus ſich we-
nigſtens abnehmen laͤßt, daß die oͤffentliche Bered-
ſamkeit nicht erſt, wie einige vorgeben, zu den
Zeoten des Perikles in Flor gekommen. Sie ſcheint
vielmehr zu den Zeiten dieſes Staatsmannes in
Athen ihren hoͤchſten Gipfel erreicht zu haben.
Man ſagt von ihm, daß er das Volk zu allem, was
er ſich vorgeſezt hatte, habe bereden koͤnnen. Ein
ſehr naives Zeugniß davon liegt in einer Antwort,
die Thucidides dem ſpartaniſchen Koͤnig Archida-
mus
auf die Frage gegeben; wer von ihnen beyden,
Perikles oder Thucidides ſtaͤrker im Ringen ſey;
„das iſt ſchweer zu ſagen; (war die Antwort.)

denn
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[149/0161] Ber Ber ten. Aber welcher Geſetzgeber hat nicht noͤthig, bisweilen durch Schriften mit ſeinem Volke zu re- den? Wo iſt ein geſittetes Volk, bey dem nicht we- nigſtens in ſittlichen Angelegenheiten oͤffentliche Red- ner aus Beruf auftreten, oder oͤffentliche Schrift- ſteller ohne Beruf erſcheinen? Dem Geſetzgeber, der nicht ein Tyrann iſt, muß daran gelegen ſeyn, daß ſein Volk von der Nothwendigkeit und dem Nutzen ſeiner Verordnungen, ſeiner Befehle, ſeiner Veran- ſtaltungen, ſeiner Foderungen uͤberzeuget werde. Auch die unumſchraͤnkteſte Gewalt kann durch Er- wekung der Furcht nicht allemal zu ihrem Zwek kommen, der in vielen Faͤllen nur durch den freyen Willen des Volks erreicht wird. Dieſer kann blos durch Ueberredung erhalten werden. Dem Regen- ten aber, der nach dem glaͤnzenden Ruhm, ein Va- ter und Wolthaͤter der Voͤlker zu ſeyn, ſtrebt, iſt auch daran gelegen, daß alle oͤffentliche, berufene und un- berufene Lehrer des Volks, von der wahren Bered- ſamkeit unterſtuͤtzt werden. Nur alsdenn koͤnnen ſie den vortheilhafteſten Einfluß auf den Charakter des ganzen Volks haben. Eigentlich ſind ſie es nur, durch die die Vernunft ausgebreitet, die Finſter- niß der Unwiſſenheit vertrieben, der Unflat des Aberglaubens vertilget, und das ſittliche Gefuͤhl von jedem guten in den Gemuͤthern rege gemacht wird. Daß man die Beredſamkeit von den meiſten Gerichtshoͤfen abgewieſen hat, dagegen laͤßt ſich mit Recht nichts einwenden. Richter muͤſſen erleuchtete und einſichtsvolle Perſonen ſeyn, die nicht handeln, ſondern nur einſehen muͤſſen, wo die Wahrheit und das Recht liegt: dazu haben ſie keines Redners Huͤlfe noͤthig. Nur wo ein ganzes Volk, und ein Volk von nicht großer Einſicht, urtheilen, oder zu einem einſtimmigen Zwek handeln ſoll, da muß es Maͤnner haben, die an ſeiner Statt unter- ſuchen, abwiegen, und die uͤberwiegenden Gruͤnde ihm vorlegen. Vermuthlich iſt auch der Mißbrauch, der ſehr oft von der Beredſamkeit gemacht worden, die Haupt- urſache, daß verſchiedene Geſezgeber ſie aus den Gerichtshoͤfen verbannt haben: denn je groͤßer ihre Kraft iſt, je ſchaͤdlicher wird ihr Mißbrauch: und wie das kraͤftigſte Arzneymittel in den Haͤnden eines Unwiſſenden zum Gift wird, ſo wird die Be- redſamkeit in den Haͤnden eines boshaften zum Werkzeug der Ungerechtigkeit und der Unterdruͤ- kung. Ohne Zweifel war es die Beſorgung des Mißbrauchs, der den Geſezgeber in Creta bewo- gen hat, ſie als eine Verfuͤhrerin des Volks aus ſeinem Staate zu verbannen. (*) Dieſe Vorſicht aber war zu weit getrieben: es giebt Mittel den Miß- brauch zu verhindern, oder wenigſtens ihn ſehr einzuſchraͤnken. (*) S. Sextus Emp. ad. verl. Ma- them. L. II. Der Urſprung dieſer Kunſt muß in den erſten Zeiten des gefellſchaftlichen Lebens geſucht werden. So bald unter einem Volke die Sprache in etwas gebildet iſt, ſo entſteht aus großen geſellſchaftlichen Angelegenheiten das Beſtreben, in dem die Be- redſamkeit ihren Urſprung hat. Ein Patriot ſucht die Gedanken des Volks nach ſeiner Einſicht zu len- ken. Man kann alſo die Erfindung dieſer Kunſt keiner beſondern Zeit und keinem Volke beſonders zuſchreiben. Sie iſt eine Frucht der Natur, jedem Boden einheimiſch; nur nimmt ſie etwas von dem Charakter des Himmelsſtrichs, unter dem ſie her- vorkommt, an. Welche Voͤlker aber die Gabe zu reden in eine foͤrmliche Kunſt verwandelt haben, koͤnnen wir nicht ſagen. Vielleicht haben die aſia- tiſchen Griechen dieſes gethan. Wenn es wahr iſt, was man von den Verordnungen des Thales in Creta, und des Lykurgus in Sparta ſagt, (*) ſo ſcheint die Beredſamkeit ſchon zu ihren Zeiten eine foͤrmliche Kunſt geweſen zu ſeyn, deren Regeln ge- lehrt worden ſind. Daß aber ſchon vor dieſer Zeit die Kunſt zu reden gebluͤht habe, beweißt Homer, der vollkommenſte Redner. Die Reden, die er ſeinen Helden in den Mund legt, ſind nach Maaßgebung der Perſonen und der Umſtaͤnde voll- kommen. Ob aber ſchon zu ſeiner Zeit Schulen der Beredſamkeit, oder beſondre Lehrer derſelben geweſen ſeyen, laͤßt ſich nicht ſagen. Den Philo- ſophen Bias ſtellt Diogenes Laertius als einen großen gerichtlichen Redner vor; woraus ſich we- nigſtens abnehmen laͤßt, daß die oͤffentliche Bered- ſamkeit nicht erſt, wie einige vorgeben, zu den Zeoten des Perikles in Flor gekommen. Sie ſcheint vielmehr zu den Zeiten dieſes Staatsmannes in Athen ihren hoͤchſten Gipfel erreicht zu haben. Man ſagt von ihm, daß er das Volk zu allem, was er ſich vorgeſezt hatte, habe bereden koͤnnen. Ein ſehr naives Zeugniß davon liegt in einer Antwort, die Thucidides dem ſpartaniſchen Koͤnig Archida- mus auf die Frage gegeben; wer von ihnen beyden, Perikles oder Thucidides ſtaͤrker im Ringen ſey; „das iſt ſchweer zu ſagen; (war die Antwort.) denn (*)Sextut l. c. T 3

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 149. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/161>, abgerufen am 19.04.2024.