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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.

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[Spaltenumbruch]

Beg
men; inzwischen aber dem Philosophen, der weni-
ger gläubig ist, folgendes ins Ohr sagen.

Bey der unauf hörlichen Anstrengung der Vor-
stellungskräfte auf einen einzigen Gegenstand ge-
schieht es wol, und vielleicht auch von ohngefehr,
so gar im Traume, daß ein ungewöhnlich heller Ge-
danken davon hervorkommt. Die große Begierde,
mit der man den Gegenstand schon so lange in
einem hellern Lichte zu sehen gewünscht, wird nun
plötzlich auf das Lebhafteste gereizt; nun werden alle
Nerven gespannt; die Aufmerksamkeit wird jedem
andern Gegenstand entzogen; alle Vorstellungen,
die nicht mit der einzigen intressanten verbunden
sind, sinken in die Dunkelheit. Selbst die Wür-
kung der äußern Sinnen wird so geschwächt, daß
der Geist daher keine Zerstreuung zu befürchten hat.
Desto heller und lebhafter wird nun jeder Begriff,
der sich auf den Hauptgegenstand bezieht; itzt treten
alle gesammelte Vorstellungen aus der Dunkelheit
empor, und, wie im nächtlichen Traum, wenn alle
Zerstreuung gänzlich auf höret, das Bild, welches
wir wachend in dunkele Dünste eingehüllt gesehen,
in der Klarheit des hellesten Tages, vor unsern Au-
gen steht, so sieht der Künstler in dem füßen Traum
der Begeisterung, den gewünschten Gegenstand vor
seinem Gesichte; er vernimmt Töne, wenn alles
still ist, und fühlt einen Körper, der blos in seiner
Einbildung die Würklichkeit hat.

Hieraus nun läßt sich allerdings begreifen, wo-
her die erhöhten Seelenkräfte in dem Zustand der
Begeisterung ihre Stärke bekommen, und warum
diese einen so vortheilhaften Einfluß auf die
Werke des Geschmaks habe; woher es komme,
daß jede einzele Vorstellung ein ungewöhnliches Le-
den bekömmt; warum abwesende Dinge, als ge-
genwärtig, vergangene oder zukünftige, als itzt vor-
handen erscheinen. Hat aber der Künstler in der
Begeisterung so lebhafte und so vollkommene Vor-
stellungen, so wird es ihm auch leicht, sie nach
Maaßgebung seiner Kunst, es sey durch Worte, oder
durch Zeichnung und Farbe, oder durch bloße Töne
zu äußern.

Einem Werk, oder einem Theil desselben, das in
der Begeisterung verfertigt worden, sind deutliche
Spuren der großen Lebhaftigkeit und des herrli-
[Spaltenumbruch]

Beg
chen Lichts, in welchem der Künstler seinen Gegen-
stand gesehen hat, eingepräget. Alles scheinet aus
einer reichen Quelle zu fließen; jedes Wort, jeder
Strich ist kräftig, und würkt gerade das, was er
würken soll. Man merkt es, daß dem Künstler
alles leicht gewesen, daß er nichts gesucht, sondern
jedes an seinem Orte gesehen hat; daß er ungedul-
dig gewesen ist, einen Gegenstand, der seine ganze
Seele so lebhaft erfüllt hatte, außer sich darzustellen.

Man findet darin nichts mit Sorgfalt abgemes-
sen, nichts das durch gesuchte Verbindungen, sich
an das nächste anschließt. Alles folget Schlag auf
Schlag, wir werden mit in das Feuer hingerissen,
das in der Seele des Künstlers brennt, oder in das
sanfte Entzüken gesezt, das ihn außer sich selbst ge-
bracht hat.

Der Künstler, dem es nicht an Verstand und
Genie fehlt, kann des guten Fortganges seines
Werks versichert seyn, so bald er in Begeisterung
gesezt ist; denn er hat alsdenn für nichts mehr
zu sorgen: er darf sich nur seiner Empfindung
überlassen. Alles, was er auszudrüken hat, liegt
in seiner Phantasie deutlich vor ihm. Ohne Vor-
saz und Ueberlegung ordnet seine Seele jeden Theil
auf das beste an, bildet jeden auf das lebhafteste
aus. Seine Feder oder Pinsel, seine Hand oder
sein Mund, sind nicht schnell genug, das darzustel-
len, was ihm dargeboten wird. Es sah einmal
jemand dem Michel Angelo zu, als er an einem
Marmorbild arbeitete. Jn dem Blik des Künst-
lers war etwas wildes, der Hammer stürzte in
seiner starken Faust mit Macht auf den Meißel,
und die abgeschlagene Stüke Marmor flogen weit
durch die Luft. Man hätte denken sollen, daß der
ganze Blok auf jeden Schlag hätte in Stüken ge-
hen sollen. [Spaltenumbruch] (+) Damals war dieser große Künstler
in der Begeisterung. Er sah das Bild, welches
er darstellen wollte, schon in dem Marmorblok, un-
geduldig es heraus zu bringen, schlug er kühn die
überflüßigen Theile weg, und war sicher, nichts von
dem Bilde, das er sah, weg zu hauen. So feu-
rig und so sicher ist jeder Künstler, dem die Be-
geisterung ein Bild in die Phantasie gemahlt hat.

Der Grund aller Begeisterung liegt in einem
starken Reiz des Gegenstandes, der die ganze Kraft

der
(+) Diese Anekdote findet sich in einem der Briefe
berühmter Künstler, welche vor wenig Jahren in Jta-
[Spaltenumbruch] lien heraus gekommen, und, wo ich nicht irre, in dem
3. Theil der Sammlung.

[Spaltenumbruch]

Beg
men; inzwiſchen aber dem Philoſophen, der weni-
ger glaͤubig iſt, folgendes ins Ohr ſagen.

Bey der unauf hoͤrlichen Anſtrengung der Vor-
ſtellungskraͤfte auf einen einzigen Gegenſtand ge-
ſchieht es wol, und vielleicht auch von ohngefehr,
ſo gar im Traume, daß ein ungewoͤhnlich heller Ge-
danken davon hervorkommt. Die große Begierde,
mit der man den Gegenſtand ſchon ſo lange in
einem hellern Lichte zu ſehen gewuͤnſcht, wird nun
ploͤtzlich auf das Lebhafteſte gereizt; nun werden alle
Nerven geſpannt; die Aufmerkſamkeit wird jedem
andern Gegenſtand entzogen; alle Vorſtellungen,
die nicht mit der einzigen intreſſanten verbunden
ſind, ſinken in die Dunkelheit. Selbſt die Wuͤr-
kung der aͤußern Sinnen wird ſo geſchwaͤcht, daß
der Geiſt daher keine Zerſtreuung zu befuͤrchten hat.
Deſto heller und lebhafter wird nun jeder Begriff,
der ſich auf den Hauptgegenſtand bezieht; itzt treten
alle geſammelte Vorſtellungen aus der Dunkelheit
empor, und, wie im naͤchtlichen Traum, wenn alle
Zerſtreuung gaͤnzlich auf hoͤret, das Bild, welches
wir wachend in dunkele Duͤnſte eingehuͤllt geſehen,
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gen ſteht, ſo ſieht der Kuͤnſtler in dem fuͤßen Traum
der Begeiſterung, den gewuͤnſchten Gegenſtand vor
ſeinem Geſichte; er vernimmt Toͤne, wenn alles
ſtill iſt, und fuͤhlt einen Koͤrper, der blos in ſeiner
Einbildung die Wuͤrklichkeit hat.

Hieraus nun laͤßt ſich allerdings begreifen, wo-
her die erhoͤhten Seelenkraͤfte in dem Zuſtand der
Begeiſterung ihre Staͤrke bekommen, und warum
dieſe einen ſo vortheilhaften Einfluß auf die
Werke des Geſchmaks habe; woher es komme,
daß jede einzele Vorſtellung ein ungewoͤhnliches Le-
den bekoͤmmt; warum abweſende Dinge, als ge-
genwaͤrtig, vergangene oder zukuͤnftige, als itzt vor-
handen erſcheinen. Hat aber der Kuͤnſtler in der
Begeiſterung ſo lebhafte und ſo vollkommene Vor-
ſtellungen, ſo wird es ihm auch leicht, ſie nach
Maaßgebung ſeiner Kunſt, es ſey durch Worte, oder
durch Zeichnung und Farbe, oder durch bloße Toͤne
zu aͤußern.

Einem Werk, oder einem Theil deſſelben, das in
der Begeiſterung verfertigt worden, ſind deutliche
Spuren der großen Lebhaftigkeit und des herrli-
[Spaltenumbruch]

Beg
chen Lichts, in welchem der Kuͤnſtler ſeinen Gegen-
ſtand geſehen hat, eingepraͤget. Alles ſcheinet aus
einer reichen Quelle zu fließen; jedes Wort, jeder
Strich iſt kraͤftig, und wuͤrkt gerade das, was er
wuͤrken ſoll. Man merkt es, daß dem Kuͤnſtler
alles leicht geweſen, daß er nichts geſucht, ſondern
jedes an ſeinem Orte geſehen hat; daß er ungedul-
dig geweſen iſt, einen Gegenſtand, der ſeine ganze
Seele ſo lebhaft erfuͤllt hatte, außer ſich darzuſtellen.

Man findet darin nichts mit Sorgfalt abgemeſ-
ſen, nichts das durch geſuchte Verbindungen, ſich
an das naͤchſte anſchließt. Alles folget Schlag auf
Schlag, wir werden mit in das Feuer hingeriſſen,
das in der Seele des Kuͤnſtlers brennt, oder in das
ſanfte Entzuͤken geſezt, das ihn außer ſich ſelbſt ge-
bracht hat.

Der Kuͤnſtler, dem es nicht an Verſtand und
Genie fehlt, kann des guten Fortganges ſeines
Werks verſichert ſeyn, ſo bald er in Begeiſterung
geſezt iſt; denn er hat alsdenn fuͤr nichts mehr
zu ſorgen: er darf ſich nur ſeiner Empfindung
uͤberlaſſen. Alles, was er auszudruͤken hat, liegt
in ſeiner Phantaſie deutlich vor ihm. Ohne Vor-
ſaz und Ueberlegung ordnet ſeine Seele jeden Theil
auf das beſte an, bildet jeden auf das lebhafteſte
aus. Seine Feder oder Pinſel, ſeine Hand oder
ſein Mund, ſind nicht ſchnell genug, das darzuſtel-
len, was ihm dargeboten wird. Es ſah einmal
jemand dem Michel Angelo zu, als er an einem
Marmorbild arbeitete. Jn dem Blik des Kuͤnſt-
lers war etwas wildes, der Hammer ſtuͤrzte in
ſeiner ſtarken Fauſt mit Macht auf den Meißel,
und die abgeſchlagene Stuͤke Marmor flogen weit
durch die Luft. Man haͤtte denken ſollen, daß der
ganze Blok auf jeden Schlag haͤtte in Stuͤken ge-
hen ſollen. [Spaltenumbruch] (†) Damals war dieſer große Kuͤnſtler
in der Begeiſterung. Er ſah das Bild, welches
er darſtellen wollte, ſchon in dem Marmorblok, un-
geduldig es heraus zu bringen, ſchlug er kuͤhn die
uͤberfluͤßigen Theile weg, und war ſicher, nichts von
dem Bilde, das er ſah, weg zu hauen. So feu-
rig und ſo ſicher iſt jeder Kuͤnſtler, dem die Be-
geiſterung ein Bild in die Phantaſie gemahlt hat.

Der Grund aller Begeiſterung liegt in einem
ſtarken Reiz des Gegenſtandes, der die ganze Kraft

der
(†) Dieſe Anekdote findet ſich in einem der Briefe
beruͤhmter Kuͤnſtler, welche vor wenig Jahren in Jta-
[Spaltenumbruch] lien heraus gekommen, und, wo ich nicht irre, in dem
3. Theil der Sammlung.
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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 140. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/152>, abgerufen am 26.04.2024.