und verehrte die Götter.| Dieses that sie ohne Wei- nen, und ohne einen Seufzer hören zu lassen. Jhr schönes Gesicht zeigte keine Spuhr des ihr bevor- stehenden Schiksals.
"Als sie aber hierauf in ihr Zimmer und an ihr Bette gegangen war, flossen häufige Thränen, und man hörte sie folgendes sagen: Du eheliches Bett, in dem ich den jungfräulichen Gürtel für den Mann aufgelöst habe, für den ich itzt sterbe, sey mir zum letzten male gegrüßt; noch hasse ich dich nicht, wie- wol du mich umbringst. Von dir wird eine andre Frau Besitz nehmen, nicht keuscher, noch treuer, als ich -- aber wol glüklicher.
"Denn warf sie sich auf das Bette hin, küßte und benetzte es mit ihren Thränen -- denn müde vom Weinen stund sie auf, verließ das Zimmer, kam wieder zurüke, und so gieng sie oft aus und ein, und warf sich oft auf das Bette hin.
"Jhre Kinder hiengen an ihrem Gewand, und weinten. Sie nahm eines um das andre in den Arm, küßte sie oft, und so, als wenn jeder Kuß der letzte wäre.
"Alle Bediente des Hauses weinten, und beklag- ten ihre Gebieterin; sie reichte jedem die Hand, nennte jeden, auch den geringsten mit Namen, grüßte sie, und wurde von jedem gegrüßt."
Dieses ist ohne Zweifel ein Muster eines vollkom- men ausgebildeten Gemähldes.
Eine sorgfältige Ueberlegung verdienet auch die Ausbildung der Personen und der Charaktere, so wol in Gedichten, als in Gemählden. Von Hauptpersonen ist hier nicht die Rede, weil diese entweder zum voraus hinlänglich bekannt sind, oder, da sie durch die ganze Handlung am öftersten er- scheinen, natürlicher Weise uns hinlänglich bekannt werden. Aber solche, die fremd sind, die nur in episodischen Stüken, oder als Nebenpersonen vor- kommen, diese müssen durch eine geschikte Ausbil- dung interessant werden. Der Künstler muß uns Gelegenheit geben, mit dem Auge so lange auf ih- nen zu verweilen, bis wir ihre Person und ihren Charakter hinlänglich gefaßt haben. Keine Person muß im Gedichte flüchtig, wie ein Schattenbild, vor den Augen vorüber fahren, noch in dem Ge- mählde so müßig seyn, daß wir nicht eine Zeitlang bey ihr verweilen. Hiezu hat der Künstler man- cherley Mittel, die nicht alle können entwikelt wer- [Spaltenumbruch]
Aus
den. Es wird genug seyn, einige Beyspiele davon anzuführen.
Zur Ausbildung der Personen thun gewisse be- sondere Umstände, die man nicht vermuthet, und die das Ansehen geheimer Nachrichten haben, wel- che die Franzosen Anecdoten nennen, eine ange- nehme Würkung. Jn diesem Kunstgriff ist Klop- stok insgemein sehr glüklich. Homer ist ganz voll solcher Ausbildungen, deren ganze Würkung wir aber nicht fühlen, weil die Zeiten, für die er ge- schrieben hat, zu weit von uns entfernt sind. Jst es Zufall oder Absicht dieses Dichters, daß in fol- gender Stelle der zweyte Vers so reich an Sylben und an Ton ist?
-- # (*)(*) Il. #. v. 148. 149.
Der Dichter stellt uns hier zwey neue Personen vor, von denen er nichts anders zu sagen hat, als daß ihr Vater, Eurydamas, ein Traumdeuter gewesen sey. Diese kleine Anekdote schleppt er durch einen langen sehr wol klingenden Vers durch, und scheinet uns Gelegenheit geben zu wollen, die Personen recht ins Gesichte zu fassen.
Eine besondere glükliche Ausbildung ist die, de- ren sich Milton bedient, da er Personen, die uns fremd scheinen, durch gewisse Umstände auf einmal als bekannt vorstellt. Verschiedene seiner aufrüh- rerischen Geister, von denen wir anfänglich nichts, als die Namen wissen, kommen uns hernach plötz- lich als bekannte Götzen vor, die das Heidenthum angebetet hat.
Bey allen Arten der Ausbildung hat man sich überhaupt vor dem überflüßigen in Acht zu neh- men, wodurch Ovidius fast allezeit fehlt, und das ihn so ofte matt oder frostig macht. Jn Handlungen, wo der Dichter fort eilen muß, werden sie gefähr- lich, und müssen mit der Kunst des Homers be- handelt werden; wo die Handlung natürlicher Weise etwas aufgehalten wird, da kann man nach Homers und Virgils Beyspiel sich in etwas um- ständlichere Ausbildungen einlassen.
Ausdruk. (Schöne Künste.)
Man braucht dieses Wort in der Kunstsprache, wenn man von Vorstellungen spricht, die vermit- telst äußerlicher Zeichen in dem Gemüthe erregt
werden,
[Spaltenumbruch]
Aus
und verehrte die Goͤtter.| Dieſes that ſie ohne Wei- nen, und ohne einen Seufzer hoͤren zu laſſen. Jhr ſchoͤnes Geſicht zeigte keine Spuhr des ihr bevor- ſtehenden Schikſals.
„Als ſie aber hierauf in ihr Zimmer und an ihr Bette gegangen war, floſſen haͤufige Thraͤnen, und man hoͤrte ſie folgendes ſagen: Du eheliches Bett, in dem ich den jungfraͤulichen Guͤrtel fuͤr den Mann aufgeloͤſt habe, fuͤr den ich itzt ſterbe, ſey mir zum letzten male gegruͤßt; noch haſſe ich dich nicht, wie- wol du mich umbringſt. Von dir wird eine andre Frau Beſitz nehmen, nicht keuſcher, noch treuer, als ich — aber wol gluͤklicher.
„Denn warf ſie ſich auf das Bette hin, kuͤßte und benetzte es mit ihren Thraͤnen — denn muͤde vom Weinen ſtund ſie auf, verließ das Zimmer, kam wieder zuruͤke, und ſo gieng ſie oft aus und ein, und warf ſich oft auf das Bette hin.
„Jhre Kinder hiengen an ihrem Gewand, und weinten. Sie nahm eines um das andre in den Arm, kuͤßte ſie oft, und ſo, als wenn jeder Kuß der letzte waͤre.
„Alle Bediente des Hauſes weinten, und beklag- ten ihre Gebieterin; ſie reichte jedem die Hand, nennte jeden, auch den geringſten mit Namen, gruͤßte ſie, und wurde von jedem gegruͤßt.‟
Dieſes iſt ohne Zweifel ein Muſter eines vollkom- men ausgebildeten Gemaͤhldes.
Eine ſorgfaͤltige Ueberlegung verdienet auch die Ausbildung der Perſonen und der Charaktere, ſo wol in Gedichten, als in Gemaͤhlden. Von Hauptperſonen iſt hier nicht die Rede, weil dieſe entweder zum voraus hinlaͤnglich bekannt ſind, oder, da ſie durch die ganze Handlung am oͤfterſten er- ſcheinen, natuͤrlicher Weiſe uns hinlaͤnglich bekannt werden. Aber ſolche, die fremd ſind, die nur in epiſodiſchen Stuͤken, oder als Nebenperſonen vor- kommen, dieſe muͤſſen durch eine geſchikte Ausbil- dung intereſſant werden. Der Kuͤnſtler muß uns Gelegenheit geben, mit dem Auge ſo lange auf ih- nen zu verweilen, bis wir ihre Perſon und ihren Charakter hinlaͤnglich gefaßt haben. Keine Perſon muß im Gedichte fluͤchtig, wie ein Schattenbild, vor den Augen voruͤber fahren, noch in dem Ge- maͤhlde ſo muͤßig ſeyn, daß wir nicht eine Zeitlang bey ihr verweilen. Hiezu hat der Kuͤnſtler man- cherley Mittel, die nicht alle koͤnnen entwikelt wer- [Spaltenumbruch]
Aus
den. Es wird genug ſeyn, einige Beyſpiele davon anzufuͤhren.
Zur Ausbildung der Perſonen thun gewiſſe be- ſondere Umſtaͤnde, die man nicht vermuthet, und die das Anſehen geheimer Nachrichten haben, wel- che die Franzoſen Anecdoten nennen, eine ange- nehme Wuͤrkung. Jn dieſem Kunſtgriff iſt Klop- ſtok insgemein ſehr gluͤklich. Homer iſt ganz voll ſolcher Ausbildungen, deren ganze Wuͤrkung wir aber nicht fuͤhlen, weil die Zeiten, fuͤr die er ge- ſchrieben hat, zu weit von uns entfernt ſind. Jſt es Zufall oder Abſicht dieſes Dichters, daß in fol- gender Stelle der zweyte Vers ſo reich an Sylben und an Ton iſt?
— # (*)(*) Il. #. v. 148. 149.
Der Dichter ſtellt uns hier zwey neue Perſonen vor, von denen er nichts anders zu ſagen hat, als daß ihr Vater, Eurydamas, ein Traumdeuter geweſen ſey. Dieſe kleine Anekdote ſchleppt er durch einen langen ſehr wol klingenden Vers durch, und ſcheinet uns Gelegenheit geben zu wollen, die Perſonen recht ins Geſichte zu faſſen.
Eine beſondere gluͤkliche Ausbildung iſt die, de- ren ſich Milton bedient, da er Perſonen, die uns fremd ſcheinen, durch gewiſſe Umſtaͤnde auf einmal als bekannt vorſtellt. Verſchiedene ſeiner aufruͤh- reriſchen Geiſter, von denen wir anfaͤnglich nichts, als die Namen wiſſen, kommen uns hernach ploͤtz- lich als bekannte Goͤtzen vor, die das Heidenthum angebetet hat.
Bey allen Arten der Ausbildung hat man ſich uͤberhaupt vor dem uͤberfluͤßigen in Acht zu neh- men, wodurch Ovidius faſt allezeit fehlt, und das ihn ſo ofte matt oder froſtig macht. Jn Handlungen, wo der Dichter fort eilen muß, werden ſie gefaͤhr- lich, und muͤſſen mit der Kunſt des Homers be- handelt werden; wo die Handlung natuͤrlicher Weiſe etwas aufgehalten wird, da kann man nach Homers und Virgils Beyſpiel ſich in etwas um- ſtaͤndlichere Ausbildungen einlaſſen.
Ausdruk. (Schoͤne Kuͤnſte.)
Man braucht dieſes Wort in der Kunſtſprache, wenn man von Vorſtellungen ſpricht, die vermit- telſt aͤußerlicher Zeichen in dem Gemuͤthe erregt
werden,
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[100/0112]
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und verehrte die Goͤtter.| Dieſes that ſie ohne Wei-
nen, und ohne einen Seufzer hoͤren zu laſſen. Jhr
ſchoͤnes Geſicht zeigte keine Spuhr des ihr bevor-
ſtehenden Schikſals.
„Als ſie aber hierauf in ihr Zimmer und an ihr
Bette gegangen war, floſſen haͤufige Thraͤnen, und
man hoͤrte ſie folgendes ſagen: Du eheliches Bett,
in dem ich den jungfraͤulichen Guͤrtel fuͤr den Mann
aufgeloͤſt habe, fuͤr den ich itzt ſterbe, ſey mir zum
letzten male gegruͤßt; noch haſſe ich dich nicht, wie-
wol du mich umbringſt. Von dir wird eine andre
Frau Beſitz nehmen, nicht keuſcher, noch treuer,
als ich — aber wol gluͤklicher.
„Denn warf ſie ſich auf das Bette hin, kuͤßte
und benetzte es mit ihren Thraͤnen — denn muͤde
vom Weinen ſtund ſie auf, verließ das Zimmer,
kam wieder zuruͤke, und ſo gieng ſie oft aus und
ein, und warf ſich oft auf das Bette hin.
„Jhre Kinder hiengen an ihrem Gewand, und
weinten. Sie nahm eines um das andre in den
Arm, kuͤßte ſie oft, und ſo, als wenn jeder Kuß
der letzte waͤre.
„Alle Bediente des Hauſes weinten, und beklag-
ten ihre Gebieterin; ſie reichte jedem die Hand,
nennte jeden, auch den geringſten mit Namen,
gruͤßte ſie, und wurde von jedem gegruͤßt.‟
Dieſes iſt ohne Zweifel ein Muſter eines vollkom-
men ausgebildeten Gemaͤhldes.
Eine ſorgfaͤltige Ueberlegung verdienet auch die
Ausbildung der Perſonen und der Charaktere, ſo
wol in Gedichten, als in Gemaͤhlden. Von
Hauptperſonen iſt hier nicht die Rede, weil dieſe
entweder zum voraus hinlaͤnglich bekannt ſind, oder,
da ſie durch die ganze Handlung am oͤfterſten er-
ſcheinen, natuͤrlicher Weiſe uns hinlaͤnglich bekannt
werden. Aber ſolche, die fremd ſind, die nur in
epiſodiſchen Stuͤken, oder als Nebenperſonen vor-
kommen, dieſe muͤſſen durch eine geſchikte Ausbil-
dung intereſſant werden. Der Kuͤnſtler muß uns
Gelegenheit geben, mit dem Auge ſo lange auf ih-
nen zu verweilen, bis wir ihre Perſon und ihren
Charakter hinlaͤnglich gefaßt haben. Keine Perſon
muß im Gedichte fluͤchtig, wie ein Schattenbild,
vor den Augen voruͤber fahren, noch in dem Ge-
maͤhlde ſo muͤßig ſeyn, daß wir nicht eine Zeitlang
bey ihr verweilen. Hiezu hat der Kuͤnſtler man-
cherley Mittel, die nicht alle koͤnnen entwikelt wer-
den. Es wird genug ſeyn, einige Beyſpiele davon
anzufuͤhren.
Zur Ausbildung der Perſonen thun gewiſſe be-
ſondere Umſtaͤnde, die man nicht vermuthet, und
die das Anſehen geheimer Nachrichten haben, wel-
che die Franzoſen Anecdoten nennen, eine ange-
nehme Wuͤrkung. Jn dieſem Kunſtgriff iſt Klop-
ſtok insgemein ſehr gluͤklich. Homer iſt ganz voll
ſolcher Ausbildungen, deren ganze Wuͤrkung wir
aber nicht fuͤhlen, weil die Zeiten, fuͤr die er ge-
ſchrieben hat, zu weit von uns entfernt ſind. Jſt
es Zufall oder Abſicht dieſes Dichters, daß in fol-
gender Stelle der zweyte Vers ſo reich an Sylben
und an Ton iſt?
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Der Dichter ſtellt uns hier zwey neue Perſonen vor,
von denen er nichts anders zu ſagen hat, als daß
ihr Vater, Eurydamas, ein Traumdeuter geweſen
ſey. Dieſe kleine Anekdote ſchleppt er durch einen
langen ſehr wol klingenden Vers durch, und ſcheinet
uns Gelegenheit geben zu wollen, die Perſonen recht
ins Geſichte zu faſſen.
Eine beſondere gluͤkliche Ausbildung iſt die, de-
ren ſich Milton bedient, da er Perſonen, die uns
fremd ſcheinen, durch gewiſſe Umſtaͤnde auf einmal
als bekannt vorſtellt. Verſchiedene ſeiner aufruͤh-
reriſchen Geiſter, von denen wir anfaͤnglich nichts,
als die Namen wiſſen, kommen uns hernach ploͤtz-
lich als bekannte Goͤtzen vor, die das Heidenthum
angebetet hat.
Bey allen Arten der Ausbildung hat man ſich
uͤberhaupt vor dem uͤberfluͤßigen in Acht zu neh-
men, wodurch Ovidius faſt allezeit fehlt, und das
ihn ſo ofte matt oder froſtig macht. Jn Handlungen,
wo der Dichter fort eilen muß, werden ſie gefaͤhr-
lich, und muͤſſen mit der Kunſt des Homers be-
handelt werden; wo die Handlung natuͤrlicher
Weiſe etwas aufgehalten wird, da kann man nach
Homers und Virgils Beyſpiel ſich in etwas um-
ſtaͤndlichere Ausbildungen einlaſſen.
Ausdruk.
(Schoͤne Kuͤnſte.)
Man braucht dieſes Wort in der Kunſtſprache,
wenn man von Vorſtellungen ſpricht, die vermit-
telſt aͤußerlicher Zeichen in dem Gemuͤthe erregt
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Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771, S. 100. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_theorie01_1771/112>, abgerufen am 30.07.2024.
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