Sulzer, Johann Georg: Allgemeine Theorie der Schönen Künste. Bd. 1. Leipzig, 1771.[Spaltenumbruch] Aus nichts als seinen Namen; aber bey einem Namenvon geringerm Gewichte steht ein vortheilhaftes Beywort nicht übel. Da die Ausbildung allemal auf eine Verstärkung Wenn Haller den Saz vorträgt, daß ein Mensch Sich Welten über dir, gezählt mit Millionen, Zu der Ausbildung, welche die Deutlichkeit ver- Die schnellen Flügel der Gedanken, Eine andre Art der Ausbildung hat eine lebhaf- Aus Ofte giebt ein einziger gering scheinender Um- Eine sonderbar glükliche Ausbildung dieser Art Das Kunststük, durch Rührung eines andern Hieher gehören auch die Ausbildungen, da un- Diffugere
[Spaltenumbruch] Aus nichts als ſeinen Namen; aber bey einem Namenvon geringerm Gewichte ſteht ein vortheilhaftes Beywort nicht uͤbel. Da die Ausbildung allemal auf eine Verſtaͤrkung Wenn Haller den Saz vortraͤgt, daß ein Menſch Sich Welten uͤber dir, gezaͤhlt mit Millionen, Zu der Ausbildung, welche die Deutlichkeit ver- Die ſchnellen Fluͤgel der Gedanken, Eine andre Art der Ausbildung hat eine lebhaf- Aus Ofte giebt ein einziger gering ſcheinender Um- Eine ſonderbar gluͤkliche Ausbildung dieſer Art Das Kunſtſtuͤk, durch Ruͤhrung eines andern Hieher gehoͤren auch die Ausbildungen, da un- Diffugere
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Sehr angenehm ſind<lb/> uͤberhaupt die Ausbildungen, deren Materie aus<lb/> einer andern Gattung hergenommen iſt, als die<lb/> Hauptmaterie, zu deren Verſchoͤnerung ſie dienen.<lb/> So miſcht Virgil in den <hi rendition="#aq">Georgicis</hi> unter ſeine leh-<lb/> rende Materie, pathetiſche Auszierungen; Thom-<lb/> ſon in ſeinen Jahrszeiten moraliſche und pathetiſche<lb/> Ausbildungen in ſeine Gemaͤhlde der lebloſen Na-<lb/> tur; Homer Nebenſachen von fanftem Jnhalt, als<lb/> Verzierungen kriegeriſcher Scenen. Wir wollen<lb/> die verſchiedenen Beyſpiele von gluͤklichen Ausbil-<lb/> dungen nach dieſen drey Gattungen anfuͤhren.</p><lb/> <p>Wenn Haller den Saz vortraͤgt, daß ein Menſch<lb/> zu gering ſey, zu verlangen, daß ſeinetwegen der<lb/> Lauf der Natur ſoll geaͤndert werden, ſo macht er<lb/> ihn durch eine vollkommene Ausbildung einleuch-<lb/> tender.</p><lb/> <cit> <quote>Sich Welten uͤber dir, gezaͤhlt mit Millionen,<lb/> — — — —<lb/> Der Raum und was er faßt, was heut und geſtern hat;<lb/> Menſch, Engel, Koͤrper, Geiſt; iſt alles eine Stadt;<lb/> Du biſt ein Buͤrger auch. Sieh ſelber, wie geringe!<lb/><note place="left">(*) Ant-<lb/> wort an<lb/> Herrn<lb/> Bodmer.</note>Und gleichwol machſt du dich zum Mittelpunkt der Dinge. (*)</quote> </cit><lb/> <p>Zu der Ausbildung, welche die Deutlichkeit ver-<lb/> mehret, gehoͤren uͤberhaupt alle Bilder, Vergleichun-<lb/> gen und Gleichniſſe, woruͤber es unnoͤthig waͤre,<lb/> Beyſpiele anzufuͤhren; folgendes kann ſtatt aller<lb/> dienen. Der eben angefuͤhrte Dichter will die Un-<lb/> ermeßlichkeit der Ewigkeit dem Verſtand einiger-<lb/> maßen begreiflich machen. Er ſagt: die Gedan-<lb/> ken ſelbſt, ſo ſchnell ſie ſind, koͤnnen ihr Ende nicht<lb/> erreichen; und dieſem giebt er folgende Ausbildung.</p><lb/> <cit> <quote>Die ſchnellen Fluͤgel der Gedanken,<lb/><hi rendition="#fr">Wogegen Zeit und Schall und Wind,<lb/> Und ſelbſt des Lichtes Fluͤgel langſam ſind,</hi><lb/> Ermuͤden uͤber dir.</quote> </cit><lb/> <p>Eine andre Art der Ausbildung hat eine lebhaf-<lb/> tere Ergreifung der Einbildungskraft zur Abſicht.<lb/> Es giebt eine große Mannigfaltigkeit der Mittel<lb/> dieſes zu bewuͤrken. 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Eine beſonders große Kraft haben<lb/> dergleichen kleine Umſtaͤnde, wenn unter den Vor-<lb/> ſtellungen, die hauptſaͤchlich einen der Sinne be-<lb/> ſchaͤfftigen, unvermuthet etwas vorkoͤmmt, das<lb/> auf einen andern Sinn wuͤrket. Darum laͤßt Ho-<lb/> mer, wenn das Auge vom Anſehen eines Kampfes<lb/> geſaͤttiget iſt, insgemein auch das Ohr davon et-<lb/> was empfinden. Man hat die Helden ſtreiten ge-<lb/> ſehen; nun faͤllt der eine, und durch das Geraſſel<lb/> ſeiner Waffen wird das Gehoͤr gereizt, wodurch<lb/> die ganze Vorſtellung ein ungemeines Leben be-<lb/> koͤmmt.</p><lb/> <p>Eine ſonderbar gluͤkliche Ausbildung dieſer Art<lb/> iſt in der Noachide, da, wo Og mit ſeinem Schiffe<lb/> vor der Arche vorbey faͤhrt. Die in der Arche ein-<lb/> geſchloſſenen Menſchen unterhalten ſich mit Ge-<lb/> ſpraͤchen; der Leſer glaubt mit ihnen, daß nun eine<lb/> toͤdtliche Stille uͤber dem ganzen Erdboden verbrei-<lb/> tet, und außer der Arche nichts lebendiges mehr<lb/> uͤbrig ſey. 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Aus
Aus
nichts als ſeinen Namen; aber bey einem Namen
von geringerm Gewichte ſteht ein vortheilhaftes
Beywort nicht uͤbel.
Da die Ausbildung allemal auf eine Verſtaͤrkung
der Vorſtellung abziehlt, ſo bezieht ſie ſich immer
auf eine der drey Arten der aͤſthetiſchen Kraft,
die Vorſtellungskraft, oder die Einbildungskraft,
oder die Begehrungskraft. Sehr angenehm ſind
uͤberhaupt die Ausbildungen, deren Materie aus
einer andern Gattung hergenommen iſt, als die
Hauptmaterie, zu deren Verſchoͤnerung ſie dienen.
So miſcht Virgil in den Georgicis unter ſeine leh-
rende Materie, pathetiſche Auszierungen; Thom-
ſon in ſeinen Jahrszeiten moraliſche und pathetiſche
Ausbildungen in ſeine Gemaͤhlde der lebloſen Na-
tur; Homer Nebenſachen von fanftem Jnhalt, als
Verzierungen kriegeriſcher Scenen. Wir wollen
die verſchiedenen Beyſpiele von gluͤklichen Ausbil-
dungen nach dieſen drey Gattungen anfuͤhren.
Wenn Haller den Saz vortraͤgt, daß ein Menſch
zu gering ſey, zu verlangen, daß ſeinetwegen der
Lauf der Natur ſoll geaͤndert werden, ſo macht er
ihn durch eine vollkommene Ausbildung einleuch-
tender.
Sich Welten uͤber dir, gezaͤhlt mit Millionen,
— — — —
Der Raum und was er faßt, was heut und geſtern hat;
Menſch, Engel, Koͤrper, Geiſt; iſt alles eine Stadt;
Du biſt ein Buͤrger auch. Sieh ſelber, wie geringe!
Und gleichwol machſt du dich zum Mittelpunkt der Dinge. (*)
Zu der Ausbildung, welche die Deutlichkeit ver-
mehret, gehoͤren uͤberhaupt alle Bilder, Vergleichun-
gen und Gleichniſſe, woruͤber es unnoͤthig waͤre,
Beyſpiele anzufuͤhren; folgendes kann ſtatt aller
dienen. Der eben angefuͤhrte Dichter will die Un-
ermeßlichkeit der Ewigkeit dem Verſtand einiger-
maßen begreiflich machen. Er ſagt: die Gedan-
ken ſelbſt, ſo ſchnell ſie ſind, koͤnnen ihr Ende nicht
erreichen; und dieſem giebt er folgende Ausbildung.
Die ſchnellen Fluͤgel der Gedanken,
Wogegen Zeit und Schall und Wind,
Und ſelbſt des Lichtes Fluͤgel langſam ſind,
Ermuͤden uͤber dir.
Eine andre Art der Ausbildung hat eine lebhaf-
tere Ergreifung der Einbildungskraft zur Abſicht.
Es giebt eine große Mannigfaltigkeit der Mittel
dieſes zu bewuͤrken. Wir wollen nur einiger,
die am ſeltenſten vorkommen, aber die gluͤklichſte
Wuͤrkung thun, erwaͤhnen.
Ofte giebt ein einziger gering ſcheinender Um-
ſtand einer ganzen Vorſtellung eine Sinnlichkeit,
ſo gar ein Leben, das durch weitlaͤuftige Veran-
ſtaltungen nicht zu erreichen geweſen waͤre. Die-
ſes gehoͤrt unter die gluͤklichſten Ausbildungen.
Haͤufige Beyſpiele davon treffen wir in der Jlias
an. So iſt der kleine Umſtand, da der vom Dio-
medes verwundete Aeneas auf die Knie ſinkt, und
ſich auf ſeinen an die Erde geſetzten Arm auflehnet.
Die drey oder vier Worte, die der Dichter hiezu
braucht, geben dem Gemaͤhlde ein Leben, daß wir
glauben, itzt den verwundeten Helden wuͤrklich vor
uns zu ſehen. Eine beſonders große Kraft haben
dergleichen kleine Umſtaͤnde, wenn unter den Vor-
ſtellungen, die hauptſaͤchlich einen der Sinne be-
ſchaͤfftigen, unvermuthet etwas vorkoͤmmt, das
auf einen andern Sinn wuͤrket. Darum laͤßt Ho-
mer, wenn das Auge vom Anſehen eines Kampfes
geſaͤttiget iſt, insgemein auch das Ohr davon et-
was empfinden. Man hat die Helden ſtreiten ge-
ſehen; nun faͤllt der eine, und durch das Geraſſel
ſeiner Waffen wird das Gehoͤr gereizt, wodurch
die ganze Vorſtellung ein ungemeines Leben be-
koͤmmt.
Eine ſonderbar gluͤkliche Ausbildung dieſer Art
iſt in der Noachide, da, wo Og mit ſeinem Schiffe
vor der Arche vorbey faͤhrt. Die in der Arche ein-
geſchloſſenen Menſchen unterhalten ſich mit Ge-
ſpraͤchen; der Leſer glaubt mit ihnen, daß nun eine
toͤdtliche Stille uͤber dem ganzen Erdboden verbrei-
tet, und außer der Arche nichts lebendiges mehr
uͤbrig ſey. Mitten in dieſer Vorſtellung vernimmt
man außer der Arche das Bellen eines Hundes.
Ein wunderbarer Umſtand, der die Einbildungs-
Kraft ploͤzlich in die groͤßte Wuͤrkſamkeit ſetzet!
Das Kunſtſtuͤk, durch Ruͤhrung eines andern
Sinnes der Vorſtellung mehr Leben zu geben, hat
Poußin in ſeinem Gemaͤhlde, von der Krankheit der
Philiſter, gluͤklich angebracht. Nachdem das Aug
von dem Anſchauen der todten und ſterbenden Men-
ſchen hinlaͤnglich geruͤhrt worden, koͤmmt man auf
Gegenſtaͤnde, die auch den Geruch angreiffen. Eine
Ausbildung von großer Staͤrke.
Hieher gehoͤren auch die Ausbildungen, da un-
ter lebloſe Gegenſtaͤnde, welche die Hauptvorſtel-
lung ausmachen, als Nebenſachen, empfindende
Weſen eingemiſcht werden, wie in folgendem Ge-
maͤhlde:
Diffugere
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