Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

Bild:
<< vorherige Seite

Tagebuch von einer nach Nizza
verfertigen, und beydes nach Vevay zu Markte bringen.
Und doch müssen diese armseligen Geschöpfe das Recht,
in dieser unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von
Castanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit schwe-
ren Abgaben bezahlen.

Die traurigen Vorstellungen, die mir diese Leute
erweckten, wurden durch angenehmere verdrängt, als
ich neben erwähntem Marktplatz unter hohen Castanien-
bäumen längst dem Ufer des Sees spazierte, und ge-
genüber die Felsen von Meillerie im Gesicht hatte,
die jedem, der Rousseaus neue Heloise gelesen hat, un-
vergeßlich seyn müssen. Jetzt fiel mir der verliebte
St. Preux ein*), wie er mit dem Fernglas in der
Hand von diesen Felsen her nach Vevay herüber sah,
um das Haus seiner geliebten Julie zu entdecken. Die
Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die
Scene der sonderbaren Auftritte, die Rousseau in dem
17 Br. des 4 Theils der neuen Heloise beschreibt;
und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende-
te, sah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf
Clarens, die Hauptscene des sonderbaren Romans.
Alles dieses machte einen so lebhaften Eindruck auf
mich, daß ich in diesem Augenblick geneigt war, den
ganzen Roman von Julie und St. Preux für wah-
re Geschichte zu halten, die sich vor wenig Jahren
hier zugetragen. Man findet hier, daß Rousseau
die Hauptscene zu seinem Roman sehr gut gewählt
hat; die ganze Gegend hat etwas romantisches. Ge-
gen Abend fuhr ich wieder nach Lausanne zurück.

Den
*) S. die neue Heloise 28 Br. des 1 Theils.

Tagebuch von einer nach Nizza
verfertigen, und beydes nach Vevay zu Markte bringen.
Und doch muͤſſen dieſe armſeligen Geſchoͤpfe das Recht,
in dieſer unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von
Caſtanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit ſchwe-
ren Abgaben bezahlen.

Die traurigen Vorſtellungen, die mir dieſe Leute
erweckten, wurden durch angenehmere verdraͤngt, als
ich neben erwaͤhntem Marktplatz unter hohen Caſtanien-
baͤumen laͤngſt dem Ufer des Sees ſpazierte, und ge-
genuͤber die Felſen von Meillerie im Geſicht hatte,
die jedem, der Rouſſeaus neue Heloiſe geleſen hat, un-
vergeßlich ſeyn muͤſſen. Jetzt fiel mir der verliebte
St. Preux ein*), wie er mit dem Fernglas in der
Hand von dieſen Felſen her nach Vevay heruͤber ſah,
um das Haus ſeiner geliebten Julie zu entdecken. Die
Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die
Scene der ſonderbaren Auftritte, die Rouſſeau in dem
17 Br. des 4 Theils der neuen Heloiſe beſchreibt;
und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende-
te, ſah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf
Clarens, die Hauptſcene des ſonderbaren Romans.
Alles dieſes machte einen ſo lebhaften Eindruck auf
mich, daß ich in dieſem Augenblick geneigt war, den
ganzen Roman von Julie und St. Preux fuͤr wah-
re Geſchichte zu halten, die ſich vor wenig Jahren
hier zugetragen. Man findet hier, daß Rouſſeau
die Hauptſcene zu ſeinem Roman ſehr gut gewaͤhlt
hat; die ganze Gegend hat etwas romantiſches. Ge-
gen Abend fuhr ich wieder nach Lauſanne zuruͤck.

Den
*) S. die neue Heloiſe 28 Br. des 1 Theils.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div type="diaryEntry" n="2">
          <p><pb facs="#f0074" n="56"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">Tagebuch von einer nach Nizza</hi></fw><lb/>
verfertigen, und beydes nach <hi rendition="#fr">Vevay</hi> zu Markte bringen.<lb/>
Und doch mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die&#x017F;e arm&#x017F;eligen Ge&#x017F;cho&#x0364;pfe das Recht,<lb/>
in die&#x017F;er unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von<lb/>
Ca&#x017F;tanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit &#x017F;chwe-<lb/>
ren Abgaben bezahlen.</p><lb/>
          <p>Die traurigen Vor&#x017F;tellungen, die mir die&#x017F;e Leute<lb/>
erweckten, wurden durch angenehmere verdra&#x0364;ngt, als<lb/>
ich neben erwa&#x0364;hntem Marktplatz unter hohen Ca&#x017F;tanien-<lb/>
ba&#x0364;umen la&#x0364;ng&#x017F;t dem Ufer des Sees &#x017F;pazierte, und ge-<lb/>
genu&#x0364;ber die Fel&#x017F;en von <hi rendition="#fr">Meillerie</hi> im Ge&#x017F;icht hatte,<lb/>
die jedem, der <hi rendition="#fr">Rou&#x017F;&#x017F;eaus</hi> neue Heloi&#x017F;e gele&#x017F;en hat, un-<lb/>
vergeßlich &#x017F;eyn mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en. Jetzt fiel mir der verliebte<lb/><hi rendition="#fr">St. Preux</hi> ein<note place="foot" n="*)">S. die neue Heloi&#x017F;e 28 Br. des 1 Theils.</note>, wie er mit dem Fernglas in der<lb/>
Hand von die&#x017F;en Fel&#x017F;en her nach <hi rendition="#fr">Vevay</hi> heru&#x0364;ber &#x017F;ah,<lb/>
um das Haus &#x017F;einer geliebten <hi rendition="#fr">Julie</hi> zu entdecken. Die<lb/>
Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die<lb/>
Scene der &#x017F;onderbaren Auftritte, die <hi rendition="#fr">Rou&#x017F;&#x017F;eau</hi> in dem<lb/>
17 Br. des 4 Theils der neuen Heloi&#x017F;e be&#x017F;chreibt;<lb/>
und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende-<lb/>
te, &#x017F;ah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf<lb/><hi rendition="#fr">Clarens,</hi> die Haupt&#x017F;cene des &#x017F;onderbaren Romans.<lb/>
Alles die&#x017F;es machte einen &#x017F;o lebhaften Eindruck auf<lb/>
mich, daß ich in die&#x017F;em Augenblick geneigt war, den<lb/>
ganzen Roman von <hi rendition="#fr">Julie</hi> und <hi rendition="#fr">St. Preux</hi> fu&#x0364;r wah-<lb/>
re Ge&#x017F;chichte zu halten, die &#x017F;ich vor wenig Jahren<lb/>
hier zugetragen. Man findet hier, daß <hi rendition="#fr">Rou&#x017F;&#x017F;eau</hi><lb/>
die Haupt&#x017F;cene zu &#x017F;einem Roman &#x017F;ehr gut gewa&#x0364;hlt<lb/>
hat; die ganze Gegend hat etwas romanti&#x017F;ches. Ge-<lb/>
gen Abend fuhr ich wieder nach <hi rendition="#fr">Lau&#x017F;anne</hi> zuru&#x0364;ck.</p>
        </div><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Den</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[56/0074] Tagebuch von einer nach Nizza verfertigen, und beydes nach Vevay zu Markte bringen. Und doch muͤſſen dieſe armſeligen Geſchoͤpfe das Recht, in dieſer unfruchtbaren Wildniß zu wohnen und von Caſtanien zu leben, ihrem Landesherrn noch mit ſchwe- ren Abgaben bezahlen. Die traurigen Vorſtellungen, die mir dieſe Leute erweckten, wurden durch angenehmere verdraͤngt, als ich neben erwaͤhntem Marktplatz unter hohen Caſtanien- baͤumen laͤngſt dem Ufer des Sees ſpazierte, und ge- genuͤber die Felſen von Meillerie im Geſicht hatte, die jedem, der Rouſſeaus neue Heloiſe geleſen hat, un- vergeßlich ſeyn muͤſſen. Jetzt fiel mir der verliebte St. Preux ein *), wie er mit dem Fernglas in der Hand von dieſen Felſen her nach Vevay heruͤber ſah, um das Haus ſeiner geliebten Julie zu entdecken. Die Gegend des Sees, die jetzt vor mir lag, war die Scene der ſonderbaren Auftritte, die Rouſſeau in dem 17 Br. des 4 Theils der neuen Heloiſe beſchreibt; und als ich mich auf meinem Spaziergang umwende- te, ſah ich gegen Morgen die Gegend um das Dorf Clarens, die Hauptſcene des ſonderbaren Romans. Alles dieſes machte einen ſo lebhaften Eindruck auf mich, daß ich in dieſem Augenblick geneigt war, den ganzen Roman von Julie und St. Preux fuͤr wah- re Geſchichte zu halten, die ſich vor wenig Jahren hier zugetragen. Man findet hier, daß Rouſſeau die Hauptſcene zu ſeinem Roman ſehr gut gewaͤhlt hat; die ganze Gegend hat etwas romantiſches. Ge- gen Abend fuhr ich wieder nach Lauſanne zuruͤck. Den *) S. die neue Heloiſe 28 Br. des 1 Theils.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/74
Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/74>, abgerufen am 06.05.2024.