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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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Tagebuch von einer nach Nizza

Weniger traurig, aber ärgerlich ist es mir, wenn
ich an Häusern oder Geräthschaften Arbeiten von ver-
kehrtem Geschmack sehe: Zierrathen, für welche sich
gar kein Grund erdenken läßt, oder solche, die gera-
de der Natur der Sache entgegengesetzt sind, die das
Gerade krumm, und das Starke schwach machen.
Dieses zeuget geradezu von Narrheit und Wahnwitz.

Ueberhaupt kann man von dem Geschmack, der
an einem Ort in Gebäuden herrscht, viel von dem
Charakter des Volks erkennen, so wie man ein ge-
lehrtes oder lesendes Volk aus dem Geschmack der
Werke, die es vorzüglich liebt, beurtheilen kann.
Viele Gelehrte selbst, die sich nur mit höhern Wissen-
schaften, oder blos mit historischen Kenntnissen abge-
ben, sehen die Werke des Geschmacks mit einem ganz
oder halb verächtlichen Blick an. Aber sie beweisen
dadurch, daß sie den Menschen nur schlecht kennen,
da sie nicht wissen, wie genau der gute Geschmack mit
der Urtheilskraft und den sittlichen Empfindungen zu-
sammenhängt.

Unter diesen und vielen andern Gedanken, wozu
mir Bruchsal Gelegenheit gegeben hatte, kam ich
nach Durlach. Auf dieser Straße sah ich zum er-
stenmal ein mit einer Art Bohnen (lupinus) ange-
sätes Feld, die blos zum Düngen des Ackers dahin
gesät werden. Denn wenn die Bohnen abge-
blüht haben, welches um diese Zeit geschieht, so wer-
den sie auf dem Felde, wo sie stehen, untergepflügt.
Dieses ist eine uralte Art, die Felder zu düngen, de-
ren die alten Römer sich schon bedient haben *). Jch

habe
*) Frutex lupini succisus optimi stercoris vim prae-
bet;
sagt Columella. S. auch Plin. Hist. Nat. L.
XVII. c.
7.
Tagebuch von einer nach Nizza

Weniger traurig, aber aͤrgerlich iſt es mir, wenn
ich an Haͤuſern oder Geraͤthſchaften Arbeiten von ver-
kehrtem Geſchmack ſehe: Zierrathen, fuͤr welche ſich
gar kein Grund erdenken laͤßt, oder ſolche, die gera-
de der Natur der Sache entgegengeſetzt ſind, die das
Gerade krumm, und das Starke ſchwach machen.
Dieſes zeuget geradezu von Narrheit und Wahnwitz.

Ueberhaupt kann man von dem Geſchmack, der
an einem Ort in Gebaͤuden herrſcht, viel von dem
Charakter des Volks erkennen, ſo wie man ein ge-
lehrtes oder leſendes Volk aus dem Geſchmack der
Werke, die es vorzuͤglich liebt, beurtheilen kann.
Viele Gelehrte ſelbſt, die ſich nur mit hoͤhern Wiſſen-
ſchaften, oder blos mit hiſtoriſchen Kenntniſſen abge-
ben, ſehen die Werke des Geſchmacks mit einem ganz
oder halb veraͤchtlichen Blick an. Aber ſie beweiſen
dadurch, daß ſie den Menſchen nur ſchlecht kennen,
da ſie nicht wiſſen, wie genau der gute Geſchmack mit
der Urtheilskraft und den ſittlichen Empfindungen zu-
ſammenhaͤngt.

Unter dieſen und vielen andern Gedanken, wozu
mir Bruchſal Gelegenheit gegeben hatte, kam ich
nach Durlach. Auf dieſer Straße ſah ich zum er-
ſtenmal ein mit einer Art Bohnen (lupinus) ange-
ſaͤtes Feld, die blos zum Duͤngen des Ackers dahin
geſaͤt werden. Denn wenn die Bohnen abge-
bluͤht haben, welches um dieſe Zeit geſchieht, ſo wer-
den ſie auf dem Felde, wo ſie ſtehen, untergepfluͤgt.
Dieſes iſt eine uralte Art, die Felder zu duͤngen, de-
ren die alten Roͤmer ſich ſchon bedient haben *). Jch

habe
*) Frutex lupini ſucciſus optimi ſtercoris vim prae-
bet;
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XVII. c.
7.
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[24/0042] Tagebuch von einer nach Nizza Weniger traurig, aber aͤrgerlich iſt es mir, wenn ich an Haͤuſern oder Geraͤthſchaften Arbeiten von ver- kehrtem Geſchmack ſehe: Zierrathen, fuͤr welche ſich gar kein Grund erdenken laͤßt, oder ſolche, die gera- de der Natur der Sache entgegengeſetzt ſind, die das Gerade krumm, und das Starke ſchwach machen. Dieſes zeuget geradezu von Narrheit und Wahnwitz. Ueberhaupt kann man von dem Geſchmack, der an einem Ort in Gebaͤuden herrſcht, viel von dem Charakter des Volks erkennen, ſo wie man ein ge- lehrtes oder leſendes Volk aus dem Geſchmack der Werke, die es vorzuͤglich liebt, beurtheilen kann. Viele Gelehrte ſelbſt, die ſich nur mit hoͤhern Wiſſen- ſchaften, oder blos mit hiſtoriſchen Kenntniſſen abge- ben, ſehen die Werke des Geſchmacks mit einem ganz oder halb veraͤchtlichen Blick an. Aber ſie beweiſen dadurch, daß ſie den Menſchen nur ſchlecht kennen, da ſie nicht wiſſen, wie genau der gute Geſchmack mit der Urtheilskraft und den ſittlichen Empfindungen zu- ſammenhaͤngt. Unter dieſen und vielen andern Gedanken, wozu mir Bruchſal Gelegenheit gegeben hatte, kam ich nach Durlach. Auf dieſer Straße ſah ich zum er- ſtenmal ein mit einer Art Bohnen (lupinus) ange- ſaͤtes Feld, die blos zum Duͤngen des Ackers dahin geſaͤt werden. Denn wenn die Bohnen abge- bluͤht haben, welches um dieſe Zeit geſchieht, ſo wer- den ſie auf dem Felde, wo ſie ſtehen, untergepfluͤgt. Dieſes iſt eine uralte Art, die Felder zu duͤngen, de- ren die alten Roͤmer ſich ſchon bedient haben *). Jch habe *) Frutex lupini ſucciſus optimi ſtercoris vim prae- bet; ſagt Columella. S. auch Plin. Hiſt. Nat. L. XVII. c. 7.

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 24. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/42>, abgerufen am 25.04.2024.