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Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780.

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gethanen Reise.
war herumzugehen, und vornehmlich keine Treppen
besteigen konnte, so kam ich nicht aus dem Hause,
außer daß ich einmal um die Stadt herum spazieren
fuhr. Die Lage dieser ansehnlichen und schönen Stadt
ist äußerst angenehm, und die vielen schönen Gärten
und Landhäuser, womit sie ganz umgeben ist, vermeh-
ren die Annehmlichkeiten des Orts, und zeugen zu-
gleich von seinem Wohlstande. Jn der That ist sie in
dem südlichen Theile Deutschlands die einzige Reichs-
stadt, an welcher man keinen Verfall gewahr wird.
Nürnberg ist stark gefallen, und auch in Augsburg
fängt man an den Verfall gewahr zu werden. Ulm
fängt an, ein unbedeutender Ort zu seyn; und die
kleinern Reichsstädte in Franken und Schwaben sind
nichts mehr.

Jch hatte doch in Frankfurt das Vergnügen,Doct. Göthe.
des bereits in seinen jungen Jahren durch verschiedene
Schriften in Deutschland berühmt gewordenen Doct.
Göthens Besuch zu genießen. Dieser junge Ge-
lehrte ist ein wahres Originalgenie von ungebundener
Freyheit im Denken, sowohl über politische als gelehr-
te Angelegenheiten. Er besitzt bey wirklich scharfer
Beurtheilungskraft eine feurige Einbildungskraft
und sehr lebhafte Empfindsamkeit. Aber seine Urthei-
le über Menschen, Sitten, Politik und Geschmack
sind noch nicht durch hinlängliche Erfahrung unter-
stützt. Jm Umgange fand ich ihn angenehm und lie-
benswürdig.

Jn Frankfurt miethete ich einen Kutscher, der
mich in sechs Tagen durch die Bergstraße und die an
dem rechten Ufer des Rheins liegenden Reichslän-
der nach Basel bringen sollte; dafür bezahlte ich ihm

sieben
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gethanen Reiſe.
war herumzugehen, und vornehmlich keine Treppen
beſteigen konnte, ſo kam ich nicht aus dem Hauſe,
außer daß ich einmal um die Stadt herum ſpazieren
fuhr. Die Lage dieſer anſehnlichen und ſchoͤnen Stadt
iſt aͤußerſt angenehm, und die vielen ſchoͤnen Gaͤrten
und Landhaͤuſer, womit ſie ganz umgeben iſt, vermeh-
ren die Annehmlichkeiten des Orts, und zeugen zu-
gleich von ſeinem Wohlſtande. Jn der That iſt ſie in
dem ſuͤdlichen Theile Deutſchlands die einzige Reichs-
ſtadt, an welcher man keinen Verfall gewahr wird.
Nuͤrnberg iſt ſtark gefallen, und auch in Augsburg
faͤngt man an den Verfall gewahr zu werden. Ulm
faͤngt an, ein unbedeutender Ort zu ſeyn; und die
kleinern Reichsſtaͤdte in Franken und Schwaben ſind
nichts mehr.

Jch hatte doch in Frankfurt das Vergnuͤgen,Doct. Goͤthe.
des bereits in ſeinen jungen Jahren durch verſchiedene
Schriften in Deutſchland beruͤhmt gewordenen Doct.
Goͤthens Beſuch zu genießen. Dieſer junge Ge-
lehrte iſt ein wahres Originalgenie von ungebundener
Freyheit im Denken, ſowohl uͤber politiſche als gelehr-
te Angelegenheiten. Er beſitzt bey wirklich ſcharfer
Beurtheilungskraft eine feurige Einbildungskraft
und ſehr lebhafte Empfindſamkeit. Aber ſeine Urthei-
le uͤber Menſchen, Sitten, Politik und Geſchmack
ſind noch nicht durch hinlaͤngliche Erfahrung unter-
ſtuͤtzt. Jm Umgange fand ich ihn angenehm und lie-
benswuͤrdig.

Jn Frankfurt miethete ich einen Kutſcher, der
mich in ſechs Tagen durch die Bergſtraße und die an
dem rechten Ufer des Rheins liegenden Reichslaͤn-
der nach Baſel bringen ſollte; dafuͤr bezahlte ich ihm

ſieben
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[17/0035] gethanen Reiſe. war herumzugehen, und vornehmlich keine Treppen beſteigen konnte, ſo kam ich nicht aus dem Hauſe, außer daß ich einmal um die Stadt herum ſpazieren fuhr. Die Lage dieſer anſehnlichen und ſchoͤnen Stadt iſt aͤußerſt angenehm, und die vielen ſchoͤnen Gaͤrten und Landhaͤuſer, womit ſie ganz umgeben iſt, vermeh- ren die Annehmlichkeiten des Orts, und zeugen zu- gleich von ſeinem Wohlſtande. Jn der That iſt ſie in dem ſuͤdlichen Theile Deutſchlands die einzige Reichs- ſtadt, an welcher man keinen Verfall gewahr wird. Nuͤrnberg iſt ſtark gefallen, und auch in Augsburg faͤngt man an den Verfall gewahr zu werden. Ulm faͤngt an, ein unbedeutender Ort zu ſeyn; und die kleinern Reichsſtaͤdte in Franken und Schwaben ſind nichts mehr. Jch hatte doch in Frankfurt das Vergnuͤgen, des bereits in ſeinen jungen Jahren durch verſchiedene Schriften in Deutſchland beruͤhmt gewordenen Doct. Goͤthens Beſuch zu genießen. Dieſer junge Ge- lehrte iſt ein wahres Originalgenie von ungebundener Freyheit im Denken, ſowohl uͤber politiſche als gelehr- te Angelegenheiten. Er beſitzt bey wirklich ſcharfer Beurtheilungskraft eine feurige Einbildungskraft und ſehr lebhafte Empfindſamkeit. Aber ſeine Urthei- le uͤber Menſchen, Sitten, Politik und Geſchmack ſind noch nicht durch hinlaͤngliche Erfahrung unter- ſtuͤtzt. Jm Umgange fand ich ihn angenehm und lie- benswuͤrdig. Doct. Goͤthe. Jn Frankfurt miethete ich einen Kutſcher, der mich in ſechs Tagen durch die Bergſtraße und die an dem rechten Ufer des Rheins liegenden Reichslaͤn- der nach Baſel bringen ſollte; dafuͤr bezahlte ich ihm ſieben B

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Zitationshilfe: Sulzer, Johann Georg: Tagebuch einer von Berlin nach den mittäglichen Ländern von Europa in den Jahren 1775 und 1776 gethanen Reise und Rückreise. Leipzig, 1780, S. 17. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sulzer_reise_1780/35>, abgerufen am 28.03.2024.