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Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905

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müßte schon sehr vernagelt sein, um nicht einen deutlichen Begriff des Lebens zu erhalten, wenn man in diesem täglichen Erzieher geblättert hat."

"Barmherziger Himmel! Wenn ich das je geahnt hätte ..."

"Natürlich, liebe Mama, du konntest das nicht ahnen... Ich hab's ja ganz, ganz heimlich getan. O wie gerne möchte ich dir alles sagen können, was ich denke - alles, alles, - so wie ich zu einer guten Freundin sprechen würde. Du bist zu jung, um nicht zu verstehen, du bist so schön, so entzückend in deinen Reizen! O erlaube, daß deine Tochter dich nie mehr Mama nennt - sei mir eine liebende Schwester, eine treue, aufrichtige Freundin! Willst du?"

"Ja, Stella, nenne mich Mira!"

"Nie mehr, niemals mehr Mama? O ich habe in dir, nicht wahr, eine vergötterte Freundin? Siehst du, du darfst dir nicht vorstellen, daß die Engel in Strömen vom Himmel fallen. Nein, sie kommen tropfenweise auf die Erde, da einer und dort einer, und sie bilden nicht die Mehrzahl! Die Mehrzahl machen wir aus, die neugierigen, frühgeweckten, kleinen Mädchen. Wir sind schlau, weil man uns

müßte schon sehr vernagelt sein, um nicht einen deutlichen Begriff des Lebens zu erhalten, wenn man in diesem täglichen Erzieher geblättert hat.“

„Barmherziger Himmel! Wenn ich das je geahnt hätte …“

„Natürlich, liebe Mama, du konntest das nicht ahnen… Ich hab’s ja ganz, ganz heimlich getan. O wie gerne möchte ich dir alles sagen können, was ich denke – alles, alles, – so wie ich zu einer guten Freundin sprechen würde. Du bist zu jung, um nicht zu verstehen, du bist so schön, so entzückend in deinen Reizen! O erlaube, daß deine Tochter dich nie mehr Mama nennt – sei mir eine liebende Schwester, eine treue, aufrichtige Freundin! Willst du?“

„Ja, Stella, nenne mich Mira!“

„Nie mehr, niemals mehr Mama? O ich habe in dir, nicht wahr, eine vergötterte Freundin? Siehst du, du darfst dir nicht vorstellen, daß die Engel in Strömen vom Himmel fallen. Nein, sie kommen tropfenweise auf die Erde, da einer und dort einer, und sie bilden nicht die Mehrzahl! Die Mehrzahl machen wir aus, die neugierigen, frühgeweckten, kleinen Mädchen. Wir sind schlau, weil man uns

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[82/0083] müßte schon sehr vernagelt sein, um nicht einen deutlichen Begriff des Lebens zu erhalten, wenn man in diesem täglichen Erzieher geblättert hat.“ „Barmherziger Himmel! Wenn ich das je geahnt hätte …“ „Natürlich, liebe Mama, du konntest das nicht ahnen… Ich hab’s ja ganz, ganz heimlich getan. O wie gerne möchte ich dir alles sagen können, was ich denke – alles, alles, – so wie ich zu einer guten Freundin sprechen würde. Du bist zu jung, um nicht zu verstehen, du bist so schön, so entzückend in deinen Reizen! O erlaube, daß deine Tochter dich nie mehr Mama nennt – sei mir eine liebende Schwester, eine treue, aufrichtige Freundin! Willst du?“ „Ja, Stella, nenne mich Mira!“ „Nie mehr, niemals mehr Mama? O ich habe in dir, nicht wahr, eine vergötterte Freundin? Siehst du, du darfst dir nicht vorstellen, daß die Engel in Strömen vom Himmel fallen. Nein, sie kommen tropfenweise auf die Erde, da einer und dort einer, und sie bilden nicht die Mehrzahl! Die Mehrzahl machen wir aus, die neugierigen, frühgeweckten, kleinen Mädchen. Wir sind schlau, weil man uns

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Zitationshilfe: Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905/83>, abgerufen am 21.06.2024.