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Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905

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Psychologen haben noch nichts gefunden, um das Recht der Dreißigjährigen auf Liebe zu rechtfertigen. Und sie werden es nicht einmal versuchen, aus Furcht, selbst dem Gelächter und der Verachtung des Publikums zu verfallen. Woran liegt das? Gewiß an einer irrigen Auffassung der Liebe. Die Religionen haben sie geduldet, um die rassenverbessernde Zuchtwahl zu begünstigen. Für sie soll die Liebe nur das Mittel zur Zeugung sein: folglich muß sie an der Schwelle des unglücklichen Alters Halt machen. Die Kunst hat in ihr nur das Motiv der Schönheit gesehen und in der Schönheit die einzige Entschuldigung der Liebe. Wenn die Schönheit vergeht, muß die Liebe schwinden. Die Stunden der strahlenden Jugend sind aber kurz, und endlos die Jahre nach dem Beginn der Reife. So lange sie aber auch seien, man darf nicht mehr lieben. Lange noch ehe der Körper zum ewigen Frieden eingegangen ist, muß man sein Herz unter einer steinernen Platte begraben, seine Zeit ist vorüber. Wehe dem Herzen, das sich unterfinge, von den Toten aufzuerstehen und sein ewiges Leben zu fordern. Schlaft, ihr Alten, aber schlaft allein!"

"Welches Weib!" rief er aus. "Sie, die in vollem Glanze, in voller Schönheit verzichtet! Es war nicht

Psychologen haben noch nichts gefunden, um das Recht der Dreißigjährigen auf Liebe zu rechtfertigen. Und sie werden es nicht einmal versuchen, aus Furcht, selbst dem Gelächter und der Verachtung des Publikums zu verfallen. Woran liegt das? Gewiß an einer irrigen Auffassung der Liebe. Die Religionen haben sie geduldet, um die rassenverbessernde Zuchtwahl zu begünstigen. Für sie soll die Liebe nur das Mittel zur Zeugung sein: folglich muß sie an der Schwelle des unglücklichen Alters Halt machen. Die Kunst hat in ihr nur das Motiv der Schönheit gesehen und in der Schönheit die einzige Entschuldigung der Liebe. Wenn die Schönheit vergeht, muß die Liebe schwinden. Die Stunden der strahlenden Jugend sind aber kurz, und endlos die Jahre nach dem Beginn der Reife. So lange sie aber auch seien, man darf nicht mehr lieben. Lange noch ehe der Körper zum ewigen Frieden eingegangen ist, muß man sein Herz unter einer steinernen Platte begraben, seine Zeit ist vorüber. Wehe dem Herzen, das sich unterfinge, von den Toten aufzuerstehen und sein ewiges Leben zu fordern. Schlaft, ihr Alten, aber schlaft allein!“

„Welches Weib!“ rief er aus. „Sie, die in vollem Glanze, in voller Schönheit verzichtet! Es war nicht

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Psychologen haben noch nichts gefunden, um das Recht der Dreißigjährigen auf Liebe zu rechtfertigen. Und sie werden es nicht einmal versuchen, aus Furcht, selbst dem Gelächter und der Verachtung des Publikums zu verfallen. Woran liegt das? Gewiß an einer irrigen Auffassung der Liebe. Die Religionen haben sie geduldet, um die rassenverbessernde Zuchtwahl zu begünstigen. Für sie soll die Liebe nur das Mittel zur Zeugung sein: folglich muß sie an der Schwelle des unglücklichen Alters Halt machen. Die Kunst hat in ihr nur das Motiv der Schönheit gesehen und in der Schönheit die einzige Entschuldigung der Liebe. Wenn die Schönheit vergeht, muß die Liebe schwinden. Die Stunden der strahlenden Jugend sind aber kurz, und endlos die Jahre nach dem Beginn der Reife. So lange sie aber auch seien, man darf nicht mehr lieben. Lange noch ehe der Körper zum ewigen Frieden eingegangen ist, muß man sein Herz unter einer steinernen Platte begraben, seine Zeit ist vorüber. Wehe dem Herzen, das sich unterfinge, von den Toten aufzuerstehen und sein ewiges Leben zu fordern. Schlaft, ihr Alten, aber schlaft allein!&#x201C;</p>
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[134/0135] Psychologen haben noch nichts gefunden, um das Recht der Dreißigjährigen auf Liebe zu rechtfertigen. Und sie werden es nicht einmal versuchen, aus Furcht, selbst dem Gelächter und der Verachtung des Publikums zu verfallen. Woran liegt das? Gewiß an einer irrigen Auffassung der Liebe. Die Religionen haben sie geduldet, um die rassenverbessernde Zuchtwahl zu begünstigen. Für sie soll die Liebe nur das Mittel zur Zeugung sein: folglich muß sie an der Schwelle des unglücklichen Alters Halt machen. Die Kunst hat in ihr nur das Motiv der Schönheit gesehen und in der Schönheit die einzige Entschuldigung der Liebe. Wenn die Schönheit vergeht, muß die Liebe schwinden. Die Stunden der strahlenden Jugend sind aber kurz, und endlos die Jahre nach dem Beginn der Reife. So lange sie aber auch seien, man darf nicht mehr lieben. Lange noch ehe der Körper zum ewigen Frieden eingegangen ist, muß man sein Herz unter einer steinernen Platte begraben, seine Zeit ist vorüber. Wehe dem Herzen, das sich unterfinge, von den Toten aufzuerstehen und sein ewiges Leben zu fordern. Schlaft, ihr Alten, aber schlaft allein!“ „Welches Weib!“ rief er aus. „Sie, die in vollem Glanze, in voller Schönheit verzichtet! Es war nicht

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Zitationshilfe: Sturza, Marie Tihanyi: Das Gelübde einer dreißigjährigen Frau. Leipzig, 1905, S. 134. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturza_geluebde_1905/135>, abgerufen am 23.11.2024.