Welchen vielfachen unmenschlichen Frevel mußtest du, mein Jesus, erdulden! Alle Umstände vereinigen sich, dir deine Schmach zu vermehren. Der roheste Haufe niederträchtiger Menschen erlaubt es sich, dich auf die un- erhörteste Art zu mißhandeln. Denn was kann Mißhand- lung seyn, wenn es dieses nicht ist, einen Unschuldigen ins Angesicht zu verspeyen -- ihn mit Fäusten zu schlagen -- ihn zum Gelächter und Spott darzustellen? Und dis tha- ten diese Bösewichter an dir, du Unschuldigster, Bester al- ler Menschenkinder!
Dein Antlitz verspeyen sie! Vielleicht standen noch geronnene Blutstropfen auf demselben: vielleicht ward noch aus allen Zügen der tiefe Schmerz kenntlich, den du in Gethsemane empfunden hattest. Wenigstens blickte aus allen Zügen deines Antlitzes die leutseligste Sanft- muth, die aufrichtigste Menschenliebe und der stärkste Gram hervor. Und dis alles konnte das Herz der Ruch- losen nicht gewinnen? -- Sie schlagen dich mit Fäu- sten! Dich schlagen sie, der du nie einen Menschen be- leidiget, nie etwas Strafwürdiges verübet, nie anders, als ein Wohlthäter der Menschen, gehandelt hattest. Und noch ist ihr Muthwillen nicht zu Ende -- Sie spotten deines heiligen Amtes. Sie treiben das grausamste Spiel mit dir, indem sie dein Angesicht bedecken, und dich auffordern, daß du als ein Prophet entdecken sollest, wer der sey, der jetzt seinen Muthwillen an dir verübet ha- be -- Wie? wenn du nun deinen Mund geöfnet hättest, diesen Bösewichtern ihren Untergang zu weissagen? Aber du trugst mit unbeschreiblicher Gelassenheit diesen Frevel: botst freywillig dein Angesicht dem Speichel und deinen Rücken den Schlägen dar. Was machte dich so bereit- willig, alle diese Leiden zu übernehmen? Die Liebe zu den Sündern, und die Unschuld deines Herzens, stärkten
dich
Dreyzehnte Betrachtung.
Welchen vielfachen unmenſchlichen Frevel mußteſt du, mein Jeſus, erdulden! Alle Umſtände vereinigen ſich, dir deine Schmach zu vermehren. Der roheſte Haufe niederträchtiger Menſchen erlaubt es ſich, dich auf die un- erhörteſte Art zu mißhandeln. Denn was kann Mißhand- lung ſeyn, wenn es dieſes nicht iſt, einen Unſchuldigen ins Angeſicht zu verſpeyen — ihn mit Fäuſten zu ſchlagen — ihn zum Gelächter und Spott darzuſtellen? Und dis tha- ten dieſe Böſewichter an dir, du Unſchuldigſter, Beſter al- ler Menſchenkinder!
Dein Antlitz verſpeyen ſie! Vielleicht ſtanden noch geronnene Blutstropfen auf demſelben: vielleicht ward noch aus allen Zügen der tiefe Schmerz kenntlich, den du in Gethſemane empfunden hatteſt. Wenigſtens blickte aus allen Zügen deines Antlitzes die leutſeligſte Sanft- muth, die aufrichtigſte Menſchenliebe und der ſtärkſte Gram hervor. Und dis alles konnte das Herz der Ruch- loſen nicht gewinnen? — Sie ſchlagen dich mit Fäu- ſten! Dich ſchlagen ſie, der du nie einen Menſchen be- leidiget, nie etwas Strafwürdiges verübet, nie anders, als ein Wohlthäter der Menſchen, gehandelt hatteſt. Und noch iſt ihr Muthwillen nicht zu Ende — Sie ſpotten deines heiligen Amtes. Sie treiben das grauſamſte Spiel mit dir, indem ſie dein Angeſicht bedecken, und dich auffordern, daß du als ein Prophet entdecken ſolleſt, wer der ſey, der jetzt ſeinen Muthwillen an dir verübet ha- be — Wie? wenn du nun deinen Mund geöfnet hätteſt, dieſen Böſewichtern ihren Untergang zu weiſſagen? Aber du trugſt mit unbeſchreiblicher Gelaſſenheit dieſen Frevel: botſt freywillig dein Angeſicht dem Speichel und deinen Rücken den Schlägen dar. Was machte dich ſo bereit- willig, alle dieſe Leiden zu übernehmen? Die Liebe zu den Sündern, und die Unſchuld deines Herzens, ſtärkten
dich
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Dreyzehnte Betrachtung.
Welchen vielfachen unmenſchlichen Frevel mußteſt
du, mein Jeſus, erdulden! Alle Umſtände vereinigen
ſich, dir deine Schmach zu vermehren. Der roheſte Haufe
niederträchtiger Menſchen erlaubt es ſich, dich auf die un-
erhörteſte Art zu mißhandeln. Denn was kann Mißhand-
lung ſeyn, wenn es dieſes nicht iſt, einen Unſchuldigen ins
Angeſicht zu verſpeyen — ihn mit Fäuſten zu ſchlagen —
ihn zum Gelächter und Spott darzuſtellen? Und dis tha-
ten dieſe Böſewichter an dir, du Unſchuldigſter, Beſter al-
ler Menſchenkinder!
Dein Antlitz verſpeyen ſie! Vielleicht ſtanden
noch geronnene Blutstropfen auf demſelben: vielleicht ward
noch aus allen Zügen der tiefe Schmerz kenntlich, den du
in Gethſemane empfunden hatteſt. Wenigſtens blickte
aus allen Zügen deines Antlitzes die leutſeligſte Sanft-
muth, die aufrichtigſte Menſchenliebe und der ſtärkſte
Gram hervor. Und dis alles konnte das Herz der Ruch-
loſen nicht gewinnen? — Sie ſchlagen dich mit Fäu-
ſten! Dich ſchlagen ſie, der du nie einen Menſchen be-
leidiget, nie etwas Strafwürdiges verübet, nie anders, als
ein Wohlthäter der Menſchen, gehandelt hatteſt. Und
noch iſt ihr Muthwillen nicht zu Ende — Sie ſpotten
deines heiligen Amtes. Sie treiben das grauſamſte
Spiel mit dir, indem ſie dein Angeſicht bedecken, und
dich auffordern, daß du als ein Prophet entdecken ſolleſt,
wer der ſey, der jetzt ſeinen Muthwillen an dir verübet ha-
be — Wie? wenn du nun deinen Mund geöfnet hätteſt,
dieſen Böſewichtern ihren Untergang zu weiſſagen? Aber
du trugſt mit unbeſchreiblicher Gelaſſenheit dieſen Frevel:
botſt freywillig dein Angeſicht dem Speichel und deinen
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willig, alle dieſe Leiden zu übernehmen? Die Liebe zu den
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 62. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/84>, abgerufen am 16.02.2025.
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