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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Zwölfte Betr. Gelassenheit Jesu etc.
auf, und widerlegten durch ihren Anblick die Zeugnisse sei-
ner Feinde? Hier wäre es Zeit gewesen, daß die ganze
Menge der Elenden, welche die Hülfe Jesu erfahren hat-
ten, durch ihre dankbare Thränen und durch ihr uneigen-
nütziges Zeugniß die Unschuld Jesu entdeckt hätte. Wa-
rum kamen sie nicht, und sagten mit edler Freymüthigkeit:
dieser so sehr mißhandelte Jesus hat nichts von allem ver-
dienet, was ihr ihm zufüget. Mir hat er auf mein Ge-
bet meine Gesundheit wiedergeschenkt. Mir hat er mein
erblaßtes Kind lebendig wiedergegeben. Mich hat er durch
das Wort seiner Allmacht vom Aussatz gereiniget. Durch
ihn erhielt ich den Gebrauch der Zunge, des Gehörs und
meiner Glieder. Mir hat er meine grossen Missethaten
vergeben. Würde nicht vielleicht dieses übereinstimmende
Zeugniß der Dankbarkeit die verlästerte Unschuld gerettet
haben? Würden nicht die Krüppel, die Blinden, die
Tauben, die Aussätzigen, und tausend Elende durch die
Stimme ihrer dankbaren Liebe die Stimme der Bosheit
überschrien haben? -- Ach, keiner von allen erscheinet jetzt,
keiner wagt es, seinen Wohlthäter zu vertheidigen. Je-
doch Jesus hatte dieser Vertheidigung nicht nöthig. Seine
Unschuld siegte ohne fremden Beystand, ja selbst seine
Feinde musten ihm zu seinem Siege behülflich seyn. War
es nicht ein Sieg für den unschuldigen Jesum, daß, so sehr
sich seine Feinde Mühe gaben, alles Nachtheilige von sei-
ner Person zu sagen, doch keiner dieser Zeugen in seinen
Aussagen übereinstimmte? War es nicht ein Sieg, daß
Jesus bey allen lügenhaften Anklagen stille schwieg? Sei-
ne Unschuld hatte keiner Rechtfertigung nöthig, sondern
sie fiel allen von selbst in die Augen.

Jesu, ich erfreue mich über deine Unschuld. Soll-
te ich vor dem Gericht Gottes gerechtfertiget werden, so
war es nöthig, daß du vor Gott und Menschen unschul-

dig

Zwölfte Betr. Gelaſſenheit Jeſu ꝛc.
auf, und widerlegten durch ihren Anblick die Zeugniſſe ſei-
ner Feinde? Hier wäre es Zeit geweſen, daß die ganze
Menge der Elenden, welche die Hülfe Jeſu erfahren hat-
ten, durch ihre dankbare Thränen und durch ihr uneigen-
nütziges Zeugniß die Unſchuld Jeſu entdeckt hätte. Wa-
rum kamen ſie nicht, und ſagten mit edler Freymüthigkeit:
dieſer ſo ſehr mißhandelte Jeſus hat nichts von allem ver-
dienet, was ihr ihm zufüget. Mir hat er auf mein Ge-
bet meine Geſundheit wiedergeſchenkt. Mir hat er mein
erblaßtes Kind lebendig wiedergegeben. Mich hat er durch
das Wort ſeiner Allmacht vom Ausſatz gereiniget. Durch
ihn erhielt ich den Gebrauch der Zunge, des Gehörs und
meiner Glieder. Mir hat er meine groſſen Miſſethaten
vergeben. Würde nicht vielleicht dieſes übereinſtimmende
Zeugniß der Dankbarkeit die verläſterte Unſchuld gerettet
haben? Würden nicht die Krüppel, die Blinden, die
Tauben, die Auſſätzigen, und tauſend Elende durch die
Stimme ihrer dankbaren Liebe die Stimme der Bosheit
überſchrien haben? — Ach, keiner von allen erſcheinet jetzt,
keiner wagt es, ſeinen Wohlthäter zu vertheidigen. Je-
doch Jeſus hatte dieſer Vertheidigung nicht nöthig. Seine
Unſchuld ſiegte ohne fremden Beyſtand, ja ſelbſt ſeine
Feinde muſten ihm zu ſeinem Siege behülflich ſeyn. War
es nicht ein Sieg für den unſchuldigen Jeſum, daß, ſo ſehr
ſich ſeine Feinde Mühe gaben, alles Nachtheilige von ſei-
ner Perſon zu ſagen, doch keiner dieſer Zeugen in ſeinen
Auſſagen übereinſtimmte? War es nicht ein Sieg, daß
Jeſus bey allen lügenhaften Anklagen ſtille ſchwieg? Sei-
ne Unſchuld hatte keiner Rechtfertigung nöthig, ſondern
ſie fiel allen von ſelbſt in die Augen.

Jeſu, ich erfreue mich über deine Unſchuld. Soll-
te ich vor dem Gericht Gottes gerechtfertiget werden, ſo
war es nöthig, daß du vor Gott und Menſchen unſchul-

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[59/0081] Zwölfte Betr. Gelaſſenheit Jeſu ꝛc. auf, und widerlegten durch ihren Anblick die Zeugniſſe ſei- ner Feinde? Hier wäre es Zeit geweſen, daß die ganze Menge der Elenden, welche die Hülfe Jeſu erfahren hat- ten, durch ihre dankbare Thränen und durch ihr uneigen- nütziges Zeugniß die Unſchuld Jeſu entdeckt hätte. Wa- rum kamen ſie nicht, und ſagten mit edler Freymüthigkeit: dieſer ſo ſehr mißhandelte Jeſus hat nichts von allem ver- dienet, was ihr ihm zufüget. Mir hat er auf mein Ge- bet meine Geſundheit wiedergeſchenkt. Mir hat er mein erblaßtes Kind lebendig wiedergegeben. Mich hat er durch das Wort ſeiner Allmacht vom Ausſatz gereiniget. Durch ihn erhielt ich den Gebrauch der Zunge, des Gehörs und meiner Glieder. Mir hat er meine groſſen Miſſethaten vergeben. Würde nicht vielleicht dieſes übereinſtimmende Zeugniß der Dankbarkeit die verläſterte Unſchuld gerettet haben? Würden nicht die Krüppel, die Blinden, die Tauben, die Auſſätzigen, und tauſend Elende durch die Stimme ihrer dankbaren Liebe die Stimme der Bosheit überſchrien haben? — Ach, keiner von allen erſcheinet jetzt, keiner wagt es, ſeinen Wohlthäter zu vertheidigen. Je- doch Jeſus hatte dieſer Vertheidigung nicht nöthig. Seine Unſchuld ſiegte ohne fremden Beyſtand, ja ſelbſt ſeine Feinde muſten ihm zu ſeinem Siege behülflich ſeyn. War es nicht ein Sieg für den unſchuldigen Jeſum, daß, ſo ſehr ſich ſeine Feinde Mühe gaben, alles Nachtheilige von ſei- ner Perſon zu ſagen, doch keiner dieſer Zeugen in ſeinen Auſſagen übereinſtimmte? War es nicht ein Sieg, daß Jeſus bey allen lügenhaften Anklagen ſtille ſchwieg? Sei- ne Unſchuld hatte keiner Rechtfertigung nöthig, ſondern ſie fiel allen von ſelbſt in die Augen. Jeſu, ich erfreue mich über deine Unſchuld. Soll- te ich vor dem Gericht Gottes gerechtfertiget werden, ſo war es nöthig, daß du vor Gott und Menſchen unſchul- dig

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/81>, abgerufen am 22.07.2024.