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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Vertheidigung Jesu vor dem Caipha.
und Aeltesten des Volks, die dem äussern Ansehen nach
eine sehr ehrwürdige Versammlung, aber nach ihren Ge-
sinnungen eine Versammlung von Scheinheiligen, Ver-
räthern und Menschenfeinden ausmachten. Er wuste,
was er von der scheinheiligen Bosheit dieser Männer zu
befürchten hatte, da das Haupt derselben Caiphas, der
Urheber dieses Blutraths war, der ihm schon längst den
Tod in seinem Herzen geschworen hatte. Dieser Mann
nahm die Gestalt eines Gerechtigkeitliebenden Richters
an. Um allen Schein der Rachgier zu vermeiden, frag-
te er Jesum wegen des grossen Anhanges, den er sich ge-
macht, und wegen seiner Lehre, durch welche er sich den-
selben verschaft hatte. Jesus, dem die verborgensten Ab-
sichten seines Richters bekannt waren, durchschaute die
Arglist dieser Fragen; und mit der Freymüthigkeit, die
nur der Unschuld eigen ist, mit der Weisheit welche nur
in heiligen Seelen wohnet, antwortet er auf die ihm vor-
gelegte Fragen. Er konnte sich in Ansehung seines gan-
zen Betragens auf das Urtheil der Welt und auf das
Zeugniß derjenigen Personen, die ihn gehört hatten, be-
rufen. Selbst unter denen, die jetzt seinen Tod beschlies-
sen wollten, befanden sich einige, welche Augenzeugen
von seinem Wandel gewesen waren. Er hatte seine Leh-
re öffentlich vorgetragen und nichts im Verborgenen ge-
redet, was mit seinem öffentlichen Vortrag nicht überein-
stimmte. Denn wer Arges zu thun vorhat, der bleibt
gerne im Verborgenen. Wer aber Gutes thut, der
kann vor der Welt hervortreten und ohne Scheu seine
Werke offenbar machen.

Ich will mir jetzt vorstellen, als wenn ich derjenige
wäre, der vor einem weltlichen Gericht, oder welches un-
endlich mehr ist, vor dem Gerichte Gottes erscheinen
müste. Würde ich wohl mit so freymüthiger Unschuld,

wie
D 2

Vertheidigung Jeſu vor dem Caipha.
und Aelteſten des Volks, die dem äuſſern Anſehen nach
eine ſehr ehrwürdige Verſammlung, aber nach ihren Ge-
ſinnungen eine Verſammlung von Scheinheiligen, Ver-
räthern und Menſchenfeinden ausmachten. Er wuſte,
was er von der ſcheinheiligen Bosheit dieſer Männer zu
befürchten hatte, da das Haupt derſelben Caiphas, der
Urheber dieſes Blutraths war, der ihm ſchon längſt den
Tod in ſeinem Herzen geſchworen hatte. Dieſer Mann
nahm die Geſtalt eines Gerechtigkeitliebenden Richters
an. Um allen Schein der Rachgier zu vermeiden, frag-
te er Jeſum wegen des groſſen Anhanges, den er ſich ge-
macht, und wegen ſeiner Lehre, durch welche er ſich den-
ſelben verſchaft hatte. Jeſus, dem die verborgenſten Ab-
ſichten ſeines Richters bekannt waren, durchſchaute die
Argliſt dieſer Fragen; und mit der Freymüthigkeit, die
nur der Unſchuld eigen iſt, mit der Weisheit welche nur
in heiligen Seelen wohnet, antwortet er auf die ihm vor-
gelegte Fragen. Er konnte ſich in Anſehung ſeines gan-
zen Betragens auf das Urtheil der Welt und auf das
Zeugniß derjenigen Perſonen, die ihn gehört hatten, be-
rufen. Selbſt unter denen, die jetzt ſeinen Tod beſchlieſ-
ſen wollten, befanden ſich einige, welche Augenzeugen
von ſeinem Wandel geweſen waren. Er hatte ſeine Leh-
re öffentlich vorgetragen und nichts im Verborgenen ge-
redet, was mit ſeinem öffentlichen Vortrag nicht überein-
ſtimmte. Denn wer Arges zu thun vorhat, der bleibt
gerne im Verborgenen. Wer aber Gutes thut, der
kann vor der Welt hervortreten und ohne Scheu ſeine
Werke offenbar machen.

Ich will mir jetzt vorſtellen, als wenn ich derjenige
wäre, der vor einem weltlichen Gericht, oder welches un-
endlich mehr iſt, vor dem Gerichte Gottes erſcheinen
müſte. Würde ich wohl mit ſo freymüthiger Unſchuld,

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[51/0073] Vertheidigung Jeſu vor dem Caipha. und Aelteſten des Volks, die dem äuſſern Anſehen nach eine ſehr ehrwürdige Verſammlung, aber nach ihren Ge- ſinnungen eine Verſammlung von Scheinheiligen, Ver- räthern und Menſchenfeinden ausmachten. Er wuſte, was er von der ſcheinheiligen Bosheit dieſer Männer zu befürchten hatte, da das Haupt derſelben Caiphas, der Urheber dieſes Blutraths war, der ihm ſchon längſt den Tod in ſeinem Herzen geſchworen hatte. Dieſer Mann nahm die Geſtalt eines Gerechtigkeitliebenden Richters an. Um allen Schein der Rachgier zu vermeiden, frag- te er Jeſum wegen des groſſen Anhanges, den er ſich ge- macht, und wegen ſeiner Lehre, durch welche er ſich den- ſelben verſchaft hatte. Jeſus, dem die verborgenſten Ab- ſichten ſeines Richters bekannt waren, durchſchaute die Argliſt dieſer Fragen; und mit der Freymüthigkeit, die nur der Unſchuld eigen iſt, mit der Weisheit welche nur in heiligen Seelen wohnet, antwortet er auf die ihm vor- gelegte Fragen. Er konnte ſich in Anſehung ſeines gan- zen Betragens auf das Urtheil der Welt und auf das Zeugniß derjenigen Perſonen, die ihn gehört hatten, be- rufen. Selbſt unter denen, die jetzt ſeinen Tod beſchlieſ- ſen wollten, befanden ſich einige, welche Augenzeugen von ſeinem Wandel geweſen waren. Er hatte ſeine Leh- re öffentlich vorgetragen und nichts im Verborgenen ge- redet, was mit ſeinem öffentlichen Vortrag nicht überein- ſtimmte. Denn wer Arges zu thun vorhat, der bleibt gerne im Verborgenen. Wer aber Gutes thut, der kann vor der Welt hervortreten und ohne Scheu ſeine Werke offenbar machen. Ich will mir jetzt vorſtellen, als wenn ich derjenige wäre, der vor einem weltlichen Gericht, oder welches un- endlich mehr iſt, vor dem Gerichte Gottes erſcheinen müſte. Würde ich wohl mit ſo freymüthiger Unſchuld, wie D 2

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/73>, abgerufen am 24.11.2024.