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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Drey und dreyßigste Betrachtung.
derthäter, aber nicht als den Menschenfreund, und den
Liebhaber seiner Feinde betrachtet, ihn zwar bewundert, aber
nicht geliebt haben. Seine Seele würde alsdann mehr fä-
hig gewesen seyn, zu schrecken, als einzunehmen. Aber hier
erscheint er in der liebenswürdigsten Grösse. Ich weis, er
konnte durch ein Wort seiner Allmacht, seine Feinde nie-
derschlagen, er konnte allen Elementen über sie gebieten, er
konnte sich durch eine unsichtbare Gewalt ihren Händen
entziehen. Allein seine Liebe siegt hier über die ganze Em-
pfindlichkeit der menschlichen Natur. Nicht Erbitterung
und Haß, nicht Begierde nach Rache, sondern Verzeihung
und Sanftmuth erfüllt sein Herz. Er redet nicht die
Sprache des Zorns, sondern der Liebe, durch welche er
schon so oft ein niedergeschlagenes Herz aufgerichtet hatte.
Jene unaussprechliche Liebe, die ihn antreibt, den Tod für
die Sünder zu leiden, bewegt ihn auch, für sie zu bitten.
Und welche eine so zärtliche, so dringende Fürbitte ist es!
Konnte er angelegentlicher für seine Freunde bitten, konnte
er gelinder in Anfehung kleiner Beleidigungen, gegen seine
Lieblinge handeln, als er hier gegen seine Mörder verfährt?
Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie
thun.

Zuvörderst rühret mich bey diesem Gebete des gekreu-
zigten Jesu die zärtliche Vertraulichkeit, mit welcher er Gott
anredet. So mannigfaltig und schrecklich die Leiden wa-
ren, die Gott über ihn verhängt hatte, so blieb er doch
unveränderlich gehorsam bis zum Tode, und bewies es
durch alle Worte und Handlungen, daß er den Willen
Gottes mit Freudigkeit thue. Jetzt war es besonders nö-
thig, daß er ein öffentliches Zeugniß von seiner fortdauren-
den Liebe gegen seinen Vater ablegte. Und dis that er
durch die Anrede, deren er sich bey der Fürbitte für seine Fein-
de bediente. Denjenigen, welcher ihn in seinem Richter-

zorn

Drey und dreyßigſte Betrachtung.
derthäter, aber nicht als den Menſchenfreund, und den
Liebhaber ſeiner Feinde betrachtet, ihn zwar bewundert, aber
nicht geliebt haben. Seine Seele würde alsdann mehr fä-
hig geweſen ſeyn, zu ſchrecken, als einzunehmen. Aber hier
erſcheint er in der liebenswürdigſten Gröſſe. Ich weis, er
konnte durch ein Wort ſeiner Allmacht, ſeine Feinde nie-
derſchlagen, er konnte allen Elementen über ſie gebieten, er
konnte ſich durch eine unſichtbare Gewalt ihren Händen
entziehen. Allein ſeine Liebe ſiegt hier über die ganze Em-
pfindlichkeit der menſchlichen Natur. Nicht Erbitterung
und Haß, nicht Begierde nach Rache, ſondern Verzeihung
und Sanftmuth erfüllt ſein Herz. Er redet nicht die
Sprache des Zorns, ſondern der Liebe, durch welche er
ſchon ſo oft ein niedergeſchlagenes Herz aufgerichtet hatte.
Jene unausſprechliche Liebe, die ihn antreibt, den Tod für
die Sünder zu leiden, bewegt ihn auch, für ſie zu bitten.
Und welche eine ſo zärtliche, ſo dringende Fürbitte iſt es!
Konnte er angelegentlicher für ſeine Freunde bitten, konnte
er gelinder in Anfehung kleiner Beleidigungen, gegen ſeine
Lieblinge handeln, als er hier gegen ſeine Mörder verfährt?
Vater, vergib ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie
thun.

Zuvörderſt rühret mich bey dieſem Gebete des gekreu-
zigten Jeſu die zärtliche Vertraulichkeit, mit welcher er Gott
anredet. So mannigfaltig und ſchrecklich die Leiden wa-
ren, die Gott über ihn verhängt hatte, ſo blieb er doch
unveränderlich gehorſam bis zum Tode, und bewies es
durch alle Worte und Handlungen, daß er den Willen
Gottes mit Freudigkeit thue. Jetzt war es beſonders nö-
thig, daß er ein öffentliches Zeugniß von ſeiner fortdauren-
den Liebe gegen ſeinen Vater ablegte. Und dis that er
durch die Anrede, deren er ſich bey der Fürbitte für ſeine Fein-
de bediente. Denjenigen, welcher ihn in ſeinem Richter-

zorn
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[148/0170] Drey und dreyßigſte Betrachtung. derthäter, aber nicht als den Menſchenfreund, und den Liebhaber ſeiner Feinde betrachtet, ihn zwar bewundert, aber nicht geliebt haben. Seine Seele würde alsdann mehr fä- hig geweſen ſeyn, zu ſchrecken, als einzunehmen. Aber hier erſcheint er in der liebenswürdigſten Gröſſe. Ich weis, er konnte durch ein Wort ſeiner Allmacht, ſeine Feinde nie- derſchlagen, er konnte allen Elementen über ſie gebieten, er konnte ſich durch eine unſichtbare Gewalt ihren Händen entziehen. Allein ſeine Liebe ſiegt hier über die ganze Em- pfindlichkeit der menſchlichen Natur. Nicht Erbitterung und Haß, nicht Begierde nach Rache, ſondern Verzeihung und Sanftmuth erfüllt ſein Herz. Er redet nicht die Sprache des Zorns, ſondern der Liebe, durch welche er ſchon ſo oft ein niedergeſchlagenes Herz aufgerichtet hatte. Jene unausſprechliche Liebe, die ihn antreibt, den Tod für die Sünder zu leiden, bewegt ihn auch, für ſie zu bitten. Und welche eine ſo zärtliche, ſo dringende Fürbitte iſt es! Konnte er angelegentlicher für ſeine Freunde bitten, konnte er gelinder in Anfehung kleiner Beleidigungen, gegen ſeine Lieblinge handeln, als er hier gegen ſeine Mörder verfährt? Vater, vergib ihnen, denn ſie wiſſen nicht, was ſie thun. Zuvörderſt rühret mich bey dieſem Gebete des gekreu- zigten Jeſu die zärtliche Vertraulichkeit, mit welcher er Gott anredet. So mannigfaltig und ſchrecklich die Leiden wa- ren, die Gott über ihn verhängt hatte, ſo blieb er doch unveränderlich gehorſam bis zum Tode, und bewies es durch alle Worte und Handlungen, daß er den Willen Gottes mit Freudigkeit thue. Jetzt war es beſonders nö- thig, daß er ein öffentliches Zeugniß von ſeiner fortdauren- den Liebe gegen ſeinen Vater ablegte. Und dis that er durch die Anrede, deren er ſich bey der Fürbitte für ſeine Fein- de bediente. Denjenigen, welcher ihn in ſeinem Richter- zorn

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 148. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/170>, abgerufen am 24.11.2024.