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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Sechs und zwanzigste Betrachtung.
lassen zu seyn! Gesetzt, mein Zustand wäre noch tau-
sendmahl schlimmer, als er wirklich ist: so wäre doch
mein Leiden gegen dasjenige, was du erduldet hast, wie
ein Tropfen gegen das Meer. Die Sünde, die mich
schmerzet, verwundete dich viel tiefer. Das Elend, das
mich drückt, hat dich viel heftiger erschüttert. Bey mei-
ner Trübsal habe ich doch zum wenigsten diese Erleichterung,
daß ich unter meinen Freunden Herzen finde, die sich mei-
ne Noth jammern lassen: aber du hattest niemand, der
dich stärkte, niemand, der nur Mitleiden mit dir trug.
Bey meinem Elend habe ich den Trost, daß es doch end-
lich ein Ende nehmen muß. Aber was dein Leiden, mein
Heiland, am bittersten macht, ist dieses, daß du noch im-
mer den Widerspruch und die Mißhandlung der Sünder
ertragen mußt. Was sie ehemals an deiner Person ver-
übet haben, das üben sie noch heute gegen dein Evangeli-
um aus.

Nun ich will an dich gedenken, der du ein so grosses
Widersprechen, eine so heftige Schmach von deinen Fein-
den erduldet hast, damit ich nicht in meinem Muthe matt
werde. Dein Leiden soll mich geschickt machen, das mei-
nige desto standhafter zu ertragen. Warum sollte ich auf
Rosen gehen wollen, da du einen so dornigten Weg zu-
rücklegen mußtest? Wenn ich Gewalt, Unrecht, Neid
und Verfolgung leiden muß, von welchen ich so vieles ver-
schuldet habe, warum sollte ich mich darüber beklagen, da
du Unschuldigster, alles dis nach der grösten Strenge er-
fahren mußtest? Werde ich unbilliger Weise verkleinert
und geschmähet, wie kann mich dieses niederschlagen, wenn
ich deine Schmach und die Grösse deiner Martern betrach-
te? Und wie kann ich ein kummerleeres Leben erwarten,
da das Leben des Besten unter allen Menschenkindern so
voll von Trübsal und Schmerzen war? Ich bin ein Un-

ter-

Sechs und zwanzigſte Betrachtung.
laſſen zu ſeyn! Geſetzt, mein Zuſtand wäre noch tau-
ſendmahl ſchlimmer, als er wirklich iſt: ſo wäre doch
mein Leiden gegen dasjenige, was du erduldet haſt, wie
ein Tropfen gegen das Meer. Die Sünde, die mich
ſchmerzet, verwundete dich viel tiefer. Das Elend, das
mich drückt, hat dich viel heftiger erſchüttert. Bey mei-
ner Trübſal habe ich doch zum wenigſten dieſe Erleichterung,
daß ich unter meinen Freunden Herzen finde, die ſich mei-
ne Noth jammern laſſen: aber du hatteſt niemand, der
dich ſtärkte, niemand, der nur Mitleiden mit dir trug.
Bey meinem Elend habe ich den Troſt, daß es doch end-
lich ein Ende nehmen muß. Aber was dein Leiden, mein
Heiland, am bitterſten macht, iſt dieſes, daß du noch im-
mer den Widerſpruch und die Mißhandlung der Sünder
ertragen mußt. Was ſie ehemals an deiner Perſon ver-
übet haben, das üben ſie noch heute gegen dein Evangeli-
um aus.

Nun ich will an dich gedenken, der du ein ſo groſſes
Widerſprechen, eine ſo heftige Schmach von deinen Fein-
den erduldet haſt, damit ich nicht in meinem Muthe matt
werde. Dein Leiden ſoll mich geſchickt machen, das mei-
nige deſto ſtandhafter zu ertragen. Warum ſollte ich auf
Roſen gehen wollen, da du einen ſo dornigten Weg zu-
rücklegen mußteſt? Wenn ich Gewalt, Unrecht, Neid
und Verfolgung leiden muß, von welchen ich ſo vieles ver-
ſchuldet habe, warum ſollte ich mich darüber beklagen, da
du Unſchuldigſter, alles dis nach der gröſten Strenge er-
fahren mußteſt? Werde ich unbilliger Weiſe verkleinert
und geſchmähet, wie kann mich dieſes niederſchlagen, wenn
ich deine Schmach und die Gröſſe deiner Martern betrach-
te? Und wie kann ich ein kummerleeres Leben erwarten,
da das Leben des Beſten unter allen Menſchenkindern ſo
voll von Trübſal und Schmerzen war? Ich bin ein Un-

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[118/0140] Sechs und zwanzigſte Betrachtung. laſſen zu ſeyn! Geſetzt, mein Zuſtand wäre noch tau- ſendmahl ſchlimmer, als er wirklich iſt: ſo wäre doch mein Leiden gegen dasjenige, was du erduldet haſt, wie ein Tropfen gegen das Meer. Die Sünde, die mich ſchmerzet, verwundete dich viel tiefer. Das Elend, das mich drückt, hat dich viel heftiger erſchüttert. Bey mei- ner Trübſal habe ich doch zum wenigſten dieſe Erleichterung, daß ich unter meinen Freunden Herzen finde, die ſich mei- ne Noth jammern laſſen: aber du hatteſt niemand, der dich ſtärkte, niemand, der nur Mitleiden mit dir trug. Bey meinem Elend habe ich den Troſt, daß es doch end- lich ein Ende nehmen muß. Aber was dein Leiden, mein Heiland, am bitterſten macht, iſt dieſes, daß du noch im- mer den Widerſpruch und die Mißhandlung der Sünder ertragen mußt. Was ſie ehemals an deiner Perſon ver- übet haben, das üben ſie noch heute gegen dein Evangeli- um aus. Nun ich will an dich gedenken, der du ein ſo groſſes Widerſprechen, eine ſo heftige Schmach von deinen Fein- den erduldet haſt, damit ich nicht in meinem Muthe matt werde. Dein Leiden ſoll mich geſchickt machen, das mei- nige deſto ſtandhafter zu ertragen. Warum ſollte ich auf Roſen gehen wollen, da du einen ſo dornigten Weg zu- rücklegen mußteſt? Wenn ich Gewalt, Unrecht, Neid und Verfolgung leiden muß, von welchen ich ſo vieles ver- ſchuldet habe, warum ſollte ich mich darüber beklagen, da du Unſchuldigſter, alles dis nach der gröſten Strenge er- fahren mußteſt? Werde ich unbilliger Weiſe verkleinert und geſchmähet, wie kann mich dieſes niederſchlagen, wenn ich deine Schmach und die Gröſſe deiner Martern betrach- te? Und wie kann ich ein kummerleeres Leben erwarten, da das Leben des Beſten unter allen Menſchenkindern ſo voll von Trübſal und Schmerzen war? Ich bin ein Un- ter-

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/140>, abgerufen am 24.11.2024.