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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775.

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Austauschung Jesu gegen den Barrabas.
was thaten sie? Sie thaten das, was die Hölle thun
würde, um den Fortgang der Laster zu befördern, und
die Ausbreitung der Tugend zu verhindern: sie setzten den
Mörder in Freyheit, und den Unschuldigen übergaben sie
dem Tode.

Aber wer kann es beschreiben, was Jesus unter
dieser Mißhandlung empfunden haben muß? Er wird
mit einem Mörder verglichen, und die Entscheidung ver-
räth es, daß man ihn für noch ärger, als einen Mörder
gehalten hat. Nicht blos die äusserliche Schande war es,
die ihn schmerzen mußte: sondern der traurigste Gedanke
für ihn war dieser, daß ihn sein Volk, das Volk des Ei-
genthums verwarf, und ihn nicht zum Heiland haben
wollte. Drey Jahre lang hatte er sich damit beschäfti-
get, die verlohrne Schafe des Hauses Israels zu suchen;
und seine Kräfte in der Arbeit für das Wohl dieses Volks
verzehret. Alle seine Wunder, seine Lehren, sein Wan-
del konnte sie von seiner höhern Bestimmung, zum wenig-
sten von seiner Unschuld überzeugen. Nun aber offen-
bahrte es sich, daß er vergeblich gearbeitet, und ihre See-
len umsonst zu retten gesucht hatte. Durch welche Wohl-
thaten hatte er sich um sein Volk verdient gemacht! Dies
war also der Lohn für seine wohlthätigen Beschäftigungen,
für seine Nachtwachen, für seine mühseligen Reisen, und
für alle die Arbeiten, die er zum Heil der Elenden über-
nommen hatte. Mußte dies nicht seine Seele aufs tiefste
verwunden, da er sahe, daß eine ganze Nation, für die
er sich aufgeopfert hatte, so wenig an ihn gedachte, daß
sie vielmehr einstimmig seinen Tod verlangte? Inzwischen
trug er auch diese Schmach mit unüberwindlicher Geduld.
Er gedachte nicht sowohl an das Unrecht, das ihm seine
Feinde anthaten, als an den Willen seines Vaters, nach
welchem er unter die Uebelthäter gezählet werden sollte.

Er
G 5

Austauſchung Jeſu gegen den Barrabas.
was thaten ſie? Sie thaten das, was die Hölle thun
würde, um den Fortgang der Laſter zu befördern, und
die Ausbreitung der Tugend zu verhindern: ſie ſetzten den
Mörder in Freyheit, und den Unſchuldigen übergaben ſie
dem Tode.

Aber wer kann es beſchreiben, was Jeſus unter
dieſer Mißhandlung empfunden haben muß? Er wird
mit einem Mörder verglichen, und die Entſcheidung ver-
räth es, daß man ihn für noch ärger, als einen Mörder
gehalten hat. Nicht blos die äuſſerliche Schande war es,
die ihn ſchmerzen mußte: ſondern der traurigſte Gedanke
für ihn war dieſer, daß ihn ſein Volk, das Volk des Ei-
genthums verwarf, und ihn nicht zum Heiland haben
wollte. Drey Jahre lang hatte er ſich damit beſchäfti-
get, die verlohrne Schafe des Hauſes Iſraels zu ſuchen;
und ſeine Kräfte in der Arbeit für das Wohl dieſes Volks
verzehret. Alle ſeine Wunder, ſeine Lehren, ſein Wan-
del konnte ſie von ſeiner höhern Beſtimmung, zum wenig-
ſten von ſeiner Unſchuld überzeugen. Nun aber offen-
bahrte es ſich, daß er vergeblich gearbeitet, und ihre See-
len umſonſt zu retten geſucht hatte. Durch welche Wohl-
thaten hatte er ſich um ſein Volk verdient gemacht! Dies
war alſo der Lohn für ſeine wohlthätigen Beſchäftigungen,
für ſeine Nachtwachen, für ſeine mühſeligen Reiſen, und
für alle die Arbeiten, die er zum Heil der Elenden über-
nommen hatte. Mußte dies nicht ſeine Seele aufs tiefſte
verwunden, da er ſahe, daß eine ganze Nation, für die
er ſich aufgeopfert hatte, ſo wenig an ihn gedachte, daß
ſie vielmehr einſtimmig ſeinen Tod verlangte? Inzwiſchen
trug er auch dieſe Schmach mit unüberwindlicher Geduld.
Er gedachte nicht ſowohl an das Unrecht, das ihm ſeine
Feinde anthaten, als an den Willen ſeines Vaters, nach
welchem er unter die Uebelthäter gezählet werden ſollte.

Er
G 5
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[105/0127] Austauſchung Jeſu gegen den Barrabas. was thaten ſie? Sie thaten das, was die Hölle thun würde, um den Fortgang der Laſter zu befördern, und die Ausbreitung der Tugend zu verhindern: ſie ſetzten den Mörder in Freyheit, und den Unſchuldigen übergaben ſie dem Tode. Aber wer kann es beſchreiben, was Jeſus unter dieſer Mißhandlung empfunden haben muß? Er wird mit einem Mörder verglichen, und die Entſcheidung ver- räth es, daß man ihn für noch ärger, als einen Mörder gehalten hat. Nicht blos die äuſſerliche Schande war es, die ihn ſchmerzen mußte: ſondern der traurigſte Gedanke für ihn war dieſer, daß ihn ſein Volk, das Volk des Ei- genthums verwarf, und ihn nicht zum Heiland haben wollte. Drey Jahre lang hatte er ſich damit beſchäfti- get, die verlohrne Schafe des Hauſes Iſraels zu ſuchen; und ſeine Kräfte in der Arbeit für das Wohl dieſes Volks verzehret. Alle ſeine Wunder, ſeine Lehren, ſein Wan- del konnte ſie von ſeiner höhern Beſtimmung, zum wenig- ſten von ſeiner Unſchuld überzeugen. Nun aber offen- bahrte es ſich, daß er vergeblich gearbeitet, und ihre See- len umſonſt zu retten geſucht hatte. Durch welche Wohl- thaten hatte er ſich um ſein Volk verdient gemacht! Dies war alſo der Lohn für ſeine wohlthätigen Beſchäftigungen, für ſeine Nachtwachen, für ſeine mühſeligen Reiſen, und für alle die Arbeiten, die er zum Heil der Elenden über- nommen hatte. Mußte dies nicht ſeine Seele aufs tiefſte verwunden, da er ſahe, daß eine ganze Nation, für die er ſich aufgeopfert hatte, ſo wenig an ihn gedachte, daß ſie vielmehr einſtimmig ſeinen Tod verlangte? Inzwiſchen trug er auch dieſe Schmach mit unüberwindlicher Geduld. Er gedachte nicht ſowohl an das Unrecht, das ihm ſeine Feinde anthaten, als an den Willen ſeines Vaters, nach welchem er unter die Uebelthäter gezählet werden ſollte. Er G 5

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Zitationshilfe: Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 105. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/127>, abgerufen am 24.11.2024.