Seele nicht tödten können? Warum strebe ich mit so starker Begierde nach Gütern, welche die Welt mir etwa anbietet? Warum erzittre ich so sehr vor dem Tode, vor dem Gericht und vor der Ewigkeit? Würde ich wohl so handeln können, wenn ich lebendig überzeugt wäre, daß das Reich Jesu nicht von dieser Welt ist?
Was soll ich, was kann ich auf diese Frage ant- worten, ohne selbst meine Schande zu offenbahren? Ich bin nicht für diese Welt bestimmt: ich weiß es, daß die zukünftige Welt es ist, nach welcher ich mich bilden, die ich lieben und die ich allen andern vorziehen soll. Aber mein irrdischgesinntes Herz benimmt allen Ueberzeugungen die Kraft, welche sie auf mich äussern könnten. In die- sem Augenblick fühle ich die ganze Schwäche meines Her- zens. Ich denke nach, mit welcher Freymüthigkeit du vor dem Richterstuhl Pilati dein Bekenntniß ablegtest, ob du gleich wußtest, daß es dich neuen Mißhandlungen aus- setzen würde. Wenn ich mich als einen Unterthan deines Reiches erkenne, so sehe ich, wie nothwendig es ist, daß ich auch dich vor Menschen zu bekennen suche. Denn könnte ich wohl da zurückbleiben, wo ich meinen Herrn zum Vorgänger habe? Ich bin es verpflichtet, dich, auf den ich getauft bin, von dem ich zum Eigenthum er- worben, und dessen Reich ich einverleibet bin, allezeit und allenthalben zu bekennen. Aber wie schwach fühle ich mich zu dieser Pflicht! Wenn ich aufgefordert würde, für das Reich Jesu zu kämpfen, wenn ein Richter oder ein Ungläubiger mich fragen sollte: bist du ein Unterthan des gekreuzigten Jesu? wie wenig würde ich die Entschlos- senheit haben, zu sagen: ja, ich bin sein Unterthan. Ich bin dazu gebohren, und dazu erlößt, daß ich die Wahr- heit zeugen soll. Ach ich besorge, ich würde, wenn ich in Gefahr wäre, mein Glück, meine Ehre, mein Leben
zu
G 2
Bekenntniß Jeſu vor Pilato.
Seele nicht tödten können? Warum ſtrebe ich mit ſo ſtarker Begierde nach Gütern, welche die Welt mir etwa anbietet? Warum erzittre ich ſo ſehr vor dem Tode, vor dem Gericht und vor der Ewigkeit? Würde ich wohl ſo handeln können, wenn ich lebendig überzeugt wäre, daß das Reich Jeſu nicht von dieſer Welt iſt?
Was ſoll ich, was kann ich auf dieſe Frage ant- worten, ohne ſelbſt meine Schande zu offenbahren? Ich bin nicht für dieſe Welt beſtimmt: ich weiß es, daß die zukünftige Welt es iſt, nach welcher ich mich bilden, die ich lieben und die ich allen andern vorziehen ſoll. Aber mein irrdiſchgeſinntes Herz benimmt allen Ueberzeugungen die Kraft, welche ſie auf mich äuſſern könnten. In die- ſem Augenblick fühle ich die ganze Schwäche meines Her- zens. Ich denke nach, mit welcher Freymüthigkeit du vor dem Richterſtuhl Pilati dein Bekenntniß ablegteſt, ob du gleich wußteſt, daß es dich neuen Mißhandlungen aus- ſetzen würde. Wenn ich mich als einen Unterthan deines Reiches erkenne, ſo ſehe ich, wie nothwendig es iſt, daß ich auch dich vor Menſchen zu bekennen ſuche. Denn könnte ich wohl da zurückbleiben, wo ich meinen Herrn zum Vorgänger habe? Ich bin es verpflichtet, dich, auf den ich getauft bin, von dem ich zum Eigenthum er- worben, und deſſen Reich ich einverleibet bin, allezeit und allenthalben zu bekennen. Aber wie ſchwach fühle ich mich zu dieſer Pflicht! Wenn ich aufgefordert würde, für das Reich Jeſu zu kämpfen, wenn ein Richter oder ein Ungläubiger mich fragen ſollte: biſt du ein Unterthan des gekreuzigten Jeſu? wie wenig würde ich die Entſchloſ- ſenheit haben, zu ſagen: ja, ich bin ſein Unterthan. Ich bin dazu gebohren, und dazu erlößt, daß ich die Wahr- heit zeugen ſoll. Ach ich beſorge, ich würde, wenn ich in Gefahr wäre, mein Glück, meine Ehre, mein Leben
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G 2
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Bekenntniß Jeſu vor Pilato.
Seele nicht tödten können? Warum ſtrebe ich mit ſo
ſtarker Begierde nach Gütern, welche die Welt mir etwa
anbietet? Warum erzittre ich ſo ſehr vor dem Tode, vor
dem Gericht und vor der Ewigkeit? Würde ich wohl
ſo handeln können, wenn ich lebendig überzeugt wäre, daß
das Reich Jeſu nicht von dieſer Welt iſt?
Was ſoll ich, was kann ich auf dieſe Frage ant-
worten, ohne ſelbſt meine Schande zu offenbahren? Ich
bin nicht für dieſe Welt beſtimmt: ich weiß es, daß die
zukünftige Welt es iſt, nach welcher ich mich bilden, die
ich lieben und die ich allen andern vorziehen ſoll. Aber
mein irrdiſchgeſinntes Herz benimmt allen Ueberzeugungen
die Kraft, welche ſie auf mich äuſſern könnten. In die-
ſem Augenblick fühle ich die ganze Schwäche meines Her-
zens. Ich denke nach, mit welcher Freymüthigkeit du
vor dem Richterſtuhl Pilati dein Bekenntniß ablegteſt, ob
du gleich wußteſt, daß es dich neuen Mißhandlungen aus-
ſetzen würde. Wenn ich mich als einen Unterthan deines
Reiches erkenne, ſo ſehe ich, wie nothwendig es iſt, daß
ich auch dich vor Menſchen zu bekennen ſuche. Denn
könnte ich wohl da zurückbleiben, wo ich meinen Herrn
zum Vorgänger habe? Ich bin es verpflichtet, dich,
auf den ich getauft bin, von dem ich zum Eigenthum er-
worben, und deſſen Reich ich einverleibet bin, allezeit und
allenthalben zu bekennen. Aber wie ſchwach fühle ich
mich zu dieſer Pflicht! Wenn ich aufgefordert würde,
für das Reich Jeſu zu kämpfen, wenn ein Richter oder
ein Ungläubiger mich fragen ſollte: biſt du ein Unterthan
des gekreuzigten Jeſu? wie wenig würde ich die Entſchloſ-
ſenheit haben, zu ſagen: ja, ich bin ſein Unterthan. Ich
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Matthias Boenig, Yannic Bracke, Benjamin Fiechter, Susanne Haaf, Linda Kirsten, Xi Zhang:
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Sturm, Christoph Christian: Unterhaltung der Andacht über die Leidensgeschichte Jesu. 2. Aufl. Halle (Saale), 1775, S. 99. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/sturm_unterhaltung_1781/121>, abgerufen am 03.07.2024.
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