eigenthümlich. Bei diesem Verhältniss beider Erzählun- gen könnte wohl eine Assimilation in der Art stattgefunden haben, dass dem Matthäus die zwei Blinden und die Berüh- rung Jesus aus der ersten Anekdote in die zweite, die Form des Rufs der Kranken aber aus der zweiten in die erste hineingekommen wäre.
Wie beide Geschichten angelegt sind, scheint für ei- ne natürliche Erklärung sich wenig darzubieten. Dennoch haben die rationalistischen Ausleger eine solche zu veran- stalten gewusst. Dass Jesus in dem früheren Falle die Blinden fragt, ob sie Vertrauen zu ihm haben, erklärt man dahin, Jesus habe sich überzeugen wollen, ob sie ihm wohl bei der Operation festhalten und seine weiteren Vor- schriften pünktlich befolgen würden 8); erst zu Hause hier- auf, um ungestört zu sein, habe er ihr Übel untersucht, und als er in demselben ein heilbares (nach Venturini9) durch den feinen Staub jener Gegenden bewirktes) Übel erkannte, die Leidenden versichert, dass ihnen nach dem Maass ihres Zutrauens geschehen solle. Hierauf sagt Pau- lus nur kurz, Jesus habe das Hinderniss ihres Sehens ent- fernt; aber auch er muss sich etwas Ähnliches mit Ven- turini denken, welcher Jesum die Augen der Blinden mit einem scharfen, von ihm vorher zubereiteten Wasser be- streichen, und sie so von dem entzündeten Staube reini- gen lässt, worauf in Kurzem ihr Gesicht zurückgekehrt sei. Allein auch diese natürliche Erklärung hat nicht die mindeste Wurzel im Text; denn weder kann in der von den Kranken geforderten pisis etwas Andres, als, wie immer in ähnlichen Fällen, das Vertrauen auf Jesu Wun- dermacht, gefunden werden, noch in dem epsato eine chir- urgische Operation, sondern lediglich jenes Berühren, welches bei so vielen evangelischen Heilungswundern, sei
8)Paulus, L. J. 1, a, S. 249.
9) Natürliche Geschichte des Propheten von Naz. 2, S. 216.
Zweiter Abschnitt.
eigenthümlich. Bei diesem Verhältniſs beider Erzählun- gen könnte wohl eine Assimilation in der Art stattgefunden haben, daſs dem Matthäus die zwei Blinden und die Berüh- rung Jesus aus der ersten Anekdote in die zweite, die Form des Rufs der Kranken aber aus der zweiten in die erste hineingekommen wäre.
Wie beide Geschichten angelegt sind, scheint für ei- ne natürliche Erklärung sich wenig darzubieten. Dennoch haben die rationalistischen Ausleger eine solche zu veran- stalten gewuſst. Daſs Jesus in dem früheren Falle die Blinden fragt, ob sie Vertrauen zu ihm haben, erklärt man dahin, Jesus habe sich überzeugen wollen, ob sie ihm wohl bei der Operation festhalten und seine weiteren Vor- schriften pünktlich befolgen würden 8); erst zu Hause hier- auf, um ungestört zu sein, habe er ihr Übel untersucht, und als er in demselben ein heilbares (nach Venturini9) durch den feinen Staub jener Gegenden bewirktes) Übel erkannte, die Leidenden versichert, daſs ihnen nach dem Maaſs ihres Zutrauens geschehen solle. Hierauf sagt Pau- lus nur kurz, Jesus habe das Hinderniſs ihres Sehens ent- fernt; aber auch er muſs sich etwas Ähnliches mit Ven- turini denken, welcher Jesum die Augen der Blinden mit einem scharfen, von ihm vorher zubereiteten Wasser be- streichen, und sie so von dem entzündeten Staube reini- gen läſst, worauf in Kurzem ihr Gesicht zurückgekehrt sei. Allein auch diese natürliche Erklärung hat nicht die mindeste Wurzel im Text; denn weder kann in der von den Kranken geforderten πίςις etwas Andres, als, wie immer in ähnlichen Fällen, das Vertrauen auf Jesu Wun- dermacht, gefunden werden, noch in dem ἥψατο eine chir- urgische Operation, sondern lediglich jenes Berühren, welches bei so vielen evangelischen Heilungswundern, sei
8)Paulus, L. J. 1, a, S. 249.
9) Natürliche Geschichte des Propheten von Naz. 2, S. 216.
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Zweiter Abschnitt.
eigenthümlich. Bei diesem Verhältniſs beider Erzählun-
gen könnte wohl eine Assimilation in der Art stattgefunden
haben, daſs dem Matthäus die zwei Blinden und die Berüh-
rung Jesus aus der ersten Anekdote in die zweite, die
Form des Rufs der Kranken aber aus der zweiten in die
erste hineingekommen wäre.
Wie beide Geschichten angelegt sind, scheint für ei-
ne natürliche Erklärung sich wenig darzubieten. Dennoch
haben die rationalistischen Ausleger eine solche zu veran-
stalten gewuſst. Daſs Jesus in dem früheren Falle die
Blinden fragt, ob sie Vertrauen zu ihm haben, erklärt man
dahin, Jesus habe sich überzeugen wollen, ob sie ihm
wohl bei der Operation festhalten und seine weiteren Vor-
schriften pünktlich befolgen würden 8); erst zu Hause hier-
auf, um ungestört zu sein, habe er ihr Übel untersucht,
und als er in demselben ein heilbares (nach Venturini 9)
durch den feinen Staub jener Gegenden bewirktes) Übel
erkannte, die Leidenden versichert, daſs ihnen nach dem
Maaſs ihres Zutrauens geschehen solle. Hierauf sagt Pau-
lus nur kurz, Jesus habe das Hinderniſs ihres Sehens ent-
fernt; aber auch er muſs sich etwas Ähnliches mit Ven-
turini denken, welcher Jesum die Augen der Blinden mit
einem scharfen, von ihm vorher zubereiteten Wasser be-
streichen, und sie so von dem entzündeten Staube reini-
gen läſst, worauf in Kurzem ihr Gesicht zurückgekehrt
sei. Allein auch diese natürliche Erklärung hat nicht die
mindeste Wurzel im Text; denn weder kann in der von
den Kranken geforderten πίςις etwas Andres, als, wie
immer in ähnlichen Fällen, das Vertrauen auf Jesu Wun-
dermacht, gefunden werden, noch in dem ἥψατο eine chir-
urgische Operation, sondern lediglich jenes Berühren,
welches bei so vielen evangelischen Heilungswundern, sei
8) Paulus, L. J. 1, a, S. 249.
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/85>, abgerufen am 24.11.2024.
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