wirkliche Thatbestand ist hiebei dieser. Die Gemeinde bezieht die kirchliche Christologie auf ein zu gewisser Zeit geschichtlich dagewesenes Individuum: der speculative The- olog auf eine Idee, die nur in der Gesammtheit der Individuen zum Dasein gelangt; der Gemeinde gelten die evangeli- schen Erzählungen als Geschichte: dem kritischen Theolo- gen guten Theils nur als Mythe. Soll er sich nun der Gemeinde mittheilen, so stehen ihm vier Wege offen:
Erstlich der schon in den obigen Äusserungen Schlei- ermacher's abgeschnittene Versuch, die Gemeinde auf sei- nen Standpunkt zu erheben, das Geschichtliche auch für sie in Ideen aufzulösen -- ein Versuch, der nothwendig fehl- schlagen muss, weil der Gemeinde alle Prämissen fehlen, durch welche in dem Theologen seine speculative Ansicht vermittelt worden ist, den ebendesswegen nur ein fana- tisch gewordener Aufklärungstrieb machen könnte.
Der zweite, entgegengesezte Ausweg wäre, sich durchaus auf den Standpunkt der Gemeinde zu versetzen, und für die kirchliche Mittheilung sich aus der Sphäre des Begriffs ganz in die Region der volksthümlichen Vorstel- lung herabzulassen. Dieser Ausweg wird gewöhnlich zu roh gefasst und beurtheilt. Die Differenz zwischen dem Theologen und der Gemeinde wird für eine totale angese- hen: er müsste, meint man, auf die Frage, ob er an die Geschichte Christi glaube, eigentlich nein sagen, sage aber ja, und diess sei eine Lüge. Allerdings, wenn bei'm geist- lichen Vortrag und Unterricht das Interesse ein geschicht- liches wäre, verhielte es sich so: nun aber ist das Inter- esse ein religiöses, es ist wesentlich Religion, was hier mitgetheilt wird, erscheinend in Form von Geschichte, und da kann, wer zwar an die Geschichte als solche nicht gaubt, doch das Religiöse in ihr ebensogut anerkennen, wie wer auch die Geschichte als solche annimmt; es ist nur ein Unterschied der Form, von welchem der Inhalt unberührt bleibt. Deswegen ist es ungebildet, es schlecht-
Schluſsabhandlung. §. 147.
wirkliche Thatbestand ist hiebei dieser. Die Gemeinde bezieht die kirchliche Christologie auf ein zu gewisser Zeit geschichtlich dagewesenes Individuum: der speculative The- olog auf eine Idee, die nur in der Gesammtheit der Individuen zum Dasein gelangt; der Gemeinde gelten die evangeli- schen Erzählungen als Geschichte: dem kritischen Theolo- gen guten Theils nur als Mythe. Soll er sich nun der Gemeinde mittheilen, so stehen ihm vier Wege offen:
Erstlich der schon in den obigen Äusserungen Schlei- ermacher's abgeschnittene Versuch, die Gemeinde auf sei- nen Standpunkt zu erheben, das Geschichtliche auch für sie in Ideen aufzulösen — ein Versuch, der nothwendig fehl- schlagen muſs, weil der Gemeinde alle Prämissen fehlen, durch welche in dem Theologen seine speculative Ansicht vermittelt worden ist, den ebendeſswegen nur ein fana- tisch gewordener Aufklärungstrieb machen könnte.
Der zweite, entgegengesezte Ausweg wäre, sich durchaus auf den Standpunkt der Gemeinde zu versetzen, und für die kirchliche Mittheilung sich aus der Sphäre des Begriffs ganz in die Region der volksthümlichen Vorstel- lung herabzulassen. Dieser Ausweg wird gewöhnlich zu roh gefaſst und beurtheilt. Die Differenz zwischen dem Theologen und der Gemeinde wird für eine totale angese- hen: er müſste, meint man, auf die Frage, ob er an die Geschichte Christi glaube, eigentlich nein sagen, sage aber ja, und dieſs sei eine Lüge. Allerdings, wenn bei'm geist- lichen Vortrag und Unterricht das Interesse ein geschicht- liches wäre, verhielte es sich so: nun aber ist das Inter- esse ein religiöses, es ist wesentlich Religion, was hier mitgetheilt wird, erscheinend in Form von Geschichte, und da kann, wer zwar an die Geschichte als solche nicht gaubt, doch das Religiöse in ihr ebensogut anerkennen, wie wer auch die Geschichte als solche annimmt; es ist nur ein Unterschied der Form, von welchem der Inhalt unberührt bleibt. Deswegen ist es ungebildet, es schlecht-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0759"n="740"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#g">Schluſsabhandlung</hi>. §. 147.</fw><lb/>
wirkliche Thatbestand ist hiebei dieser. Die Gemeinde<lb/>
bezieht die kirchliche Christologie auf ein zu gewisser Zeit<lb/>
geschichtlich dagewesenes Individuum: der speculative The-<lb/>
olog auf eine Idee, die nur in der Gesammtheit der Individuen<lb/>
zum Dasein gelangt; der Gemeinde gelten die evangeli-<lb/>
schen Erzählungen als Geschichte: dem kritischen Theolo-<lb/>
gen guten Theils nur als Mythe. Soll er sich nun der<lb/>
Gemeinde mittheilen, so stehen ihm vier Wege offen:</p><lb/><p>Erstlich der schon in den obigen Äusserungen <hirendition="#k">Schlei-<lb/>
ermacher</hi>'s abgeschnittene Versuch, die Gemeinde auf sei-<lb/>
nen Standpunkt zu erheben, das Geschichtliche auch für<lb/>
sie in Ideen aufzulösen — ein Versuch, der nothwendig fehl-<lb/>
schlagen muſs, weil der Gemeinde alle Prämissen fehlen,<lb/>
durch welche in dem Theologen seine speculative Ansicht<lb/>
vermittelt worden ist, den ebendeſswegen nur ein fana-<lb/>
tisch gewordener Aufklärungstrieb machen könnte.</p><lb/><p>Der zweite, entgegengesezte Ausweg wäre, sich<lb/>
durchaus auf den Standpunkt der Gemeinde zu versetzen,<lb/>
und für die kirchliche Mittheilung sich aus der Sphäre des<lb/>
Begriffs ganz in die Region der volksthümlichen Vorstel-<lb/>
lung herabzulassen. Dieser Ausweg wird gewöhnlich zu<lb/>
roh gefaſst und beurtheilt. Die Differenz zwischen dem<lb/>
Theologen und der Gemeinde wird für eine totale angese-<lb/>
hen: er müſste, meint man, auf die Frage, ob er an die<lb/>
Geschichte Christi glaube, eigentlich nein sagen, sage aber<lb/>
ja, und dieſs sei eine Lüge. Allerdings, wenn bei'm geist-<lb/>
lichen Vortrag und Unterricht das Interesse ein geschicht-<lb/>
liches wäre, verhielte es sich so: nun aber ist das Inter-<lb/>
esse ein religiöses, es ist wesentlich Religion, was hier<lb/>
mitgetheilt wird, erscheinend in Form von Geschichte, und<lb/>
da kann, wer zwar an die Geschichte als solche nicht<lb/>
gaubt, doch das Religiöse in ihr ebensogut anerkennen,<lb/>
wie wer auch die Geschichte als solche annimmt; es ist<lb/>
nur ein Unterschied der Form, von welchem der Inhalt<lb/>
unberührt bleibt. Deswegen ist es ungebildet, es schlecht-<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[740/0759]
Schluſsabhandlung. §. 147.
wirkliche Thatbestand ist hiebei dieser. Die Gemeinde
bezieht die kirchliche Christologie auf ein zu gewisser Zeit
geschichtlich dagewesenes Individuum: der speculative The-
olog auf eine Idee, die nur in der Gesammtheit der Individuen
zum Dasein gelangt; der Gemeinde gelten die evangeli-
schen Erzählungen als Geschichte: dem kritischen Theolo-
gen guten Theils nur als Mythe. Soll er sich nun der
Gemeinde mittheilen, so stehen ihm vier Wege offen:
Erstlich der schon in den obigen Äusserungen Schlei-
ermacher's abgeschnittene Versuch, die Gemeinde auf sei-
nen Standpunkt zu erheben, das Geschichtliche auch für
sie in Ideen aufzulösen — ein Versuch, der nothwendig fehl-
schlagen muſs, weil der Gemeinde alle Prämissen fehlen,
durch welche in dem Theologen seine speculative Ansicht
vermittelt worden ist, den ebendeſswegen nur ein fana-
tisch gewordener Aufklärungstrieb machen könnte.
Der zweite, entgegengesezte Ausweg wäre, sich
durchaus auf den Standpunkt der Gemeinde zu versetzen,
und für die kirchliche Mittheilung sich aus der Sphäre des
Begriffs ganz in die Region der volksthümlichen Vorstel-
lung herabzulassen. Dieser Ausweg wird gewöhnlich zu
roh gefaſst und beurtheilt. Die Differenz zwischen dem
Theologen und der Gemeinde wird für eine totale angese-
hen: er müſste, meint man, auf die Frage, ob er an die
Geschichte Christi glaube, eigentlich nein sagen, sage aber
ja, und dieſs sei eine Lüge. Allerdings, wenn bei'm geist-
lichen Vortrag und Unterricht das Interesse ein geschicht-
liches wäre, verhielte es sich so: nun aber ist das Inter-
esse ein religiöses, es ist wesentlich Religion, was hier
mitgetheilt wird, erscheinend in Form von Geschichte, und
da kann, wer zwar an die Geschichte als solche nicht
gaubt, doch das Religiöse in ihr ebensogut anerkennen,
wie wer auch die Geschichte als solche annimmt; es ist
nur ein Unterschied der Form, von welchem der Inhalt
unberührt bleibt. Deswegen ist es ungebildet, es schlecht-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 740. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/759>, abgerufen am 23.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.