Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Schlussabhandlung. §. 147. er von dieser Seite fort und auf die entgegengesezte hin-übergezogen. Denn der Begriff der Idee Gottes und des Menschen, auf welchem nach der speculativen Ansicht die Wahrheit des christlichen Glaubens beruht, sei freilich ein köstliches Kleinod, aber nur Wenige können es be- sitzen, und ein solcher Privilegirter wolle er nicht sein in der Gemeinde, dass er unter Tausenden den Grund des Glaubens allein hätte. Hier könne ihm nur wohl sein in der völligen Gleichheit, in dem Bewusstsein, dass wir alle auf dieselbe Weise von dem Einen nehmen und dasselbe an ihm haben. Und als Wortführer und Lehrer in der Gemeinde könnte er sich doch unmöglich die Aufgabe stel- len, Alt und Jung ohne Unterschied den Begriff der Idee Gottes und des Menschen beizubringen: vielmehr müsste er ihren Glauben als einen grundlosen in Anspruch neh- men, und könnte ihn auch nur als einen solchen stärken und befestigen wollen. Indem so in der gemeinsamen An- gelegenheit der Religion eine unübersteigliche Kluft befe- stigt werde, bedrohe uns die speculative Theologie mit einem Gegensaz von esoterischer und exoterischer Lehre, welcher den Äusserungen Christi, es sollen Alle von Gott gelehrt sein, gar nicht gemäss sei: die Wissenden haben allein den Grund des Glaubens, die Nichtwissenden haben nur den Glauben, und erhalten ihn nur auf dem Weg der Überlieferung. Lasse hingegen die ebionitische Ansicht nur wenig von Christo übrig, so sei diess Wenige doch Allen gleich zugänglich und erreichbar, und wir bleiben dabei bewahrt vor jeder immer doch in's Römische hin- überspielenden Hierarchie der Speculation 7). Hier ist auf gebildete Weise dasjenige ausgesprochen, was man jezt von Vielen, nur in ihrer Art ungebildet, zu hören be- kommt, dass der speculative und zugleich kritische Theo- log der Gemeinde gegenüber zum Lügner werde. Der 7) Im zweiten Sendschreiben. 47 *
Schluſsabhandlung. §. 147. er von dieser Seite fort und auf die entgegengesezte hin-übergezogen. Denn der Begriff der Idee Gottes und des Menschen, auf welchem nach der speculativen Ansicht die Wahrheit des christlichen Glaubens beruht, sei freilich ein köstliches Kleinod, aber nur Wenige können es be- sitzen, und ein solcher Privilegirter wolle er nicht sein in der Gemeinde, daſs er unter Tausenden den Grund des Glaubens allein hätte. Hier könne ihm nur wohl sein in der völligen Gleichheit, in dem Bewuſstsein, daſs wir alle auf dieselbe Weise von dem Einen nehmen und dasselbe an ihm haben. Und als Wortführer und Lehrer in der Gemeinde könnte er sich doch unmöglich die Aufgabe stel- len, Alt und Jung ohne Unterschied den Begriff der Idee Gottes und des Menschen beizubringen: vielmehr müſste er ihren Glauben als einen grundlosen in Anspruch neh- men, und könnte ihn auch nur als einen solchen stärken und befestigen wollen. Indem so in der gemeinsamen An- gelegenheit der Religion eine unübersteigliche Kluft befe- stigt werde, bedrohe uns die speculative Theologie mit einem Gegensaz von esoterischer und exoterischer Lehre, welcher den Äusserungen Christi, es sollen Alle von Gott gelehrt sein, gar nicht gemäſs sei: die Wissenden haben allein den Grund des Glaubens, die Nichtwissenden haben nur den Glauben, und erhalten ihn nur auf dem Weg der Überlieferung. Lasse hingegen die ebionitische Ansicht nur wenig von Christo übrig, so sei dieſs Wenige doch Allen gleich zugänglich und erreichbar, und wir bleiben dabei bewahrt vor jeder immer doch in's Römische hin- überspielenden Hierarchie der Speculation 7). Hier ist auf gebildete Weise dasjenige ausgesprochen, was man jezt von Vielen, nur in ihrer Art ungebildet, zu hören be- kommt, daſs der speculative und zugleich kritische Theo- log der Gemeinde gegenüber zum Lügner werde. Der 7) Im zweiten Sendschreiben. 47 *
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Schluſsabhandlung. §. 147.
er von dieser Seite fort und auf die entgegengesezte hin-
übergezogen. Denn der Begriff der Idee Gottes und des
Menschen, auf welchem nach der speculativen Ansicht die
Wahrheit des christlichen Glaubens beruht, sei freilich
ein köstliches Kleinod, aber nur Wenige können es be-
sitzen, und ein solcher Privilegirter wolle er nicht sein in
der Gemeinde, daſs er unter Tausenden den Grund des
Glaubens allein hätte. Hier könne ihm nur wohl sein in
der völligen Gleichheit, in dem Bewuſstsein, daſs wir alle
auf dieselbe Weise von dem Einen nehmen und dasselbe
an ihm haben. Und als Wortführer und Lehrer in der
Gemeinde könnte er sich doch unmöglich die Aufgabe stel-
len, Alt und Jung ohne Unterschied den Begriff der Idee
Gottes und des Menschen beizubringen: vielmehr müſste
er ihren Glauben als einen grundlosen in Anspruch neh-
men, und könnte ihn auch nur als einen solchen stärken
und befestigen wollen. Indem so in der gemeinsamen An-
gelegenheit der Religion eine unübersteigliche Kluft befe-
stigt werde, bedrohe uns die speculative Theologie mit
einem Gegensaz von esoterischer und exoterischer Lehre,
welcher den Äusserungen Christi, es sollen Alle von Gott
gelehrt sein, gar nicht gemäſs sei: die Wissenden haben
allein den Grund des Glaubens, die Nichtwissenden haben
nur den Glauben, und erhalten ihn nur auf dem Weg der
Überlieferung. Lasse hingegen die ebionitische Ansicht
nur wenig von Christo übrig, so sei dieſs Wenige doch
Allen gleich zugänglich und erreichbar, und wir bleiben
dabei bewahrt vor jeder immer doch in's Römische hin-
überspielenden Hierarchie der Speculation 7). Hier ist
auf gebildete Weise dasjenige ausgesprochen, was man
jezt von Vielen, nur in ihrer Art ungebildet, zu hören be-
kommt, daſs der speculative und zugleich kritische Theo-
log der Gemeinde gegenüber zum Lügner werde. Der
7) Im zweiten Sendschreiben.
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