fung statt, je nachdem sich die psychische Verrückung mehr oder weniger auch schon körperlich fixirt hat, und die Verstimmung des Nervensystems mehr oder minder ha- bituell geworden und in die übrigen Systeme übergegangen ist. Es stellt sich also der Kanon: je mehr das Übel blos in einer Verstimmung des Gemüthes lag, auf welches Je- sus unmittelbar durch sein Wort geistig wirken konnte, oder in einer leichteren des Nervensystems, auf welches er durch Vermittlung des Gemüths gewaltigen Eindruck zu machen im Stande war: desto eher war es möglich, dass Jesus logo (Matth. 8, 16.) und parakhrema (Luc. 13, 13.) dergleichen Zuständen ein Ende machen konnte; je mehr aber umgekehrt das Übel sich auch schon als kör- perliche Krankheit festgesezt hatte, desto schwerer ist an- zunehmen, dass Jesus im Stande gewesen sei, auf rein psy- chologische Weise und augenblicklich Hülfe zu schaffen. Ein zweiter Kanon ergiebt sich daraus, dass, um bedeutend geistig einwirken zu können, das ganze Ansehen Jesu als Propheten mitwirken musste, wesswegen er in Zeiten und Gegenden, wo er längst in diesem Rufe stand, leichter auf jene Weise wirken konnte, als wo nicht.
An diese beiden Massstäbe die evangelischen Erzäh- lungen gehalten, steht der ersten von dem Vorgang in der Synagoge zu Kapernaum, sobald man nur davon abgeht, sie als durchaus historisch zu betrachten, nicht mehr all- zuviel entgegen. Denn ob sie gleich so lautet, als hätte der Dämon Jesum aus sich selbst erkannt, so kann doch theils der in jenen Gegenden bereits sich ausbreitende Ruf Jesu, theils seine gewaltige Rede in der Synagoge auf den Dä- monischen den Eindruck, wenn auch nicht, dass Jesus der Messias sei, wie die Evangelisten sagen, doch, dass er ein Prophet sein müsse, gemacht, und so seinem Worte Nach- druck gegeben haben. Was aber den Zustand des Kran- ken betrifft, so wird uns nur von der fixen Idee desselben, besessen zu sein, und von krampfhaften Anfällen gemeldet,
Zweiter Abschnitt.
fung statt, je nachdem sich die psychische Verrückung mehr oder weniger auch schon körperlich fixirt hat, und die Verstimmung des Nervensystems mehr oder minder ha- bituell geworden und in die übrigen Systeme übergegangen ist. Es stellt sich also der Kanon: je mehr das Übel blos in einer Verstimmung des Gemüthes lag, auf welches Je- sus unmittelbar durch sein Wort geistig wirken konnte, oder in einer leichteren des Nervensystems, auf welches er durch Vermittlung des Gemüths gewaltigen Eindruck zu machen im Stande war: desto eher war es möglich, daſs Jesus λόγῳ (Matth. 8, 16.) und παραχρῆμα (Luc. 13, 13.) dergleichen Zuständen ein Ende machen konnte; je mehr aber umgekehrt das Übel sich auch schon als kör- perliche Krankheit festgesezt hatte, desto schwerer ist an- zunehmen, daſs Jesus im Stande gewesen sei, auf rein psy- chologische Weise und augenblicklich Hülfe zu schaffen. Ein zweiter Kanon ergiebt sich daraus, daſs, um bedeutend geistig einwirken zu können, das ganze Ansehen Jesu als Propheten mitwirken muſste, weſswegen er in Zeiten und Gegenden, wo er längst in diesem Rufe stand, leichter auf jene Weise wirken konnte, als wo nicht.
An diese beiden Maſsstäbe die evangelischen Erzäh- lungen gehalten, steht der ersten von dem Vorgang in der Synagoge zu Kapernaum, sobald man nur davon abgeht, sie als durchaus historisch zu betrachten, nicht mehr all- zuviel entgegen. Denn ob sie gleich so lautet, als hätte der Dämon Jesum aus sich selbst erkannt, so kann doch theils der in jenen Gegenden bereits sich ausbreitende Ruf Jesu, theils seine gewaltige Rede in der Synagoge auf den Dä- monischen den Eindruck, wenn auch nicht, daſs Jesus der Messias sei, wie die Evangelisten sagen, doch, daſs er ein Prophet sein müsse, gemacht, und so seinem Worte Nach- druck gegeben haben. Was aber den Zustand des Kran- ken betrifft, so wird uns nur von der fixen Idee desselben, besessen zu sein, und von krampfhaften Anfällen gemeldet,
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Zweiter Abschnitt.
fung statt, je nachdem sich die psychische Verrückung
mehr oder weniger auch schon körperlich fixirt hat, und
die Verstimmung des Nervensystems mehr oder minder ha-
bituell geworden und in die übrigen Systeme übergegangen
ist. Es stellt sich also der Kanon: je mehr das Übel blos
in einer Verstimmung des Gemüthes lag, auf welches Je-
sus unmittelbar durch sein Wort geistig wirken konnte,
oder in einer leichteren des Nervensystems, auf welches
er durch Vermittlung des Gemüths gewaltigen Eindruck
zu machen im Stande war: desto eher war es möglich,
daſs Jesus λόγῳ (Matth. 8, 16.) und παραχρῆμα (Luc. 13,
13.) dergleichen Zuständen ein Ende machen konnte; je
mehr aber umgekehrt das Übel sich auch schon als kör-
perliche Krankheit festgesezt hatte, desto schwerer ist an-
zunehmen, daſs Jesus im Stande gewesen sei, auf rein psy-
chologische Weise und augenblicklich Hülfe zu schaffen.
Ein zweiter Kanon ergiebt sich daraus, daſs, um bedeutend
geistig einwirken zu können, das ganze Ansehen Jesu als
Propheten mitwirken muſste, weſswegen er in Zeiten und
Gegenden, wo er längst in diesem Rufe stand, leichter auf
jene Weise wirken konnte, als wo nicht.
An diese beiden Maſsstäbe die evangelischen Erzäh-
lungen gehalten, steht der ersten von dem Vorgang in der
Synagoge zu Kapernaum, sobald man nur davon abgeht,
sie als durchaus historisch zu betrachten, nicht mehr all-
zuviel entgegen. Denn ob sie gleich so lautet, als hätte der
Dämon Jesum aus sich selbst erkannt, so kann doch theils
der in jenen Gegenden bereits sich ausbreitende Ruf Jesu,
theils seine gewaltige Rede in der Synagoge auf den Dä-
monischen den Eindruck, wenn auch nicht, daſs Jesus der
Messias sei, wie die Evangelisten sagen, doch, daſs er ein
Prophet sein müsse, gemacht, und so seinem Worte Nach-
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 48. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/67>, abgerufen am 22.11.2024.
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