Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Dritter Abschnitt.
ta eipon exepneusen, nicht mit Paulus durch "bald nach-
dem er dieses gesprochen, verschied er" wiedergegeben
werden kann, und Johannes schon dem Worte nach einen
lezten, abschliessenden Ausruf geben will, welchen aber
der eine so, der andre anders dachte. Dem Lukas scheint
die für das Sterben Jesu gewöhnliche Formel: paredoke
to pneuma, zu einer ausdrücklichen Übergabe des Geistes
an Gott von Seiten Jesu geworden zu sein, und mit Rück-
icht auf die Stelle Ps. 31, 6. (LXX): (kurie) eis kheiras
sou parathesomai to pneuma mou -- eine Stelle, die sich we-
gen der genauen Ähnlichkeit dieses Psalms mit dem 22ten
leicht darbot, sich zu jenem Ruf ausgebildet zu haben.
Wogegen der Verfasser des vierten Evangeliums mehr aus
der Situation Jesu heraus ihm einen Ausruf geliehen zu
haben scheint, indem er ihn durch das tetelesai die Voll-
endung seines Werks, oder die Erfüllung sämmtlicher
Weissagungen (mit Ausnahme natürlich dessen, was sich
erst noch in der Auferstehung vollenden und erfüllen soll-
te) aussprechen lässt.

Doch nicht bloss diese lezten, sondern auch schon die
früheren Reden Jesu am Kreuz lassen sich nicht so, wie
man gemeiniglich glaubt, ineinanderschieben. Man zählt
gewöhnlich sieben Worte Jesu am Kreuze: allein so viele
hat kein einzelner Evangelist, sondern die beiden ersten
haben nur Eines: den Ruf eli, eli k. t. l.; Lukas hat drei:
die Bitte für die Feinde, die Verheissung an den Mitge-
kreuzigten, und die Übergabe des Geistes in des Vaters
Hände; Johannes hat gleichfalls drei, aber andere: die
Anrede an Mutter und Jünger, das dipso, und das tetele-
sai. Hier liessen sich die Fürbitte, die Verheissung, und
die Anempfehlung der Mutter wohl in solcher Aufeinan-
derfolge denken: aber das dipso und das eli verwickeln
sich bereits, indem nach beiden Ausrufungen das Gleiche,
die Tränkung mit Essig durch einen auf ein Rohr gesteck-
ton Schwamm, erfolgt sein soll. Nimmt man hiezu die

Dritter Abschnitt.
τα εἰπὼν ἐξέπνευσεν, nicht mit Paulus durch „bald nach-
dem er dieses gesprochen, verschied er“ wiedergegeben
werden kann, und Johannes schon dem Worte nach einen
lezten, abschlieſsenden Ausruf geben will, welchen aber
der eine so, der andre anders dachte. Dem Lukas scheint
die für das Sterben Jesu gewöhnliche Formel: παρέδωκε
τὸ πνεῦμα, zu einer ausdrücklichen Übergabe des Geistes
an Gott von Seiten Jesu geworden zu sein, und mit Rück-
icht auf die Stelle Ps. 31, 6. (LXX): (κύριε) εἰς χεῖράς
σου παραϑήσομαι τὸ πνεῦμά μου — eine Stelle, die sich we-
gen der genauen Ähnlichkeit dieses Psalms mit dem 22ten
leicht darbot, sich zu jenem Ruf ausgebildet zu haben.
Wogegen der Verfasser des vierten Evangeliums mehr aus
der Situation Jesu heraus ihm einen Ausruf geliehen zu
haben scheint, indem er ihn durch das τετέλεςαι die Voll-
endung seines Werks, oder die Erfüllung sämmtlicher
Weissagungen (mit Ausnahme natürlich dessen, was sich
erst noch in der Auferstehung vollenden und erfüllen soll-
te) aussprechen läſst.

Doch nicht bloſs diese lezten, sondern auch schon die
früheren Reden Jesu am Kreuz lassen sich nicht so, wie
man gemeiniglich glaubt, ineinanderschieben. Man zählt
gewöhnlich sieben Worte Jesu am Kreuze: allein so viele
hat kein einzelner Evangelist, sondern die beiden ersten
haben nur Eines: den Ruf ἠλὶ, ἠλὶ κ. τ. λ.; Lukas hat drei:
die Bitte für die Feinde, die Verheiſsung an den Mitge-
kreuzigten, und die Übergabe des Geistes in des Vaters
Hände; Johannes hat gleichfalls drei, aber andere: die
Anrede an Mutter und Jünger, das διψῶ, und das τετέλε-
ςαι. Hier lieſsen sich die Fürbitte, die Verheiſsung, und
die Anempfehlung der Mutter wohl in solcher Aufeinan-
derfolge denken: aber das διψῶ und das ἠλὶ verwickeln
sich bereits, indem nach beiden Ausrufungen das Gleiche,
die Tränkung mit Essig durch einen auf ein Rohr gesteck-
ton Schwamm, erfolgt sein soll. Nimmt man hiezu die

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0571" n="552"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Dritter Abschnitt</hi>.</fw><lb/><foreign xml:lang="ell">&#x03C4;&#x03B1; &#x03B5;&#x1F30;&#x03C0;&#x1F7C;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BE;&#x03AD;&#x03C0;&#x03BD;&#x03B5;&#x03C5;&#x03C3;&#x03B5;&#x03BD;</foreign>, nicht mit <hi rendition="#k">Paulus</hi> durch &#x201E;<hi rendition="#g">bald</hi> nach-<lb/>
dem er dieses gesprochen, verschied er&#x201C; wiedergegeben<lb/>
werden kann, und Johannes schon dem Worte nach einen<lb/>
lezten, abschlie&#x017F;senden Ausruf geben will, welchen aber<lb/>
der eine so, der andre anders dachte. Dem Lukas scheint<lb/>
die für das Sterben Jesu gewöhnliche Formel: <foreign xml:lang="ell">&#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03AD;&#x03B4;&#x03C9;&#x03BA;&#x03B5;<lb/>
&#x03C4;&#x1F78; &#x03C0;&#x03BD;&#x03B5;&#x1FE6;&#x03BC;&#x03B1;</foreign>, zu einer ausdrücklichen Übergabe des Geistes<lb/>
an Gott von Seiten Jesu geworden zu sein, und mit Rück-<lb/>
icht auf die Stelle Ps. 31, 6. (LXX): <foreign xml:lang="ell">(&#x03BA;&#x03CD;&#x03C1;&#x03B9;&#x03B5;) &#x03B5;&#x1F30;&#x03C2; &#x03C7;&#x03B5;&#x1FD6;&#x03C1;&#x03AC;&#x03C2;<lb/>
&#x03C3;&#x03BF;&#x03C5; &#x03C0;&#x03B1;&#x03C1;&#x03B1;&#x03D1;&#x03AE;&#x03C3;&#x03BF;&#x03BC;&#x03B1;&#x03B9; &#x03C4;&#x1F78; &#x03C0;&#x03BD;&#x03B5;&#x1FE6;&#x03BC;&#x03AC; &#x03BC;&#x03BF;&#x03C5;</foreign> &#x2014; eine Stelle, die sich we-<lb/>
gen der genauen Ähnlichkeit dieses Psalms mit dem 22ten<lb/>
leicht darbot, sich zu jenem Ruf ausgebildet zu haben.<lb/>
Wogegen der Verfasser des vierten Evangeliums mehr aus<lb/>
der Situation Jesu heraus ihm einen Ausruf geliehen zu<lb/>
haben scheint, indem er ihn durch das <foreign xml:lang="ell">&#x03C4;&#x03B5;&#x03C4;&#x03AD;&#x03BB;&#x03B5;&#x03C2;&#x03B1;&#x03B9;</foreign> die Voll-<lb/>
endung seines Werks, oder die Erfüllung sämmtlicher<lb/>
Weissagungen (mit Ausnahme natürlich dessen, was sich<lb/>
erst noch in der Auferstehung vollenden und erfüllen soll-<lb/>
te) aussprechen lä&#x017F;st.</p><lb/>
          <p>Doch nicht blo&#x017F;s diese lezten, sondern auch schon die<lb/>
früheren Reden Jesu am Kreuz lassen sich nicht so, wie<lb/>
man gemeiniglich glaubt, ineinanderschieben. Man zählt<lb/>
gewöhnlich sieben Worte Jesu am Kreuze: allein so viele<lb/>
hat kein einzelner Evangelist, sondern die beiden ersten<lb/>
haben nur Eines: den Ruf <foreign xml:lang="ell">&#x1F20;&#x03BB;&#x1F76;, &#x1F20;&#x03BB;&#x1F76; &#x03BA;. &#x03C4;. &#x03BB;.</foreign>; Lukas hat drei:<lb/>
die Bitte für die Feinde, die Verhei&#x017F;sung an den Mitge-<lb/>
kreuzigten, und die Übergabe des Geistes in des Vaters<lb/>
Hände; Johannes hat gleichfalls drei, aber andere: die<lb/>
Anrede an Mutter und Jünger, das <foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03B9;&#x03C8;&#x1FF6;</foreign>, und das &#x03C4;&#x03B5;&#x03C4;&#x03AD;&#x03BB;&#x03B5;-<lb/>
&#x03C2;&#x03B1;&#x03B9;. Hier lie&#x017F;sen sich die Fürbitte, die Verhei&#x017F;sung, und<lb/>
die Anempfehlung der Mutter wohl in solcher Aufeinan-<lb/>
derfolge denken: aber das <foreign xml:lang="ell">&#x03B4;&#x03B9;&#x03C8;&#x1FF6;</foreign> und das <foreign xml:lang="ell">&#x1F20;&#x03BB;&#x1F76;</foreign> verwickeln<lb/>
sich bereits, indem nach beiden Ausrufungen das Gleiche,<lb/>
die Tränkung mit Essig durch einen auf ein Rohr gesteck-<lb/>
ton Schwamm, erfolgt sein soll. Nimmt <choice><sic>mau</sic><corr>man</corr></choice> hiezu die<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[552/0571] Dritter Abschnitt. τα εἰπὼν ἐξέπνευσεν, nicht mit Paulus durch „bald nach- dem er dieses gesprochen, verschied er“ wiedergegeben werden kann, und Johannes schon dem Worte nach einen lezten, abschlieſsenden Ausruf geben will, welchen aber der eine so, der andre anders dachte. Dem Lukas scheint die für das Sterben Jesu gewöhnliche Formel: παρέδωκε τὸ πνεῦμα, zu einer ausdrücklichen Übergabe des Geistes an Gott von Seiten Jesu geworden zu sein, und mit Rück- icht auf die Stelle Ps. 31, 6. (LXX): (κύριε) εἰς χεῖράς σου παραϑήσομαι τὸ πνεῦμά μου — eine Stelle, die sich we- gen der genauen Ähnlichkeit dieses Psalms mit dem 22ten leicht darbot, sich zu jenem Ruf ausgebildet zu haben. Wogegen der Verfasser des vierten Evangeliums mehr aus der Situation Jesu heraus ihm einen Ausruf geliehen zu haben scheint, indem er ihn durch das τετέλεςαι die Voll- endung seines Werks, oder die Erfüllung sämmtlicher Weissagungen (mit Ausnahme natürlich dessen, was sich erst noch in der Auferstehung vollenden und erfüllen soll- te) aussprechen läſst. Doch nicht bloſs diese lezten, sondern auch schon die früheren Reden Jesu am Kreuz lassen sich nicht so, wie man gemeiniglich glaubt, ineinanderschieben. Man zählt gewöhnlich sieben Worte Jesu am Kreuze: allein so viele hat kein einzelner Evangelist, sondern die beiden ersten haben nur Eines: den Ruf ἠλὶ, ἠλὶ κ. τ. λ.; Lukas hat drei: die Bitte für die Feinde, die Verheiſsung an den Mitge- kreuzigten, und die Übergabe des Geistes in des Vaters Hände; Johannes hat gleichfalls drei, aber andere: die Anrede an Mutter und Jünger, das διψῶ, und das τετέλε- ςαι. Hier lieſsen sich die Fürbitte, die Verheiſsung, und die Anempfehlung der Mutter wohl in solcher Aufeinan- derfolge denken: aber das διψῶ und das ἠλὶ verwickeln sich bereits, indem nach beiden Ausrufungen das Gleiche, die Tränkung mit Essig durch einen auf ein Rohr gesteck- ton Schwamm, erfolgt sein soll. Nimmt man hiezu die

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/571
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 552. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/571>, abgerufen am 24.05.2024.