hannes gleichsam leztwillig übergeben, diesen somit an sei- ne Stelle gesezt, ihn zum vicarius Christi gemacht habe.
Ist die Anrede Jesu an die Mutter und den Jünger dem vierten Evangelium eigenthümlich: so findet sich um- gekehrt der Ausruf: eli, eli, lama sabakhthani; nur in den zwei ersten Evangelien (Matth. V. 46. Marc. V. 34.). Die- ser Ausruf und der innere Zustand, aus welchem er her- vorgegangen, wird, wie der Seelenkampf in Gethse- mane, von der kirchlichen Ansicht als ein Theil des stell- vertretenden Leidens Jesu gefasst. Da man sich jedoch auch hier das Auffallende nicht verbergen konnte, welches darin liegt, dass das bloss äusserliche, körperliche Leiden Jesum bis zum Gefühl der Gottverlassenheit niedergedrückt haben sollte, während es vor und nach ihm solche gege- ben hat, welche unter ebenso grossen Martern doch die Fassung und Stärke des Geistes beibehalten haben: so hat die kirchliche Ansicht auch hier zu dem körperlichen Lei- den als den eigentlichen Grund jener Stimmung Jesu ein Zurückweichen Gottes von seinem Innern, eine Empfin- dung des göttlichen Zorns, hinzugefügt, was an der Stelle der Menschen, die es eigentlich als Strafe verdient hätten, über ihn verhängt worden sei 35). Wie aber bei den kirch- lichen Voraussetzungen über die Person Christi ein Zurück- weichen Gottes von seinem Innern gedacht werden kann, mögen die Vertheidiger dieser Ansicht selbst zusehen. Soll es die menschliche Natur in ihm gewesen sein, die sich so verlassen fühlte: so wäre ihre Einheit mit der göttlichen unterbrochen, also die Grundlage der Persönlichkeit Chri- sti nach jenem System aufgehoben gewesen; oder die gött- liche: so hätte sich die zweite Person in der Gottheit von der ersten losgerissen; der aus beiden Naturen bestehen- de Gottmensch aber kann es ebensowenig gewesen sein,
35) s. Calvin, Comm. in harm. evv. zu Matth. 27, 46. Olshau- sen z. d. St.
Dritter Abschnitt.
hannes gleichsam leztwillig übergeben, diesen somit an sei- ne Stelle gesezt, ihn zum vicarius Christi gemacht habe.
Ist die Anrede Jesu an die Mutter und den Jünger dem vierten Evangelium eigenthümlich: so findet sich um- gekehrt der Ausruf: ἠλὶ, ἠλὶ, λαμὰ σαβαχϑανί; nur in den zwei ersten Evangelien (Matth. V. 46. Marc. V. 34.). Die- ser Ausruf und der innere Zustand, aus welchem er her- vorgegangen, wird, wie der Seelenkampf in Gethse- mane, von der kirchlichen Ansicht als ein Theil des stell- vertretenden Leidens Jesu gefaſst. Da man sich jedoch auch hier das Auffallende nicht verbergen konnte, welches darin liegt, daſs das bloſs äusserliche, körperliche Leiden Jesum bis zum Gefühl der Gottverlassenheit niedergedrückt haben sollte, während es vor und nach ihm solche gege- ben hat, welche unter ebenso groſsen Martern doch die Fassung und Stärke des Geistes beibehalten haben: so hat die kirchliche Ansicht auch hier zu dem körperlichen Lei- den als den eigentlichen Grund jener Stimmung Jesu ein Zurückweichen Gottes von seinem Innern, eine Empfin- dung des göttlichen Zorns, hinzugefügt, was an der Stelle der Menschen, die es eigentlich als Strafe verdient hätten, über ihn verhängt worden sei 35). Wie aber bei den kirch- lichen Voraussetzungen über die Person Christi ein Zurück- weichen Gottes von seinem Innern gedacht werden kann, mögen die Vertheidiger dieser Ansicht selbst zusehen. Soll es die menschliche Natur in ihm gewesen sein, die sich so verlassen fühlte: so wäre ihre Einheit mit der göttlichen unterbrochen, also die Grundlage der Persönlichkeit Chri- sti nach jenem System aufgehoben gewesen; oder die gött- liche: so hätte sich die zweite Person in der Gottheit von der ersten losgerissen; der aus beiden Naturen bestehen- de Gottmensch aber kann es ebensowenig gewesen sein,
35) s. Calvin, Comm. in harm. evv. zu Matth. 27, 46. Olshau- sen z. d. St.
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Dritter Abschnitt.
hannes gleichsam leztwillig übergeben, diesen somit an sei-
ne Stelle gesezt, ihn zum vicarius Christi gemacht habe.
Ist die Anrede Jesu an die Mutter und den Jünger
dem vierten Evangelium eigenthümlich: so findet sich um-
gekehrt der Ausruf: ἠλὶ, ἠλὶ, λαμὰ σαβαχϑανί; nur in den
zwei ersten Evangelien (Matth. V. 46. Marc. V. 34.). Die-
ser Ausruf und der innere Zustand, aus welchem er her-
vorgegangen, wird, wie der Seelenkampf in Gethse-
mane, von der kirchlichen Ansicht als ein Theil des stell-
vertretenden Leidens Jesu gefaſst. Da man sich jedoch
auch hier das Auffallende nicht verbergen konnte, welches
darin liegt, daſs das bloſs äusserliche, körperliche Leiden
Jesum bis zum Gefühl der Gottverlassenheit niedergedrückt
haben sollte, während es vor und nach ihm solche gege-
ben hat, welche unter ebenso groſsen Martern doch die
Fassung und Stärke des Geistes beibehalten haben: so hat
die kirchliche Ansicht auch hier zu dem körperlichen Lei-
den als den eigentlichen Grund jener Stimmung Jesu ein
Zurückweichen Gottes von seinem Innern, eine Empfin-
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der Menschen, die es eigentlich als Strafe verdient hätten,
über ihn verhängt worden sei 35). Wie aber bei den kirch-
lichen Voraussetzungen über die Person Christi ein Zurück-
weichen Gottes von seinem Innern gedacht werden kann,
mögen die Vertheidiger dieser Ansicht selbst zusehen. Soll
es die menschliche Natur in ihm gewesen sein, die sich so
verlassen fühlte: so wäre ihre Einheit mit der göttlichen
unterbrochen, also die Grundlage der Persönlichkeit Chri-
sti nach jenem System aufgehoben gewesen; oder die gött-
liche: so hätte sich die zweite Person in der Gottheit von
der ersten losgerissen; der aus beiden Naturen bestehen-
de Gottmensch aber kann es ebensowenig gewesen sein,
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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 548. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/567>, abgerufen am 22.11.2024.
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