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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 128.
dern Ruf Jesu erfolgt. So bekämen wir im Ganzen fünf
Tränkungen, und könnten wenigstens nicht wohl begreifen,
warum Jesus, nachdem ihm schon dreimal Essig zum Mun-
de geführt war, noch zum viertenmal zu trinken verlangt
hätte. Müssen wir demnach auf Vereinfachung bedacht
sein: so ist aber keineswegs nur die Tränkung bei den
zwei ersten Evangelisten und dem vierten wegen des Zu-
sammentreffens der Zeit und der Art der Darreichung für
Eine zu erklären, sondern ebenso die des Markus (und
mittelst dieser die übrigen) mit der des Lukas wegen Gleich-
heit der höhnischen Absicht. So bleiben uns zwei Trän-
kungen, die eine vor der Kreuzigung, die andre nach der-
selben, und beide haben, die erstere an der jüdischen Sit-
te mit dem betäubenden Trank für Hinzurichtende, die an-
dre an der römischen, vermöge welcher die Soldaten zu
Expeditionen, dergleichen auch die Vollziehung der Hin-
richtung eine war, ihre posca mit sich zu führen pflegten,
einen historischen, an der Weissagung Ps. 69. aber einen
prophetischen Haltpunkt. Beide Haltpunkte wirken entge-
gengesezt: der prophetische erregt Verdacht, ob auch wirk-
lich der Erzählung etwas Geschichtliches zum Grunde lie-
ge; der historische macht es zweifelhaft, dass die ganze
Sache nur aus Weissagungen sollte herausgesponnen sein.

Doch überblicken wir noch einmal die verschiedenen
Berichte, so sind ihre Abweichungen ganz von der Art,
wie sie aus verschiedener Anwendung der Psalmstelle ent-
stehen konnten. Da in derselben von Galleessen und
Essigtrinken die Rede war, so scheint die Sage zunächst
das Erstere, als undenkbar, bei Seite gelassen, und die
Erzählung gebildet zu haben, die wir bei allen vier Evan-
gelisten finden, dass Jesus am Kreuz mit Essig getränkt
worden sei. Diess konnte man entweder als Handlung des
Mitleids, wie Matthäus und Johannes, oder des Spottes,
mit Markus und Lukas, betrachten. Da auf diese Weise
zwar das epotisan me oxos, noch nicht aber auch das

Drittes Kapitel. §. 128.
dern Ruf Jesu erfolgt. So bekämen wir im Ganzen fünf
Tränkungen, und könnten wenigstens nicht wohl begreifen,
warum Jesus, nachdem ihm schon dreimal Essig zum Mun-
de geführt war, noch zum viertenmal zu trinken verlangt
hätte. Müssen wir demnach auf Vereinfachung bedacht
sein: so ist aber keineswegs nur die Tränkung bei den
zwei ersten Evangelisten und dem vierten wegen des Zu-
sammentreffens der Zeit und der Art der Darreichung für
Eine zu erklären, sondern ebenso die des Markus (und
mittelst dieser die übrigen) mit der des Lukas wegen Gleich-
heit der höhnischen Absicht. So bleiben uns zwei Trän-
kungen, die eine vor der Kreuzigung, die andre nach der-
selben, und beide haben, die erstere an der jüdischen Sit-
te mit dem betäubenden Trank für Hinzurichtende, die an-
dre an der römischen, vermöge welcher die Soldaten zu
Expeditionen, dergleichen auch die Vollziehung der Hin-
richtung eine war, ihre posca mit sich zu führen pflegten,
einen historischen, an der Weissagung Ps. 69. aber einen
prophetischen Haltpunkt. Beide Haltpunkte wirken entge-
gengesezt: der prophetische erregt Verdacht, ob auch wirk-
lich der Erzählung etwas Geschichtliches zum Grunde lie-
ge; der historische macht es zweifelhaft, daſs die ganze
Sache nur aus Weissagungen sollte herausgesponnen sein.

Doch überblicken wir noch einmal die verschiedenen
Berichte, so sind ihre Abweichungen ganz von der Art,
wie sie aus verschiedener Anwendung der Psalmstelle ent-
stehen konnten. Da in derselben von Galleessen und
Essigtrinken die Rede war, so scheint die Sage zunächst
das Erstere, als undenkbar, bei Seite gelassen, und die
Erzählung gebildet zu haben, die wir bei allen vier Evan-
gelisten finden, daſs Jesus am Kreuz mit Essig getränkt
worden sei. Dieſs konnte man entweder als Handlung des
Mitleids, wie Matthäus und Johannes, oder des Spottes,
mit Markus und Lukas, betrachten. Da auf diese Weise
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[535/0554] Drittes Kapitel. §. 128. dern Ruf Jesu erfolgt. So bekämen wir im Ganzen fünf Tränkungen, und könnten wenigstens nicht wohl begreifen, warum Jesus, nachdem ihm schon dreimal Essig zum Mun- de geführt war, noch zum viertenmal zu trinken verlangt hätte. Müssen wir demnach auf Vereinfachung bedacht sein: so ist aber keineswegs nur die Tränkung bei den zwei ersten Evangelisten und dem vierten wegen des Zu- sammentreffens der Zeit und der Art der Darreichung für Eine zu erklären, sondern ebenso die des Markus (und mittelst dieser die übrigen) mit der des Lukas wegen Gleich- heit der höhnischen Absicht. So bleiben uns zwei Trän- kungen, die eine vor der Kreuzigung, die andre nach der- selben, und beide haben, die erstere an der jüdischen Sit- te mit dem betäubenden Trank für Hinzurichtende, die an- dre an der römischen, vermöge welcher die Soldaten zu Expeditionen, dergleichen auch die Vollziehung der Hin- richtung eine war, ihre posca mit sich zu führen pflegten, einen historischen, an der Weissagung Ps. 69. aber einen prophetischen Haltpunkt. Beide Haltpunkte wirken entge- gengesezt: der prophetische erregt Verdacht, ob auch wirk- lich der Erzählung etwas Geschichtliches zum Grunde lie- ge; der historische macht es zweifelhaft, daſs die ganze Sache nur aus Weissagungen sollte herausgesponnen sein. Doch überblicken wir noch einmal die verschiedenen Berichte, so sind ihre Abweichungen ganz von der Art, wie sie aus verschiedener Anwendung der Psalmstelle ent- stehen konnten. Da in derselben von Galleessen und Essigtrinken die Rede war, so scheint die Sage zunächst das Erstere, als undenkbar, bei Seite gelassen, und die Erzählung gebildet zu haben, die wir bei allen vier Evan- gelisten finden, daſs Jesus am Kreuz mit Essig getränkt worden sei. Dieſs konnte man entweder als Handlung des Mitleids, wie Matthäus und Johannes, oder des Spottes, mit Markus und Lukas, betrachten. Da auf diese Weise zwar das ἐπότισάν με ὄξος, noch nicht aber auch das

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 535. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/554>, abgerufen am 22.11.2024.