Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

Bild:
<< vorherige Seite

Zweiter Abschnitt.
der Ungerechtigkeit anzuklagen, albern wäre 31), -- diess
ist wieder die auf orthodoxem Standpunkt unerlaubteste
Vermischung des Standes der Erniedrigung Christi mit dem
seiner Erhöhung, ein schwärmerisches Hinausgehen über
das besonnene paulinische genomenon upo nomon (Gal. 4, 4.)
und eauton ekenose (Phil. 2, 7.), welches uns Jesum völlig
entfremdet, indem es ihn auch in Bezug auf die sittliche
Beurtheilung seiner Handlungen über das Maass des Mensch-
lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom
Standpunkt der natürlichen Erklärung vorausgesezte Hin-
einrennen der Dämonischen unter die Schweine und deren
dadurch herbeigeführten Untergang als etwas Jesu selbst
Unerwartetes, für das er also auch nicht verantwortlich
sei, darzustellen 32): im offensten Widerspruch gegen de
evangelische Darstellung, welche Jesum die Erfolge, sofern
er sie auch nicht geradezu bewirkt, doch auf's Bestimmte-
ste vorhersehen lässt 33). Es scheint daher auf Jesu die
Beschuldigung eines Eingriffs in fremdes Eigenthum liegen
zu bleiben, wie denn Gegner des Christenthums diese Er-
zählung sich längst gehörig zu Nutze gemacht haben 34);
wenigstens wäre Pythagoras in ähnlichem Falle weit billi-
ger verfahren, da er die Fische, deren Loslassung er von
den Fischern, die sie gefangen hatten, auswirkte, ihnen
baar bezahlt haben soll 35).

Bei diesem Gewebe von Schwierigkeiten, welche na-
mentlich der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende
Erzählung bringt, ist es kein Wunder, dass man in Bezug
auf diese Anekdote früher als bei den meisten andern aus
dem öffentlichen Leben Jesu angefangen hat, die durch-
gängige historische Realität der Erzählung zu bezweifeln,

31) Olshausen, a. a. O.
32) Paulus.
33) s. Ullmann.
34) z. B. Woolston, Disc. 1, S. 32 ff.
35) Jamblich. vita Pythag. no. 36. ed. Kiessling.

Zweiter Abschnitt.
der Ungerechtigkeit anzuklagen, albern wäre 31), — dieſs
ist wieder die auf orthodoxem Standpunkt unerlaubteste
Vermischung des Standes der Erniedrigung Christi mit dem
seiner Erhöhung, ein schwärmerisches Hinausgehen über
das besonnene paulinische γενόμενον ὑπὸ νόμον (Gal. 4, 4.)
und ἑαυτὸν ἐκένωσε (Phil. 2, 7.), welches uns Jesum völlig
entfremdet, indem es ihn auch in Bezug auf die sittliche
Beurtheilung seiner Handlungen über das Maaſs des Mensch-
lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom
Standpunkt der natürlichen Erklärung vorausgesezte Hin-
einrennen der Dämonischen unter die Schweine und deren
dadurch herbeigeführten Untergang als etwas Jesu selbst
Unerwartetes, für das er also auch nicht verantwortlich
sei, darzustellen 32): im offensten Widerspruch gegen de
evangelische Darstellung, welche Jesum die Erfolge, sofern
er sie auch nicht geradezu bewirkt, doch auf's Bestimmte-
ste vorhersehen läſst 33). Es scheint daher auf Jesu die
Beschuldigung eines Eingriffs in fremdes Eigenthum liegen
zu bleiben, wie denn Gegner des Christenthums diese Er-
zählung sich längst gehörig zu Nutze gemacht haben 34);
wenigstens wäre Pythagoras in ähnlichem Falle weit billi-
ger verfahren, da er die Fische, deren Loslassung er von
den Fischern, die sie gefangen hatten, auswirkte, ihnen
baar bezahlt haben soll 35).

Bei diesem Gewebe von Schwierigkeiten, welche na-
mentlich der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende
Erzählung bringt, ist es kein Wunder, daſs man in Bezug
auf diese Anekdote früher als bei den meisten andern aus
dem öffentlichen Leben Jesu angefangen hat, die durch-
gängige historische Realität der Erzählung zu bezweifeln,

31) Olshausen, a. a. O.
32) Paulus.
33) s. Ullmann.
34) z. B. Woolston, Disc. 1, S. 32 ff.
35) Jamblich. vita Pythag. no. 36. ed. Kiessling.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0055" n="36"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Zweiter Abschnitt</hi>.</fw><lb/>
der Ungerechtigkeit anzuklagen, albern wäre <note place="foot" n="31)"><hi rendition="#k">Olshausen</hi>, a. a. O.</note>, &#x2014; die&#x017F;s<lb/>
ist wieder die auf orthodoxem Standpunkt unerlaubteste<lb/>
Vermischung des Standes der Erniedrigung Christi mit dem<lb/>
seiner Erhöhung, ein schwärmerisches Hinausgehen über<lb/>
das besonnene paulinische <quote xml:lang="ell">&#x03B3;&#x03B5;&#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03B5;&#x03BD;&#x03BF;&#x03BD; &#x1F51;&#x03C0;&#x1F78; &#x03BD;&#x03CC;&#x03BC;&#x03BF;&#x03BD;</quote> (Gal. 4, 4.)<lb/>
und <quote xml:lang="ell">&#x1F11;&#x03B1;&#x03C5;&#x03C4;&#x1F78;&#x03BD; &#x1F10;&#x03BA;&#x03AD;&#x03BD;&#x03C9;&#x03C3;&#x03B5;</quote> (Phil. 2, 7.), welches uns Jesum völlig<lb/>
entfremdet, indem es ihn auch in Bezug auf die sittliche<lb/>
Beurtheilung seiner Handlungen über das Maa&#x017F;s des Mensch-<lb/>
lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom<lb/>
Standpunkt der natürlichen Erklärung vorausgesezte Hin-<lb/>
einrennen der Dämonischen unter die Schweine und deren<lb/>
dadurch herbeigeführten Untergang als etwas Jesu selbst<lb/>
Unerwartetes, für das er also auch nicht verantwortlich<lb/>
sei, darzustellen <note place="foot" n="32)"><hi rendition="#k">Paulus</hi>.</note>: im offensten Widerspruch gegen <hi rendition="#g">de</hi><lb/>
evangelische Darstellung, welche Jesum die Erfolge, sofern<lb/>
er sie auch nicht geradezu bewirkt, doch auf's Bestimmte-<lb/>
ste vorhersehen lä&#x017F;st <note place="foot" n="33)">s. <hi rendition="#k">Ullmann</hi>.</note>. Es scheint daher auf Jesu die<lb/>
Beschuldigung eines Eingriffs in fremdes Eigenthum liegen<lb/>
zu bleiben, wie denn Gegner des Christenthums diese Er-<lb/>
zählung sich längst gehörig zu Nutze gemacht haben <note place="foot" n="34)">z. B. <hi rendition="#k">Woolston</hi>, Disc. 1, S. 32 ff.</note>;<lb/>
wenigstens wäre Pythagoras in ähnlichem Falle weit billi-<lb/>
ger verfahren, da er die Fische, deren Loslassung er von<lb/>
den Fischern, die sie gefangen hatten, auswirkte, ihnen<lb/>
baar bezahlt haben soll <note place="foot" n="35)">Jamblich. vita Pythag. no. 36. ed. Kiessling.</note>.</p><lb/>
          <p>Bei diesem Gewebe von Schwierigkeiten, welche na-<lb/>
mentlich der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende<lb/>
Erzählung bringt, ist es kein Wunder, da&#x017F;s man in Bezug<lb/>
auf diese Anekdote früher als bei den meisten andern aus<lb/>
dem öffentlichen Leben Jesu angefangen hat, die durch-<lb/>
gängige historische Realität der Erzählung zu bezweifeln,<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[36/0055] Zweiter Abschnitt. der Ungerechtigkeit anzuklagen, albern wäre 31), — dieſs ist wieder die auf orthodoxem Standpunkt unerlaubteste Vermischung des Standes der Erniedrigung Christi mit dem seiner Erhöhung, ein schwärmerisches Hinausgehen über das besonnene paulinische γενόμενον ὑπὸ νόμον (Gal. 4, 4.) und ἑαυτὸν ἐκένωσε (Phil. 2, 7.), welches uns Jesum völlig entfremdet, indem es ihn auch in Bezug auf die sittliche Beurtheilung seiner Handlungen über das Maaſs des Mensch- lichen hinaushebt. Es blieb daher nur noch übrig, das vom Standpunkt der natürlichen Erklärung vorausgesezte Hin- einrennen der Dämonischen unter die Schweine und deren dadurch herbeigeführten Untergang als etwas Jesu selbst Unerwartetes, für das er also auch nicht verantwortlich sei, darzustellen 32): im offensten Widerspruch gegen de evangelische Darstellung, welche Jesum die Erfolge, sofern er sie auch nicht geradezu bewirkt, doch auf's Bestimmte- ste vorhersehen läſst 33). Es scheint daher auf Jesu die Beschuldigung eines Eingriffs in fremdes Eigenthum liegen zu bleiben, wie denn Gegner des Christenthums diese Er- zählung sich längst gehörig zu Nutze gemacht haben 34); wenigstens wäre Pythagoras in ähnlichem Falle weit billi- ger verfahren, da er die Fische, deren Loslassung er von den Fischern, die sie gefangen hatten, auswirkte, ihnen baar bezahlt haben soll 35). Bei diesem Gewebe von Schwierigkeiten, welche na- mentlich der Punkt mit den Schweinen in die vorliegende Erzählung bringt, ist es kein Wunder, daſs man in Bezug auf diese Anekdote früher als bei den meisten andern aus dem öffentlichen Leben Jesu angefangen hat, die durch- gängige historische Realität der Erzählung zu bezweifeln, 31) Olshausen, a. a. O. 32) Paulus. 33) s. Ullmann. 34) z. B. Woolston, Disc. 1, S. 32 ff. 35) Jamblich. vita Pythag. no. 36. ed. Kiessling.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/55
Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 36. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/55>, abgerufen am 28.11.2024.