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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 127.
sei. So ungemein viel aber konnte nicht sowohl dem Pi-
latus daran gelegen sein, seine Unschuld an der Hinrich-
tung Jesu zu bezeugen, als vielmehr den Christen daran,
auf diese Weise die Unschuld ihres Messias bezeugen zu
lassen; woraus der Verdacht erwächst, dass vielleicht erst
ihnen die Handwaschung des Pilatus ihre Entstehung ver-
danken möge. Diese Vermuthung bestätigt sich, wenn wir
den Ausspruch erwägen, mit welchem Pilatus jene sym-
bolische Handlung begleitet haben soll: athoos eimi apo
tou aimatos tou dikaiou toutou. Denn, "dass der Richter öf-
fentlich und emphatisch den, welchen er doch der härte-
sten Bestrafung hingab, einen dikaios genannt haben soll-
te", findet auch Paulus so in sich widersprechend, dass
er hier, gegen die sonstige Weise seiner Auslegung, an-
nimmt, der Erzähler interpretire selbst, was Pilatus seiner
Meinung nach bei der Handwaschung gedacht haben müs-
se. Zu verwundern ist, dass ihm das ebenso Unwahrscheiu-
liche nicht auffällt, was den Juden bei dieser Gelegenheit
in den Mund gelegt ist. Nachdem nämlich Pilatus sich
für unschuldig an dem Blut Jesu erklärt, und durch das
hinzugefügte: umeis opsesthe, die Verantwortung auf die
Juden übergewälzt hatte, soll nach Matthäus pas o laos
gerufen haben: to aima autou eph emas kai epi ta tekna
emon. Allein diess ist doch augenscheinlich nur vom Stand-
punkt der Christen aus gesprochen, die in dem Unglück,
welches bald nach Jesu Tode in immer verstärkten Schlä-
gen über die jüdische Nation hereinbrach, nichts Andres,
als die Blutschuld von der Hinrichtung Jesu her erblick-
ten: so dass also diese ganze dem ersten Evangelium ei-
genthümliche Episode im höchsten Grade verdächtig ist.

Nach Matthäus und Markus liess nun Pilatus Jesum
geisseln, um ihn sofort zur Kreuzigung abführen zu las-
sen. Die Geisselung erscheint hier ganz so, wie nach rö-
mischer Sitte das virgis caedere dem securi percutere,

Drittes Kapitel. §. 127.
sei. So ungemein viel aber konnte nicht sowohl dem Pi-
latus daran gelegen sein, seine Unschuld an der Hinrich-
tung Jesu zu bezeugen, als vielmehr den Christen daran,
auf diese Weise die Unschuld ihres Messias bezeugen zu
lassen; woraus der Verdacht erwächst, daſs vielleicht erst
ihnen die Handwaschung des Pilatus ihre Entstehung ver-
danken möge. Diese Vermuthung bestätigt sich, wenn wir
den Ausspruch erwägen, mit welchem Pilatus jene sym-
bolische Handlung begleitet haben soll: ἀϑῶός εἰμι ἀπὸ
τοῦ αἵματος τοῦ δικαίου τουτου. Denn, „daſs der Richter öf-
fentlich und emphatisch den, welchen er doch der härte-
sten Bestrafung hingab, einen δίκαιος genannt haben soll-
te“, findet auch Paulus so in sich widersprechend, daſs
er hier, gegen die sonstige Weise seiner Auslegung, an-
nimmt, der Erzähler interpretire selbst, was Pilatus seiner
Meinung nach bei der Handwaschung gedacht haben müs-
se. Zu verwundern ist, daſs ihm das ebenso Unwahrscheiu-
liche nicht auffällt, was den Juden bei dieser Gelegenheit
in den Mund gelegt ist. Nachdem nämlich Pilatus sich
für unschuldig an dem Blut Jesu erklärt, und durch das
hinzugefügte: ὑμεῖς ὄψεσϑε, die Verantwortung auf die
Juden übergewälzt hatte, soll nach Matthäus πᾶς ὁ λαὸς
gerufen haben: τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ̕ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα
ἡμῶν. Allein dieſs ist doch augenscheinlich nur vom Stand-
punkt der Christen aus gesprochen, die in dem Unglück,
welches bald nach Jesu Tode in immer verstärkten Schlä-
gen über die jüdische Nation hereinbrach, nichts Andres,
als die Blutschuld von der Hinrichtung Jesu her erblick-
ten: so daſs also diese ganze dem ersten Evangelium ei-
genthümliche Episode im höchsten Grade verdächtig ist.

Nach Matthäus und Markus lieſs nun Pilatus Jesum
geisseln, um ihn sofort zur Kreuzigung abführen zu las-
sen. Die Geisselung erscheint hier ganz so, wie nach rö-
mischer Sitte das virgis caedere dem securi percutere,

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[523/0542] Drittes Kapitel. §. 127. sei. So ungemein viel aber konnte nicht sowohl dem Pi- latus daran gelegen sein, seine Unschuld an der Hinrich- tung Jesu zu bezeugen, als vielmehr den Christen daran, auf diese Weise die Unschuld ihres Messias bezeugen zu lassen; woraus der Verdacht erwächst, daſs vielleicht erst ihnen die Handwaschung des Pilatus ihre Entstehung ver- danken möge. Diese Vermuthung bestätigt sich, wenn wir den Ausspruch erwägen, mit welchem Pilatus jene sym- bolische Handlung begleitet haben soll: ἀϑῶός εἰμι ἀπὸ τοῦ αἵματος τοῦ δικαίου τουτου. Denn, „daſs der Richter öf- fentlich und emphatisch den, welchen er doch der härte- sten Bestrafung hingab, einen δίκαιος genannt haben soll- te“, findet auch Paulus so in sich widersprechend, daſs er hier, gegen die sonstige Weise seiner Auslegung, an- nimmt, der Erzähler interpretire selbst, was Pilatus seiner Meinung nach bei der Handwaschung gedacht haben müs- se. Zu verwundern ist, daſs ihm das ebenso Unwahrscheiu- liche nicht auffällt, was den Juden bei dieser Gelegenheit in den Mund gelegt ist. Nachdem nämlich Pilatus sich für unschuldig an dem Blut Jesu erklärt, und durch das hinzugefügte: ὑμεῖς ὄψεσϑε, die Verantwortung auf die Juden übergewälzt hatte, soll nach Matthäus πᾶς ὁ λαὸς gerufen haben: τὸ αἷμα αὐτοῦ ἐφ̕ ἡμᾶς καὶ ἐπὶ τὰ τέκνα ἡμῶν. Allein dieſs ist doch augenscheinlich nur vom Stand- punkt der Christen aus gesprochen, die in dem Unglück, welches bald nach Jesu Tode in immer verstärkten Schlä- gen über die jüdische Nation hereinbrach, nichts Andres, als die Blutschuld von der Hinrichtung Jesu her erblick- ten: so daſs also diese ganze dem ersten Evangelium ei- genthümliche Episode im höchsten Grade verdächtig ist. Nach Matthäus und Markus lieſs nun Pilatus Jesum geisseln, um ihn sofort zur Kreuzigung abführen zu las- sen. Die Geisselung erscheint hier ganz so, wie nach rö- mischer Sitte das virgis caedere dem securi percutere,

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 523. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/542>, abgerufen am 22.11.2024.