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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Drittes Kapitel. §. 127.
Spotte gewendet, und endlich Jesum in einem Prachtgewand
zu Pilatus zurückgeschickt habe (23, 4 ff.). Diese Erzäh-
lung des Lukas hat, sowohl in ihr selbst, als in ihrem
Verhältniss zu den übrigen Evangelien, mehreres Befremd-
liche. Gehörte wirklich Jesus als Galiläer unter die Ge-
richtsbarkeit des Herodes, wie Pilatus durch die Übergabe
des Beklagten an ihn anzuerkennen scheint: wie kam es,
dass Jesus, nicht nur der sündlose des orthodoxen Systems,
sondern auch der gegen die bestehende Obrigkeit unter-
würfige der Geschichte vom Zinsgroschen, ihm die schul-
dige Antwort versagte? wie, dass ihn Herodes ohne Wei-
teres wieder von seinem Forum zurückschickte? Mit Ols-
hausen
zu sagen, es habe sich im Verhör bei Herodes er-
geben, dass Jesus nicht in Nazaret und Galiläa, sondern
in Bethlehem, also in Judäa, geboren war, ist theils eine
unerlaubte Bezugnahme auf die Geburtsgeschichte, von de-
ren Angaben sich im ganzen seitherigen Verlauf des Lu-
kasevangeliums keine Spur mehr gefunden hat, theils wür-
de wohl eine so ganz zufällige Geburt in Judäa, wie sie
Lukas darstellt, während die Eltern Jesu vor- und nachher,
und auch Jesus selber, in Galiläa ansässig blieben, Jesum
zu keinem Judäer gemacht haben; hauptsächlien aber
muss man fragen, durch wen denn die judäische Abkunft
Jesu an den Tag gekommen sein soll, da es von Jesu heisst,
er habe keine Antwort gegeben, den Juden aber jene Ab-
kunft nach Allem, was wir wissen, unbekannt war? Eher
mag man das Stillschweigen Jesu aus der unwürdigen, nicht
den Ernst des Richters, sondern blosse Neugier verrathen-
den Art der Fragen des Herodes, und die Zurücksendung
an Pilatus daraus erklären, dass doch nicht allein die Ver-
haftung, sondern auch ein Theil der Wirksamkeit Jesu in
das Gebiet des Pilatus gefallen war. Warum aber berich-
ten die übrigen Evangelisten von dieser ganzen Zwischen-
scene nichts? Namentlich wenn man den Verfasser des
vierten Evangeliums als den Apostel Johannes sich denkt,

Drittes Kapitel. §. 127.
Spotte gewendet, und endlich Jesum in einem Prachtgewand
zu Pilatus zurückgeschickt habe (23, 4 ff.). Diese Erzäh-
lung des Lukas hat, sowohl in ihr selbst, als in ihrem
Verhältniſs zu den übrigen Evangelien, mehreres Befremd-
liche. Gehörte wirklich Jesus als Galiläer unter die Ge-
richtsbarkeit des Herodes, wie Pilatus durch die Übergabe
des Beklagten an ihn anzuerkennen scheint: wie kam es,
daſs Jesus, nicht nur der sündlose des orthodoxen Systems,
sondern auch der gegen die bestehende Obrigkeit unter-
würfige der Geschichte vom Zinsgroschen, ihm die schul-
dige Antwort versagte? wie, daſs ihn Herodes ohne Wei-
teres wieder von seinem Forum zurückschickte? Mit Ols-
hausen
zu sagen, es habe sich im Verhör bei Herodes er-
geben, daſs Jesus nicht in Nazaret und Galiläa, sondern
in Bethlehem, also in Judäa, geboren war, ist theils eine
unerlaubte Bezugnahme auf die Geburtsgeschichte, von de-
ren Angaben sich im ganzen seitherigen Verlauf des Lu-
kasevangeliums keine Spur mehr gefunden hat, theils wür-
de wohl eine so ganz zufällige Geburt in Judäa, wie sie
Lukas darstellt, während die Eltern Jesu vor- und nachher,
und auch Jesus selber, in Galiläa ansässig blieben, Jesum
zu keinem Judäer gemacht haben; hauptsächlien aber
muſs man fragen, durch wen denn die judäische Abkunft
Jesu an den Tag gekommen sein soll, da es von Jesu heiſst,
er habe keine Antwort gegeben, den Juden aber jene Ab-
kunft nach Allem, was wir wissen, unbekannt war? Eher
mag man das Stillschweigen Jesu aus der unwürdigen, nicht
den Ernst des Richters, sondern bloſse Neugier verrathen-
den Art der Fragen des Herodes, und die Zurücksendung
an Pilatus daraus erklären, daſs doch nicht allein die Ver-
haftung, sondern auch ein Theil der Wirksamkeit Jesu in
das Gebiet des Pilatus gefallen war. Warum aber berich-
ten die übrigen Evangelisten von dieser ganzen Zwischen-
scene nichts? Namentlich wenn man den Verfasser des
vierten Evangeliums als den Apostel Johannes sich denkt,

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[517/0536] Drittes Kapitel. §. 127. Spotte gewendet, und endlich Jesum in einem Prachtgewand zu Pilatus zurückgeschickt habe (23, 4 ff.). Diese Erzäh- lung des Lukas hat, sowohl in ihr selbst, als in ihrem Verhältniſs zu den übrigen Evangelien, mehreres Befremd- liche. Gehörte wirklich Jesus als Galiläer unter die Ge- richtsbarkeit des Herodes, wie Pilatus durch die Übergabe des Beklagten an ihn anzuerkennen scheint: wie kam es, daſs Jesus, nicht nur der sündlose des orthodoxen Systems, sondern auch der gegen die bestehende Obrigkeit unter- würfige der Geschichte vom Zinsgroschen, ihm die schul- dige Antwort versagte? wie, daſs ihn Herodes ohne Wei- teres wieder von seinem Forum zurückschickte? Mit Ols- hausen zu sagen, es habe sich im Verhör bei Herodes er- geben, daſs Jesus nicht in Nazaret und Galiläa, sondern in Bethlehem, also in Judäa, geboren war, ist theils eine unerlaubte Bezugnahme auf die Geburtsgeschichte, von de- ren Angaben sich im ganzen seitherigen Verlauf des Lu- kasevangeliums keine Spur mehr gefunden hat, theils wür- de wohl eine so ganz zufällige Geburt in Judäa, wie sie Lukas darstellt, während die Eltern Jesu vor- und nachher, und auch Jesus selber, in Galiläa ansässig blieben, Jesum zu keinem Judäer gemacht haben; hauptsächlien aber muſs man fragen, durch wen denn die judäische Abkunft Jesu an den Tag gekommen sein soll, da es von Jesu heiſst, er habe keine Antwort gegeben, den Juden aber jene Ab- kunft nach Allem, was wir wissen, unbekannt war? Eher mag man das Stillschweigen Jesu aus der unwürdigen, nicht den Ernst des Richters, sondern bloſse Neugier verrathen- den Art der Fragen des Herodes, und die Zurücksendung an Pilatus daraus erklären, daſs doch nicht allein die Ver- haftung, sondern auch ein Theil der Wirksamkeit Jesu in das Gebiet des Pilatus gefallen war. Warum aber berich- ten die übrigen Evangelisten von dieser ganzen Zwischen- scene nichts? Namentlich wenn man den Verfasser des vierten Evangeliums als den Apostel Johannes sich denkt,

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 517. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/536>, abgerufen am 20.05.2024.