Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.Dritter Abschnitt. erblicken, sondern psychologisch soll der Eindruck Jesuauf diejenigen unter der Schaar, welche ihn schon sonst öfters gesehen und gehört hatten, gewirkt haben; wobei man sich auf die Beispiele aus dem Leben eines Marius, eines Coligny u. A. beruft 6). Allein weder nach der syn- optischen Darstellung, laut deren es der Bezeichnung Jesu durch den Kuss, noch auch nach der johanneischen, nach welcher es der Erklärung Jesu, dass er es sei, bedurfte, war Jesus dem Haufen genauer, am wenigsten auf eine tiefere Weise, bekannt; jene Beispiele aber beweisen nur, dass bisweilen der gewaltige Eindruck eines Mannes mör- derische Hände Einzelner oder Weniger gelähmt hat, nicht aber, dass ein ganzes Detachement von Gerichtsdienern und Soldaten nicht bloss zurückgewichen, sondern zu Boden gefallen wäre. Was soll es nützen, wenn Lücke zuerst Einige, dann den ganzen Haufen, niederstürzen lässt, wo- durch es vollends unmöglich wird, sich die Sache auf ernst- hafte Weise vorzustellen? Wir kehren daher zu den Alten zurück, welche hier allgemein ein Wunder anerkannten. Der Christus, welcher durch ein Wort seines Mundes die feindlichen Schaaren niederwirft, ist kein anderer, als der- jenige, welcher nach 2. Thess. 2, S. den Antichrist ana- losei to pneumati tou somatos autou, d. h. aber nicht der historische, sondern der Christus der jüdischen und ur- christlichen Phantasie. Der Verfasser des vierten Evange- liums insbesondere, der so oft bemerkt hatte, wie die Feinde Jesu und ihre Schergen ausser Stands gewesen seien, Hand an ihn zu legen, weil seine Stunde noch nicht gekommen gewesen sei (7, 30. 32. 44 ff. S, 20.), war veranlasst, nun, als die Stunde erschienen war, den wirklich gemachten Versuch zunächst noch einmal auf recht eklatante Weise misslingen zu lassen, zumal diess ganz mit dem Interesse 6) Lücke, 2, S. 597 f. Olshausen, 2, S. 435. Vgl. Tholuck,
S. 319. Dritter Abschnitt. erblicken, sondern psychologisch soll der Eindruck Jesuauf diejenigen unter der Schaar, welche ihn schon sonst öfters gesehen und gehört hatten, gewirkt haben; wobei man sich auf die Beispiele aus dem Leben eines Marius, eines Coligny u. A. beruft 6). Allein weder nach der syn- optischen Darstellung, laut deren es der Bezeichnung Jesu durch den Kuſs, noch auch nach der johanneischen, nach welcher es der Erklärung Jesu, daſs er es sei, bedurfte, war Jesus dem Haufen genauer, am wenigsten auf eine tiefere Weise, bekannt; jene Beispiele aber beweisen nur, daſs bisweilen der gewaltige Eindruck eines Mannes mör- derische Hände Einzelner oder Weniger gelähmt hat, nicht aber, daſs ein ganzes Detachement von Gerichtsdienern und Soldaten nicht bloſs zurückgewichen, sondern zu Boden gefallen wäre. Was soll es nützen, wenn Lücke zuerst Einige, dann den ganzen Haufen, niederstürzen läſst, wo- durch es vollends unmöglich wird, sich die Sache auf ernst- hafte Weise vorzustellen? Wir kehren daher zu den Alten zurück, welche hier allgemein ein Wunder anerkannten. Der Christus, welcher durch ein Wort seines Mundes die feindlichen Schaaren niederwirft, ist kein anderer, als der- jenige, welcher nach 2. Thess. 2, S. den Antichrist ἀνα- λώσει τῷ πνεύματι τοῦ ςόματος αὑτοῦ, d. h. aber nicht der historische, sondern der Christus der jüdischen und ur- christlichen Phantasie. Der Verfasser des vierten Evange- liums insbesondere, der so oft bemerkt hatte, wie die Feinde Jesu und ihre Schergen ausser Stands gewesen seien, Hand an ihn zu legen, weil seine Stunde noch nicht gekommen gewesen sei (7, 30. 32. 44 ff. S, 20.), war veranlaſst, nun, als die Stunde erschienen war, den wirklich gemachten Versuch zunächst noch einmal auf recht eklatante Weise miſslingen zu lassen, zumal dieſs ganz mit dem Interesse 6) Lücke, 2, S. 597 f. Olshausen, 2, S. 435. Vgl. Tholuck,
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Dritter Abschnitt.
erblicken, sondern psychologisch soll der Eindruck Jesu
auf diejenigen unter der Schaar, welche ihn schon sonst
öfters gesehen und gehört hatten, gewirkt haben; wobei
man sich auf die Beispiele aus dem Leben eines Marius,
eines Coligny u. A. beruft 6). Allein weder nach der syn-
optischen Darstellung, laut deren es der Bezeichnung Jesu
durch den Kuſs, noch auch nach der johanneischen, nach
welcher es der Erklärung Jesu, daſs er es sei, bedurfte,
war Jesus dem Haufen genauer, am wenigsten auf eine
tiefere Weise, bekannt; jene Beispiele aber beweisen nur,
daſs bisweilen der gewaltige Eindruck eines Mannes mör-
derische Hände Einzelner oder Weniger gelähmt hat, nicht
aber, daſs ein ganzes Detachement von Gerichtsdienern und
Soldaten nicht bloſs zurückgewichen, sondern zu Boden
gefallen wäre. Was soll es nützen, wenn Lücke zuerst
Einige, dann den ganzen Haufen, niederstürzen läſst, wo-
durch es vollends unmöglich wird, sich die Sache auf ernst-
hafte Weise vorzustellen? Wir kehren daher zu den Alten
zurück, welche hier allgemein ein Wunder anerkannten.
Der Christus, welcher durch ein Wort seines Mundes die
feindlichen Schaaren niederwirft, ist kein anderer, als der-
jenige, welcher nach 2. Thess. 2, S. den Antichrist ἀνα-
λώσει τῷ πνεύματι τοῦ ςόματος αὑτοῦ, d. h. aber nicht der
historische, sondern der Christus der jüdischen und ur-
christlichen Phantasie. Der Verfasser des vierten Evange-
liums insbesondere, der so oft bemerkt hatte, wie die Feinde
Jesu und ihre Schergen ausser Stands gewesen seien, Hand
an ihn zu legen, weil seine Stunde noch nicht gekommen
gewesen sei (7, 30. 32. 44 ff. S, 20.), war veranlaſst, nun,
als die Stunde erschienen war, den wirklich gemachten
Versuch zunächst noch einmal auf recht eklatante Weise
miſslingen zu lassen, zumal dieſs ganz mit dem Interesse
6) Lücke, 2, S. 597 f. Olshausen, 2, S. 435. Vgl. Tholuck,
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