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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweites Kapitel. §. 119.
su zu verringern? Gewiss vielmehr das Umgekehrte: so
dass Matthäus neben dem unhistorischen Bestimmten doch
zugleich noch das ursprüngliche Unbestimmte aufbewahrt,
Johannes dagegen dieses ganz verloren, und nur jenes be-
halten hat.

Geben wir auf diese Weise dasjenige, was von per-
sönlicher Bezeichnung des Verräthers durch Jesum erzählt
wird, als post eventum gebildet, auf, so bleibt uns doch
die allgemeine Voraussicht und Vorhersage Jesu noch, dass
überhaupt einer seiner Schüler und Tischgenossen ihn ver-
rathen werde. Doch auch schon diess hat Schwierigkei-
ten. Dass Jesus auf den im Kreise seiner Vertrautesten
brütenden Verrath von Andern aufmerksam gemacht wor-
den wäre, davon findet sich in den Evangelien keine Spur:
nur aus der Schrift scheint er auch dieses Verhängniss her-
ausgelesen zu haben. Wiederholt erklärt Jesus, durch
den ihm bevorstehenden Verrath werde die Schrift erfüllt
(Joh. 13, 18. 17, 12. vgl. Matth. 26, 24. parall.), und im
vierten Evangelium (13, 18.) führt er als diese graphe aus
Ps. 41, 10. die Worte an: o trogon met emou ton arton,
eperen et eme ten pternan autou. Die Psalmstelle bezieht
sich entweder auf die bekannten treulosen Freunde Davids,
Ahitophel und Mephiboseth, oder, wenn der Psalm nicht
Davidisch ist, auf Unbekannte, die mit dem Dichter des-
selben in ähnlichem Verhältniss standen 7). Von messiani-
scher Beziehung ist so wenig eine Spur, dass selbst Tho-
luck
und Olshausen den angegebenen Sinn als den ur-
sprünglichen anerkennen. Nun soll aber nach dem Lezte-
ren in dem Schicksal Davids sich das des Messias abspie-
geln; nach dem Ersteren sogar David selbst auf göttlichen
Antrieb oft Ausdrücke von sich gebraucht haben, welche
specielle Hinweisungen auf die Schicksale Jesu enthielten.
Wenn aber Tholuck dazusezt, David selbst habe in der

7) s. de Wette, z. d. Ps.

Zweites Kapitel. §. 119.
su zu verringern? Gewiſs vielmehr das Umgekehrte: so
daſs Matthäus neben dem unhistorischen Bestimmten doch
zugleich noch das ursprüngliche Unbestimmte aufbewahrt,
Johannes dagegen dieses ganz verloren, und nur jenes be-
halten hat.

Geben wir auf diese Weise dasjenige, was von per-
sönlicher Bezeichnung des Verräthers durch Jesum erzählt
wird, als post eventum gebildet, auf, so bleibt uns doch
die allgemeine Voraussicht und Vorhersage Jesu noch, daſs
überhaupt einer seiner Schüler und Tischgenossen ihn ver-
rathen werde. Doch auch schon dieſs hat Schwierigkei-
ten. Daſs Jesus auf den im Kreise seiner Vertrautesten
brütenden Verrath von Andern aufmerksam gemacht wor-
den wäre, davon findet sich in den Evangelien keine Spur:
nur aus der Schrift scheint er auch dieses Verhängniſs her-
ausgelesen zu haben. Wiederholt erklärt Jesus, durch
den ihm bevorstehenden Verrath werde die Schrift erfüllt
(Joh. 13, 18. 17, 12. vgl. Matth. 26, 24. parall.), und im
vierten Evangelium (13, 18.) führt er als diese γραφὴ aus
Ps. 41, 10. die Worte an: ὁ τρώγων μετ̕ ἐμοῦ τὸν ἄρτον,
ἐπῇρεν ἐτ̕ ἐμὲ τὴν πτέρναν αὑτοῦ. Die Psalmstelle bezieht
sich entweder auf die bekannten treulosen Freunde Davids,
Ahitophel und Mephiboseth, oder, wenn der Psalm nicht
Davidisch ist, auf Unbekannte, die mit dem Dichter des-
selben in ähnlichem Verhältniſs standen 7). Von messiani-
scher Beziehung ist so wenig eine Spur, daſs selbst Tho-
luck
und Olshausen den angegebenen Sinn als den ur-
sprünglichen anerkennen. Nun soll aber nach dem Lezte-
ren in dem Schicksal Davids sich das des Messias abspie-
geln; nach dem Ersteren sogar David selbst auf göttlichen
Antrieb oft Ausdrücke von sich gebraucht haben, welche
specielle Hinweisungen auf die Schicksale Jesu enthielten.
Wenn aber Tholuck dazusezt, David selbst habe in der

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[431/0450] Zweites Kapitel. §. 119. su zu verringern? Gewiſs vielmehr das Umgekehrte: so daſs Matthäus neben dem unhistorischen Bestimmten doch zugleich noch das ursprüngliche Unbestimmte aufbewahrt, Johannes dagegen dieses ganz verloren, und nur jenes be- halten hat. Geben wir auf diese Weise dasjenige, was von per- sönlicher Bezeichnung des Verräthers durch Jesum erzählt wird, als post eventum gebildet, auf, so bleibt uns doch die allgemeine Voraussicht und Vorhersage Jesu noch, daſs überhaupt einer seiner Schüler und Tischgenossen ihn ver- rathen werde. Doch auch schon dieſs hat Schwierigkei- ten. Daſs Jesus auf den im Kreise seiner Vertrautesten brütenden Verrath von Andern aufmerksam gemacht wor- den wäre, davon findet sich in den Evangelien keine Spur: nur aus der Schrift scheint er auch dieses Verhängniſs her- ausgelesen zu haben. Wiederholt erklärt Jesus, durch den ihm bevorstehenden Verrath werde die Schrift erfüllt (Joh. 13, 18. 17, 12. vgl. Matth. 26, 24. parall.), und im vierten Evangelium (13, 18.) führt er als diese γραφὴ aus Ps. 41, 10. die Worte an: ὁ τρώγων μετ̕ ἐμοῦ τὸν ἄρτον, ἐπῇρεν ἐτ̕ ἐμὲ τὴν πτέρναν αὑτοῦ. Die Psalmstelle bezieht sich entweder auf die bekannten treulosen Freunde Davids, Ahitophel und Mephiboseth, oder, wenn der Psalm nicht Davidisch ist, auf Unbekannte, die mit dem Dichter des- selben in ähnlichem Verhältniſs standen 7). Von messiani- scher Beziehung ist so wenig eine Spur, daſs selbst Tho- luck und Olshausen den angegebenen Sinn als den ur- sprünglichen anerkennen. Nun soll aber nach dem Lezte- ren in dem Schicksal Davids sich das des Messias abspie- geln; nach dem Ersteren sogar David selbst auf göttlichen Antrieb oft Ausdrücke von sich gebraucht haben, welche specielle Hinweisungen auf die Schicksale Jesu enthielten. Wenn aber Tholuck dazusezt, David selbst habe in der 7) s. de Wette, z. d. Ps.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 431. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/450>, abgerufen am 22.11.2024.