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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Dritter Abschnitt.

Gegen die zuerst ausgeführte Ansicht nun, welche den
Verrath des Judas aus gekränktem Ehrgeiz ableitet, ist in
Bezug auf den Verweis bei'm Bethanischen Mahle, auf den
man so grosses Gewicht legt, schon bei andrer Gelegen-
heit die Bemerkung der neuesten Kritik gekehrt worden,
dass die Milde jenes Verweises, wie sie namentlich aus
der Vergleichung mit der weit schärferen Zurechtweisung
des Petrus, Matth. 16, 23, erhelle, in gar keinem Verhält-
niss zu dem Groll stände, den er in Judas erregt haben
soll 6); dass dieser aber sonst Zurücksetzung gegen seine
Mitjünger erfahren habe, davon fehlt uns jede Spur. Die
andre Ansicht, welche dem Judas die Hoffnung auf Befrei-
ung Jesu unterlegt, fusst hauptsächlich darauf, dass er,
nachdem ihm die Ablieferung Jesu an die Römer und die
Unvermeidlichkeit seines Todes zu Ohren gekommen, in
Verzweiflung gerathen sei, als Beweis, dass er einen ent-
gegengesetzten Erfolg erwartet hatte. Allein nicht bloss der
unglückliche Erfolg, wie Paulus meint, sondern ebenso
auch der glückliche, oder das Gelingen des Verbrechens,
"zeigt dasselbe, welches man sich vorher unter tausend
Entschuldigungsgründen verschleierte, in seiner schwarzen,
eigenthümlichen Gestalt." Das real gewordene Verbrechen
wirft die Maske ab, die man dem nur erst idealen, im Ge-
danken vorhandenen, leihen konnte, und so wenig die
Reue manches Mörders, wenn er den Gemordeten vor sich
liegen sieht, beweist, dass er den Mord nicht wirklich be-
absichtigt habe: ebenso wenig kann die des Judas, als er
Jesum ohne Rettung sah, beweisen, dass er nicht voraus-
berechnet hatte, es werde Jesum das Leben kosten. Un-
möglich aber, sagt man ferner, kann Habsucht die Triebfe-
der des Judas gewesen sein; denn wenn es ihm um Ge-
winn zu thun war, so konnte ihm nicht entgehen, dass
die fortdauernde Cassenführung in der Gesellschaft Jesu

6) 1. Band, S. 714, Vgl. noch Hase, a. a. O.
Dritter Abschnitt.

Gegen die zuerst ausgeführte Ansicht nun, welche den
Verrath des Judas aus gekränktem Ehrgeiz ableitet, ist in
Bezug auf den Verweis bei'm Bethanischen Mahle, auf den
man so groſses Gewicht legt, schon bei andrer Gelegen-
heit die Bemerkung der neuesten Kritik gekehrt worden,
daſs die Milde jenes Verweises, wie sie namentlich aus
der Vergleichung mit der weit schärferen Zurechtweisung
des Petrus, Matth. 16, 23, erhelle, in gar keinem Verhält-
niſs zu dem Groll stände, den er in Judas erregt haben
soll 6); daſs dieser aber sonst Zurücksetzung gegen seine
Mitjünger erfahren habe, davon fehlt uns jede Spur. Die
andre Ansicht, welche dem Judas die Hoffnung auf Befrei-
ung Jesu unterlegt, fuſst hauptsächlich darauf, daſs er,
nachdem ihm die Ablieferung Jesu an die Römer und die
Unvermeidlichkeit seines Todes zu Ohren gekommen, in
Verzweiflung gerathen sei, als Beweis, daſs er einen ent-
gegengesetzten Erfolg erwartet hatte. Allein nicht bloſs der
unglückliche Erfolg, wie Paulus meint, sondern ebenso
auch der glückliche, oder das Gelingen des Verbrechens,
„zeigt dasselbe, welches man sich vorher unter tausend
Entschuldigungsgründen verschleierte, in seiner schwarzen,
eigenthümlichen Gestalt.“ Das real gewordene Verbrechen
wirft die Maske ab, die man dem nur erst idealen, im Ge-
danken vorhandenen, leihen konnte, und so wenig die
Reue manches Mörders, wenn er den Gemordeten vor sich
liegen sieht, beweist, daſs er den Mord nicht wirklich be-
absichtigt habe: ebenso wenig kann die des Judas, als er
Jesum ohne Rettung sah, beweisen, daſs er nicht voraus-
berechnet hatte, es werde Jesum das Leben kosten. Un-
möglich aber, sagt man ferner, kann Habsucht die Triebfe-
der des Judas gewesen sein; denn wenn es ihm um Ge-
winn zu thun war, so konnte ihm nicht entgehen, daſs
die fortdauernde Cassenführung in der Gesellschaft Jesu

6) 1. Band, S. 714, Vgl. noch Hase, a. a. O.
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[394/0413] Dritter Abschnitt. Gegen die zuerst ausgeführte Ansicht nun, welche den Verrath des Judas aus gekränktem Ehrgeiz ableitet, ist in Bezug auf den Verweis bei'm Bethanischen Mahle, auf den man so groſses Gewicht legt, schon bei andrer Gelegen- heit die Bemerkung der neuesten Kritik gekehrt worden, daſs die Milde jenes Verweises, wie sie namentlich aus der Vergleichung mit der weit schärferen Zurechtweisung des Petrus, Matth. 16, 23, erhelle, in gar keinem Verhält- niſs zu dem Groll stände, den er in Judas erregt haben soll 6); daſs dieser aber sonst Zurücksetzung gegen seine Mitjünger erfahren habe, davon fehlt uns jede Spur. Die andre Ansicht, welche dem Judas die Hoffnung auf Befrei- ung Jesu unterlegt, fuſst hauptsächlich darauf, daſs er, nachdem ihm die Ablieferung Jesu an die Römer und die Unvermeidlichkeit seines Todes zu Ohren gekommen, in Verzweiflung gerathen sei, als Beweis, daſs er einen ent- gegengesetzten Erfolg erwartet hatte. Allein nicht bloſs der unglückliche Erfolg, wie Paulus meint, sondern ebenso auch der glückliche, oder das Gelingen des Verbrechens, „zeigt dasselbe, welches man sich vorher unter tausend Entschuldigungsgründen verschleierte, in seiner schwarzen, eigenthümlichen Gestalt.“ Das real gewordene Verbrechen wirft die Maske ab, die man dem nur erst idealen, im Ge- danken vorhandenen, leihen konnte, und so wenig die Reue manches Mörders, wenn er den Gemordeten vor sich liegen sieht, beweist, daſs er den Mord nicht wirklich be- absichtigt habe: ebenso wenig kann die des Judas, als er Jesum ohne Rettung sah, beweisen, daſs er nicht voraus- berechnet hatte, es werde Jesum das Leben kosten. Un- möglich aber, sagt man ferner, kann Habsucht die Triebfe- der des Judas gewesen sein; denn wenn es ihm um Ge- winn zu thun war, so konnte ihm nicht entgehen, daſs die fortdauernde Cassenführung in der Gesellschaft Jesu 6) 1. Band, S. 714, Vgl. noch Hase, a. a. O.

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 394. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/413>, abgerufen am 24.11.2024.