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Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836.

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Zweites Kapitel. §. 114.
früher oder später gelungen sein würde, ihn in ihre Ge-
walt zu bekommen, ist unleugbar; dass aber der Verrä-
ther unentbehrlich gewesen, um Jesu Tod eben am Pascha-
fest, das sein typisches Vorbild enthält, zu Stande zu
bringen 6): -- mit solchen Spielereien wird man uns doch
heutiges Tags nicht mehr hinhalten wollen.

Lässt sich somit auf keine Weise eine genügende Ab-
sicht ausfindig machen, welche Jesum bewegen konnte, in
der Person des Judas wissentlich seinen Verräther an sich
zu ziehen und um sich zu behalten: so scheint entschieden,
dass er ihn als solchen nicht im Voraus gekannt haben
kann. Schleiermacher, um nicht durch Leugnung dieses
Vorherwissens der johanneischen Auctorität zu nahe zu tre-
ten, zweifelt lieber daran, dass Jesus die Zwölfe rein
selbstständig ausgewählt habe, und indem nun dieser Kreis
sich mehr durch freies Anschliessen der Jünger von selbst
gebildet haben soll, so könne Jesus leichter darüber ge-
rechtfertigt werden, dass er den sich zudrängenden Judas
nicht zurückwies, als wenn er ihn aus freier Wahl zu
sich gezogen hätte 7). Allein die Auctorität des Johannes
wird hiedurch doch verlezt, da ja gerade er Jesum zu den
Zwölfen sagen lässt: oukh umeis me exelexasthe, all ego exe--
lexamen umas (15, 16. vgl. 6, 70.); übrigens einen bestimm-
ten Wahlakt auch weggedacht, so brauchte es doch, da-
mit einer beständig um Jesum bleiben durfte, seiner Erlaub-
niss und Bestätigung, und schon diese konnte er mensch-
licherweise einem Manne nicht geben, von welchem er wusste,
dass er durch dieses Verhältniss zu ihm der schwärzesten
Frevelthat entgegenreife; sich aber ganz, wie man sagt, in den
Standpunkt Gottes zu versetzen, und um der Möglichkeit
der Besserung willen, von der er doch vorauswusste, dass

6) Ein solches Argument liesse sich aus dem ableiten, was Ols-
hausen
, 2, S. 387 unten und 388 oben sagt.
7) Über den Lukas, S. 88.
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Zweites Kapitel. §. 114.
früher oder später gelungen sein würde, ihn in ihre Ge-
walt zu bekommen, ist unleugbar; daſs aber der Verrä-
ther unentbehrlich gewesen, um Jesu Tod eben am Pascha-
fest, das sein typisches Vorbild enthält, zu Stande zu
bringen 6): — mit solchen Spielereien wird man uns doch
heutiges Tags nicht mehr hinhalten wollen.

Läſst sich somit auf keine Weise eine genügende Ab-
sicht ausfindig machen, welche Jesum bewegen konnte, in
der Person des Judas wissentlich seinen Verräther an sich
zu ziehen und um sich zu behalten: so scheint entschieden,
daſs er ihn als solchen nicht im Voraus gekannt haben
kann. Schleiermacher, um nicht durch Leugnung dieses
Vorherwissens der johanneischen Auctorität zu nahe zu tre-
ten, zweifelt lieber daran, daſs Jesus die Zwölfe rein
selbstständig ausgewählt habe, und indem nun dieser Kreis
sich mehr durch freies Anschlieſsen der Jünger von selbst
gebildet haben soll, so könne Jesus leichter darüber ge-
rechtfertigt werden, daſs er den sich zudrängenden Judas
nicht zurückwies, als wenn er ihn aus freier Wahl zu
sich gezogen hätte 7). Allein die Auctorität des Johannes
wird hiedurch doch verlezt, da ja gerade er Jesum zu den
Zwölfen sagen läſst: ουχ ὑμεῖς με ἐξελέξασϑε, ἀλλ̕ ἐγὼ ἐξε—
λεξάμην ὑμᾶς (15, 16. vgl. 6, 70.); übrigens einen bestimm-
ten Wahlakt auch weggedacht, so brauchte es doch, da-
mit einer beständig um Jesum bleiben durfte, seiner Erlaub-
niſs und Bestätigung, und schon diese konnte er mensch-
licherweise einem Manne nicht geben, von welchem er wuſste,
daſs er durch dieses Verhältniſs zu ihm der schwärzesten
Frevelthat entgegenreife; sich aber ganz, wie man sagt, in den
Standpunkt Gottes zu versetzen, und um der Möglichkeit
der Besserung willen, von der er doch vorauswuſste, daſs

6) Ein solches Argument liesse sich aus dem ableiten, was Ols-
hausen
, 2, S. 387 unten und 388 oben sagt.
7) Über den Lukas, S. 88.
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[387/0406] Zweites Kapitel. §. 114. früher oder später gelungen sein würde, ihn in ihre Ge- walt zu bekommen, ist unleugbar; daſs aber der Verrä- ther unentbehrlich gewesen, um Jesu Tod eben am Pascha- fest, das sein typisches Vorbild enthält, zu Stande zu bringen 6): — mit solchen Spielereien wird man uns doch heutiges Tags nicht mehr hinhalten wollen. Läſst sich somit auf keine Weise eine genügende Ab- sicht ausfindig machen, welche Jesum bewegen konnte, in der Person des Judas wissentlich seinen Verräther an sich zu ziehen und um sich zu behalten: so scheint entschieden, daſs er ihn als solchen nicht im Voraus gekannt haben kann. Schleiermacher, um nicht durch Leugnung dieses Vorherwissens der johanneischen Auctorität zu nahe zu tre- ten, zweifelt lieber daran, daſs Jesus die Zwölfe rein selbstständig ausgewählt habe, und indem nun dieser Kreis sich mehr durch freies Anschlieſsen der Jünger von selbst gebildet haben soll, so könne Jesus leichter darüber ge- rechtfertigt werden, daſs er den sich zudrängenden Judas nicht zurückwies, als wenn er ihn aus freier Wahl zu sich gezogen hätte 7). Allein die Auctorität des Johannes wird hiedurch doch verlezt, da ja gerade er Jesum zu den Zwölfen sagen läſst: ουχ ὑμεῖς με ἐξελέξασϑε, ἀλλ̕ ἐγὼ ἐξε— λεξάμην ὑμᾶς (15, 16. vgl. 6, 70.); übrigens einen bestimm- ten Wahlakt auch weggedacht, so brauchte es doch, da- mit einer beständig um Jesum bleiben durfte, seiner Erlaub- niſs und Bestätigung, und schon diese konnte er mensch- licherweise einem Manne nicht geben, von welchem er wuſste, daſs er durch dieses Verhältniſs zu ihm der schwärzesten Frevelthat entgegenreife; sich aber ganz, wie man sagt, in den Standpunkt Gottes zu versetzen, und um der Möglichkeit der Besserung willen, von der er doch vorauswuſste, daſs 6) Ein solches Argument liesse sich aus dem ableiten, was Ols- hausen, 2, S. 387 unten und 388 oben sagt. 7) Über den Lukas, S. 88. 25 *

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Zitationshilfe: Strauß, David Friedrich: Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet. Bd. 2. Tübingen, 1836, S. 387. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/strauss_jesus02_1836/406>, abgerufen am 23.11.2024.